Zauberer und Höllentore: Acht Fantasy Krimis

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Und doch war da auch eine andere Empfindung in ihm.
Ein Gefühl, das ihm sagte, dass er Jarmila unbedingt aus den Klauen ihres Peinigers befreien musste.
Bleib cool, Mann! Du wirst dich doch nicht in einen Avatar verlieben? Das ist doch absurd!
Er versuchte, die Gedanken an Jarmila zu verscheuchen.
„Nein!“
Ein Wort, das die Bündelung seiner Gedanken manifestierte.
Ein Wort, das alles auf den Punkt brachte.
Zu seiner eigenen Überraschung stellte Robert jetzt fest, dass er laut gesprochen hatte.
„Was ist los, Robert? Mit wem sprichst du?“
„Mit niemandem.“
„Hattest du irgendwelche Halluzinationen oder so etwas Ähnliches?“
„Ich sagte doch, es ist alles in Ordnung, Brenda!“, erwiderte er deutlich barscher, als er es eigentlich beabsichtigt hatte.
Entsprechend eingeschnappt war Brenda. „Entschuldige, dass ich nachgefragt habe, aber es ist mir halt nicht gleichgültig, was mit dir los ist.“
„Ist ja schon gut!“, knurrte Robert. Sie hielt an und fasste ihn bei den Schultern.
Der Blick ihrer meergrünen Augen bohrte sich förmlich in die seinen. Nach ein paar Augenblicken hatte die Präsenz dieser Augen es sogar geschafft, die Erinnerung an Jarmilas Blick zu verscheuchen.
Aber nicht für lange! , war es Robert in seinem tiefsten Inneren klar. Ich werde kommen, Jarmila! Du kannst dich auf mich erlassen!
„Was hat diese Hexe mit dir gemacht, Robert?“
„Gar nichts!“
„Das ist doch nicht wahr! Sie hat dich berührt!“
„Lass uns einfach den Wölfen folgen und zu dem Dorf gehen, dann werden wir das alles bald vergessen haben“ Sie atmete tief durch. „Ich hoffe, du behältst Recht, Robert!“
„Bestimmt!“
Einer der Wölfe heulte auf. Er saß in einer Entfernung von ungefähr fünfzig Meter neben einem der knorrigen Bäume.
Das Tier schien ungeduldig darauf zu warten, dass der Weg endlich fortgesetzt wurde und die beiden Jugendlichen ihm und seinen Artgenossen weiter folgte.
Aber Robert spürte instinktiv, dass da noch etwas anderes sein musste, was den Albino-Wolf beunruhigte. Er begann die Nase in die Luft zu halten und sich schnüffelnd herumzudrehen. Ein winselnder Laut entrang sich seinem gewaltigen Maul.
Inzwischen hatte es auch Brenda bemerkt. Sie legte einen Pfeil in den Bogen.
„Irgendetwas stimmt hier nicht!“, war sie überzeugt.
Sie lauschten in den Nebel hinein.
Plötzlich jaulte in einiger Entfernung einer der Albino-Wölfe auf. Es war ein verzweifelter, grausiger Laut, dem noch ein Wimmern folgte. Dann trat eine gespenstische Stille ein.
Robert und Brenda standen wie erstarrt da und blickten in den Nebel. Es war nicht zu sehen, was geschehen war. Der Nebel war einfach zu dicht.
Der Albino-Wolf, der die beiden Jugendlichen gerade noch dazu aufgefordert hatte, ihm und seinen Artgenossen zu folgen, kauerte jetzt mit eingekniffenem Schwanz am Boden.
Das Tier winselte vor sich hin und presste sich regelrecht an den Boden.
Von den anderen Albino-Wölfen war nirgends etwas zu sehen.
Dafür konnte man einen von ihnen jämmerlich Schreien hören. Anschließend folgte ein Geräusch, als ob etwas Schweres zu Boden fiel.
„Was geht da vor sich?“, flüsterte Brenda.
