Das Geisterschiff (Steidl Nocturnes)

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Herausgegeben von Andreas Nohl
Richard Middleton
Das Geisterschiff
Dreizehn Stories
Steidl Nocturnes
Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Nohl
Deutsche Erstausgabe
Cover
Titel
Das Geisterschiff
Der neue Schüler
Auf der Landstraße von Brighton
Eine Tragödie im Kleinen
Der Sohn des Schäfers
Der Vogel im Garten
Der Sarghändler
Die Seele eines Polizisten
Der Zauberer
Blaues Blut
Schicksal und Künstler
Regentag
Devonas Katze – Eine Geschichte aus der neuen Kindheit
Anhang
Nachwort
Anmerkungen
Über den Autor
Impressum
Das Geisterschiff
Das kleine Dorf Fairfield liegt nahe der Portsmouth Road etwa auf halbem Weg zwischen London und dem Meer. Fremde, die sich zufällig dorthin verirren, nennen es