Sie sollte sehr rasch eine Antwort darauf bekommen. Einer der knorrigen Bäume begann plötzlich, sich zu bewegen. Die gerade noch hartgefrorenen Äste verwandelten sich in geschmeidige, tentakelartige Arme. Gesichter bildeten sich auf dem verwachsenen Stamm.
Der Baum in unmittelbarer Nähe des am Boden kauernden Albino-Wolfs gewann plötzlich eine unheimliche Art von Eigenleben.
Die Äste schlugen wie Peitschen auf den Boden. Der Albino-Wolf versuchte sich durch einen Sprung zu retten, aber es war zu spät. Einer dieser Peitschenschläge traf ihn. Er rollte sich winselnd um die eigene Achse. Dabei kam er einem anderen Baum sehr nahe, der plötzlich ebenfalls lebendig wurde, während das Leben aus dem ersten Baum so urplötzlich verschwand, wie es in ihn hinein gefahren war.
Der Albino-Wolf bekam einen weiteren, diesmal tödlichen Schlag. Regungslos blieb das Tier liegen.
Innerhalb von Sekunden schrumpfte er zusammen, so als ob ihm jegliche Lebenskraft entzogen wurde. Ein Geruch der Verwesung verbreitete sich und raubte Brenda und Robert beinahe den Atem.
Im nächsten Moment stand der Baum wieder stocksteif da.
Das unheimliche Leben, das in gerade noch erfüllt hatte, war aus ihm gewichen.
„Eine Art Baumgeist!“, stellte Robert fest. „Er fährt von einem Baum zum anderen, nimmt Besitz von ihm und saugt offenbar die Lebenskraft derjenigen auf, die er schlägt.“ Brenda ließ den Bogen sinken und steckte den Pfeil weg.
„Damit werden wir wohl nichts gegen diesen Baumgeist ausrichten können, wie du ihn nennst!“
„Holz gegen Holz – das klingt nicht gerade viel versprechend“, nickte Robert.
„Und was dann?“
„Vorsichtig weitergehen“, schlug Robert vor. „Und immer schön auf die Bäume achten. Ich hoffe nicht, dass dieser Geist alle Albino-Wölfe erschlagen hat.“ Aus dem Nebel drang erneut ein jämmerliches Winseln.
„Wieder einer weniger“, meinte Brenda.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Bestien mal nachtrauern würde!“, gestand Robert.
Vorsichtig setzten sie einen Fuß vor den anderen.
Robert nahm das Schwert in beide Hände und Brenda hängte sich den Bogen über den Rücken und nahm ebenfalls ihre Klinge. Im Fall eines Angriffs durch den Waldgeist hatten sie dann vielleicht die Chance, sich durch ein paar schnelle, entschlossene Hiebe zu wehren.
Andererseits hatten es die wesentlich stärkeren Albino-Wölfe auch nicht geschafft, sich vor den Mörderbäumen in Sicherheit zu bringen.
„Diese weißen Wölfe unserer Hexe müssten doch eigentlich an das Leben in diesem Wald perfekt angepasst sein“, murmelte Brenda. „Wieso können sie sich dann nicht besser gegen den Waldgeist zur Wehr setzen?“
„Vielleicht meiden sie ihn normalerweise einfach“, bot Robert eine Erklärung.
Sein Blick glitt an Brenda vorbei.
Ein verwachsener Baum ganz in ihrer Nähe begann sich zu bewegen. Augen und ein Mund bildeten ein verzerrtes Gesicht.
Die Äste bogen sich und sausten wie die Tentakel eine Krake hernieder.
Robert zog Brenda am Arm aus dem Gefahrenbereich heraus.
Der Peitschenschlag verfehlte sie nur um wenige Zentimeter.
Mit dem Schwert schlug Robert zu und trennte den Ast durch. Ein wütendes Brüllen ertönte. Das Gesicht auf der Rinde verschwand wieder.
Robert wirbelte herum und ließ den Blick schweifen. In welchen der Bäume der Geist als nächstes fahren würde, war nicht vorhersehbar.
„Wir müssen uns immer möglichst weit von den Bäumen entfernt halten, Brenda!“
„Leichter gesagt, als getan – in einem Wald!“ Ein weiterer Baum begann plötzlich mit seinen Ästen auszuschlagen. Robert entging dem Schlag nur mit knapper Not.
Sie hetzten weiter. Jedes Geräusch im Unterholz, jedes Knacken eines Astes brachte sie beide an den Rand des Wahnsinns.
Manchmal glaubten sie bereits, in der Baumrinde ein Gesicht zu sehen, was sich dann als Irrtum herausstellte.
In der Ferne hörten sie noch das eine oder andere Winseln eines erschlagenen weißen Wolfs.
Dann herrschte Stille.
„Ich glaube, wir sind jetzt allein auf uns gestellt!“, sagte Brenda.
„Und vor allem haben wir immer noch keine Ahnung, wohin wir uns eigentlich wenden müssen!“ Die Wölfe waren entweder alle erschlagen oder geflohen. Auf jeden Fall war es sehr unwahrscheinlich, dass einer von ihnen zurückkehrte und sie zum Dorf brachte.
„Irgendwann wird ja diese furchtbare Nacht auch einmal ihr Ende finden, Robert!“
„Und du glaubst, dass wir uns dann in diesem Wald besser orientieren können?“
„Man sollte die Hoffnung nie aufgeben“, sagte Brenda.
Vorsichtig tasteten sie sich weiter voran. Teilweise gerieten sie ins Unterholz, das so dicht war, dass sie sich zunächst mit Schwertern einen Weg bahnen mussten. Keiner von ihnen sprach es aus, aber sie ahnten natürlich beide, dass sie nicht auf dem richtigen Weg sein konnten.
Es war absolut still im Wald.
Kein Wind wehte, nicht einmal eine Eule oder irgendein anderer Nachtjäger rührte sich. Dass sie zum letzten Mal einen der Albino-Wölfe aufheulen gehört hatten, war jetzt schon eine ganze Weile her.
Die Tiere kennen die Gefahr! , dachte Robert. Selbst in diesem simulierten Spiel ist das so! Sie meiden diesen Ort deswegen und warten ab…
Plötzlich schlug einer der Bäume zu. Die Veränderung ging so schnell vonstatten, dass es unmöglich war, rechtzeitig zu reagieren. Ein Ast, aus dem ein tentakelartiger Arm geworden war, legte sich wie eine Schlinge um Brendas Hals und zog sie mit sich. Sie taumelte, griff nach dem Rapier und versuchte es, in diesen Greifarm hineinzustoßen. Aber die äußere Rindenhaut war zu hart. Das Rapier brach. Robert eilte hinzu und versuchte den Ast mit einem Schwerthieb abzutrennen, wie er es schon einmal getan hatte. Aber das war nicht rechtzeitig möglich. Die anderen Ast-Arme des zum Leben erwachten Baumes, griffen nach ihm und so musste er sich zunächst seiner eigenen Haut wehren. Wütend und mit aller Kraft hieb er auf diese Arme ein. Viel Erfolg hatte er damit nicht. Und da lag wenig später ein Stück Holz auf dem Boden, das sofort, nachdem es abgeschlagen war, seine unerklärliche Geschmeidigkeit verlor, die ihm die Magie des Baumgeistes so plötzlich verliehen hatte.
Brenda konnte nicht schreien. Der Würgegriff, in dem sie sich befand, schnürte ihr die Kehle zu. Der Baum hob sie hoch. Sie strampelte und versuchte verzweifelt, sich zu befreien.
Robert gab noch immer sein Bestes im Kampf mit diesem Monstrum.
Da geriet er zu nahe an den Gegner.
Einer der zu Arme umfunktionierten Äste schlang sich um seinen Fuß. Augenblicklich verlor er das Gleichgewicht, als er einen Ruck spürte. Robert stürzte zu Boden. Gleichzeitig zog das Monster ihn zu sich herab.
Unaufhaltsam.
So sehr er auch kämpfte, er wusste in seinem tiefsten Inneren, dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Sein Gegner war einfach zu stark.
Der zahnlose Mund, der zu dem Gesicht gehörte, das sich in den missgestalteten Konturen der Außenrinde gebildet hatte, stieß ein höhnisches Gelächter hervor.
Wie aus dem Nichts tauchten jetzt mehrere Albino-Wölfe auf. Die Tiere waren deutlich kleiner und vermutlich jünger als jene riesenhaften Bestien, die Robert und Brenda bis hier her mehr schlecht als recht begleitet hatten.
Die meisten von ihnen überschritten kaum die Größe von Huskies.
Welpen! , dachte Robert.
Dann erschien eine Gestalt zwischen den Bäumen.
Eine fast drei Meter hoch aufgerichtete Kobra, deren Körper teilweise von Lumpen umhüllt war.
Augenblicklich ließen die Arme des Waldgeistes Brenda los.
Sie taumelte zu Boden und hielt sich den Hals. Robert half ihr auf.
Dann starrten sie in Richtung der Riesenschlange.
Als diese den Kopf wandte, mussten Brendas und Robert dem gleißenden Licht der hell leuchtenden Augen ausweichen.
Die Schlange bewegte sich mit einer Behändigkeit, die man einem so großen Geschöpf kaum zutraute. Sie glitt über den Boden, verschwand hinter Bäumen und tauchte wenig später wieder auf.
Ein stöhnender Laut erfüllte den Wald.
Er klang Angst erfüllt.
Das muss dieser Waldgeist ein! , glaubte Robert. Die Hexe jagt ihn!
Dann schoss plötzlich ein Flammenstrahl aus ihrem Schlund heraus und versengte einen der Bäume, der sich daraufhin verwandelte. Der Baum versuchte sich zu wehren. Die Äste schlugen nach dem Reptil, aber dies wich geschickt aus und antwortete mit weiteren Feuerattacken. Der Waldgeist floh in einen anderen Baum, aber seine Kraft schien bereits stark reduziert zu sein.
Für die Schlange war es ein Leichtes, auch diesen Baum zu versengen. Wieder ertönte das furchtbare Stöhnen. Die Schreie einer gequälten Seele, der jetzt dämmern musste, dass ihre eigene Existenz kurz vor dem Ende stand.
Nur Aschehaufen blieben.
Die Schlange verwandelte sich. Schon wenige Augenblicke später hatte sie die Gestalt jener alten Frau angenommen, der sie im Wald begegnet waren.
Die Albino-Wolf-Welpen sammelten sich um sie.
Dabei sprach sie ein paar Worte in einer Sprache, von der weder Brenda noch Robert je ein Wort gehört hatten.
„Sieh dir das an, Robert! Die Welpen! Sie wachsen!“, flüsterte Brenda.
„Hier scheint sich alles um Seelenenergie zu drehen“, glaubte Robert. „Die Hexe gibt den Wölfen offenbar etwas von der Lebenskraft des getöteten Baumgeistes ab.“ Brenda rieb sich den Hals, wo ein roter, deutlich sichtbarer Striemen als Würgemal des Baumgeistes zurückgeblieben war.
„Was geschieht mit uns, wenn wir hier getötet werden?“, flüsterte sie. „Glaubst du, wir sind dann tatsächlich tot?
Auch in der Realität?“
„Normalerweise hat man ein zweites Spielleben oder wird ein Level zurückgeworfen. Aber hier gilt das alles nicht.
Brenda. Der Schnitt an meiner Hand war echt - dann wäre das wahrscheinlich auch unser Tod! Wieso das so ist, weiß ich nicht, aber inzwischen habe ich überhaupt keine Zweifel mehr daran!“
Die alte Frau kam auf die beiden zu. In einem Abstand von wenigen Metern blieb sie stehen.
„Ihr könntet euch wenigstens bedanken!“, sagte die Hexe.
„Aber so ist das leider! Die Jugend von heute hat keinerlei Manieren mehr!“
„Danke!“, sagte Robert stocksteif und wenig enthusiastisch. Brenda folgte seinem Beispiel.
Die Hexe fuhr fort: „Der Kampf mit dem Baumgeist hat mich meine besten Albino-Wölfe gekostet.“
„Wir konnten nicht vorhersehen, dass hier ein Baumgeist lauert“, erwiderte Brenda, die sofort ahnte, worauf das Ganze hinauslief - nämlich auf eine weitere Gegenleistung. „Du wusstest das allerdings schon, nehme ich an. Schließlich lebst du doch seit langer Zeit in diesem Wald und kennst dich aus!“
Ein Zischen, das an die Laute der Schlange erinnerte, kam jetzt aus dem lippenlosen Mund der Alten. Die grell leuchtenden Augen wurden noch gleißender und Brenda war gezwungen, zum Schutz ihre Hand vor die Augen zu nehmen und ihren Blick abzuwenden.
„Bedenke, dass ich dich nur aus einem einzigen Grund gerettet habe! Und das ist der, dass ich deinem Gefährten irgendwelche Seelenqualen ersparen möchte. Ihm habe ihm das Versprechen abgenommen, Jarmila zu retten - nicht dir! Grob gesprochen ist deine Existenz nicht unbedingt erforderlich!
Es reicht, wenn dein Begleiter die Attacken des Schlossherrn und seiner Blutsauger überlebt, um schließlich in die Ebene des Namenlosen Magiers zu gelangen. Auf dich bin ich in keiner Weise angewiesen, Brenda – so ist doch dein Name, oder?“
Brenda schluckte.
„Ja“, murmelte sie.
„Also erweise dich als dankbar und sporne deinen Begleiter dazu an, sein Versprechen zu halten, sonst könnte ich hier und jetzt zu dem Schluss kommen, dass deine Seelenenergie für mich wertvoller ist, als dein Überleben. Bedenke dies!“ Dann wandte sie sich an Robert. „Ich weiß, dass du viel an Jarmila denken musst, nicht wahr?“
„Ja“, bestätigte Robert. Er wirkte wie in Trance dabei.
Seine Stimme hatte einen erschreckend weichen und nachgiebigen Klang.
Er steht unter ihrem Bann! , durchfuhr es Brenda.
„Da geht es dir so wir mir, mein Sohn. Wir teilen jetzt einen Gedanken. Sieht sie dich jetzt, in diesem Moment an?
Erfleht sie Hilfe von dir? Du würdest es nicht übers Herz bringen, das abzulehnen!“
„Nein“, flüsterte Robert.
Sie trat an ihn heran.
Brenda wollte einschreiten, aber sie konnte nicht. Wie angewurzelt stand sie da – gelähmt von der unheimlichen Hexenkraft.
Die Hexe berührte Robert an der Schläfe.
„Ich werde dir etwas von der Lebenskraft des Waldgeistes abgeben“, sagte sie. „Dann kannst du ausdauernder kämpfen und bist schwerer zu töten. Deine Chancen, die Schattenkreaturen des Schlossherrn zu besiegen und schließlich Jarmila aus der Gewalt des Namenlosen Magiers zu befreien steigen damit. Aber bedenke eines…“
„Was?“
„Wenn du das Versprechen brichst und Jarmila nicht befreist, wird diese Kraft von einem Augenblick zum nächsten aus dem deinem Körper fliehen. Und das kann lebensgefährlich sein.“ Sie kicherte in sich hinein.
Im nächsten Moment durchströmte Robert ein Gefühl der Kraft, das er bisher auf ähnliche Weise noch nie zuvor gespürt hatte. Die Kälte, die zuvor seinen Körper bereits wieder ins Mark durchdrungen hatte, war wie weggeblasen.
Die Hexe wich zurück.
„Leb wohl, mein Sohn. Und halte dein Versprechen. Sonst wird es dein Ende sein.“
Diese Teufelin! , durchfuhr es Brenda.
Anschließend trat sie an Brenda heran. „Dir werde ich nur so viel zusätzliche Kraft geben, dass du nicht zu einer Belastung wirst und du die Reisegeschwindigkeit zu sehr verminderst!“
Sie streckte die Hand aus und berührte Brenda an den Schläfen, woraufhin ein prickelnder Kraftschauer das Mädchen durchfuhr. Immerhin spürte sie jetzt die Kälte nicht mehr.
Die Hexe entfernte sich wieder. Der Bann, mit dem sie Brenda belegt hatte, war nun gebrochen. Sie hatte die Kontrolle über ihren Körper zurück und fühlte sich ausgeschlafen.
Die Hexe schnippste mit den knorrigen Fingern ihrer rechten Hand. Dann deutete sie mit dem Stock, dessen Knauf aus dem Rattenschädel gefertigt worden war, auf den größten unter den Albino-Welpen.
„Er wird euch jetzt zum Dorf führen. Da der Baumgeist jetzt nicht mehr auf euch lauert, ist das keine allzu gefahrvolle Aufgabe mehr.“ Noch einmal wandte sie sich Robert. „Enttäusch mich nicht, mein Sohn. Oder du wirst es bereuen.“
Dann verblasste ihre Gestalt plötzlich.
Sie wirkte nun wie eine schwache, durchscheinende Diaprojektion und verschwand wenige Augenblicke später völlig.
Kapitel 7: Gefrorene Gesichter
Robert und Brenda folgten dem Wolfswelpen und gelangten schließlich in eine Region des Waldes, die weniger vom Nebel betroffen war.
Der huskiegroße Albino-Wolf trottete vor ihnen her und wartete gegebenenfalls ab, wenn die beiden Jugendlichen ihm nicht schnell genug folgten.
Aber das war nicht oft der Fall, denn sowohl Robert als auch Brenda fühlten sich deutlich gekräftigt.
„Ich spüre die Kälte nicht mehr“, sagte Brenda. „Ist das jetzt nur ein Zeichen der zusätzlichen Lebenskraft, die uns die Hexe verabreicht hat?“
„Was sollte es sonst sein?“, erwiderte Robert.
„Vielleicht werden wir einfach immer mehr ein Teil dieser Welt. Lara Croft kämpft doch auch in einem hautengen, dünnen Suit in sibirischer Kälte, was normalerweise niemand auch nur eine halbe Stunde überleben würde.“
„Du meinst, dass wir uns nach und nach an die Welt von Hellgate anpassen?“
„Ja.“
„Ich fürchte, du könntest Recht haben.“
„Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass wir irgendwann – vorausgesetzt wir überleben lange genug –
vielleicht gar nicht in die Realität zurückkehren können?“ Dieser Gedanke war Robert durchaus schon gekommen, aber bislang hatte er ihn erfolgreich verdrängt. Schließlich war es in erster Linie darum gegangen, das nackte Überleben zu sichern. „Das ist doch alles Spekulation, Brenda!“
„Wir sollen der Wahrheit ins Gesicht sehen, Robert. In deinem Innersten spürst du doch auch, dass es so ist, wie ich sage. Gehen wir am besten davon aus, dass diese Welt mit ihren verqueren Regeln für uns so real ist wie unsere eigene Realität.“ Eine Pause entstand. Schließlich fragte sie vorsichtig: „Robert?“
„Ja?“
„Ich habe Angst.“
Es dauerte einen Augenblick, bis er antwortete.
„Ich auch.“ Robert sah sie an. „Aber wir schaffen es, Brenda. Auch wenn es im Moment vielleicht nicht gut aussieht.
Aber die Zuversicht sollten wir trotz all dem nicht verlieren, denn dann können wir uns gleich den Nachtkreaturen zum Fraß anbieten.“
Brenda schien weniger davon überzeugt zu sein, dass sie tatsächlich eine Chance hatten. Dennoch nickte sie.
„Wir haben wohl keine andere Wahl, als uns den Aufgaben zu stellen, die hier auf uns warten.“
„So sehe ich das auch.“
„Ich frage mich, was geschieht, wenn jetzt jemand in dein Zimmer kommt und uns da so vor dem Bildschirm sitzen sieht.“ Robert hob die Augenbrauen. „Bist du dir sicher, dass wir dort überhaupt noch sitzen?“
Sie zuckte die Schultern. „Als ich in die Zimmer kam und dich aus deinem tranceartigen Zustand herausgeholt habe, ist das Programm abgestürzt. Das wäre doch auch eine Hoffnung für uns. Deine Mutter wird doch sicher genau registrieren, dass ich euer Haus noch nicht verlassen habe und uns irgendwann mal was zu trinken anbieten, um zu kontrollieren, ob wir auch wirklich lernen…“ Sie grinste und Robert musste auch unwillkürlich schmunzeln.
„Aber das hätte doch längst geschehen müssen.“
„Die Zeit könnte in dieser Spielwelt in einem ganz anderen Tempo voranschreiten“, gab Brenda zu bedenken.
„Oder gar nicht!“ Robert deutete auf seine stehen gebliebene Uhr, deren Zeiger sich nicht bewegt hatten, seit sie das Tor zur Hölle passiert hatten.
*
Schließlich erreichten sie den Rand des Waldes.
Der Albino-Wolf wollte Robert und Brenda ganz offensichtlich nicht weiter begleiten. Er winselte und setzte sich. Eine grüne Wiese schloss sich an, auf der es nur vereinzelt noch Nebelschwaden gab. Am Himmel stand der bereits vertraute fahle Mond und in der Ferne war auf einer Anhöhe als dunkler Schattenriss die Silhouette des Schlosses zu sehen, in dem die Blutsaugenden Nachtkreaturen residierten.
Der Albino-Wolf zog sich in den Wald zurück. Nach wenigen Augenblicken war er verschwunden.
„Jetzt haben wir unser Ziel wieder klar vor Augen!“, stellte Robert fest.
„Ein einladender Ort scheint auch dieses Dorf nicht zu sein!“, glaubte Brenda mit Blick auf die düsteren Steinhäuser, die um eine verwitterte Kirche mit angrenzendem Friedhof gruppiert waren.
„Lass uns keine Zeit verlieren“, schlug Robert vor und wollte gerade losgehen, aber Brenda hielt ihn am Arm.
„Stehst du noch immer unter dem Einfluss der Hexe?“
„Brenda…“
„Ich habe Augen im Kopf. Sie hat dich auf irgendeine Weise verhext, damit du treu und brav diese Jarmila befreist! Das ist alles, worum es ihr geht.“
„Aber ich treffe meine eigenen Entscheidungen.“
„Dann sag mir, dass es dir gleichgültig ist, ob diese Jarmila im Verlies des Namenlosen Magiers verschimmelt!“
„Was soll das denn jetzt?“
„Sag es! Und versprich mir, dass wir die erste Gelegenheit nutzen, dieses Spiel zu verlassen!“
Ihre Blicke begegneten sich.
Er atmete tief durch und schluckte.
„Es ist so wie ich vermutet habe“, stellte sie fest. „Du kannst es nicht sagen, weil die Alte dich noch immer in ihrem Bann hat. Da brauchst du mir nichts zu erzählen, ein wenig habe ich schließlich auch ihre Kraft zu spüren bekommen!“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, es ist nicht so wie du denkst“, behauptete er. „Erstens wird es nach allem, was wir wissen für uns kein Zurück in die Realität geben, wenn wir nicht auf die Ebene des Namenlosen Magiers gelangen und ihn vernichten…“
„Was wir nur von der Hexe wissen! Du kannst dir sicher denken, dass sie uns die Informationen so zurechtgebogen hat, wie es ihr nützt! Meinst du nicht auch?“
„Und zweitens denke ich, sollten wir erst einmal zusehen, dass wir die nächste Herausforderung bestehen. Im Moment ist uns nicht kalt, aber das kann sich auch wieder ändern.“ Er weicht nur aus! , dachte Brenda. Ich werde ihn daher genau beobachten müssen…
*
Bevor sie das Dorf erreichten, mussten sie einen gefrorenen Bach überqueren, der das Tal durchzog.





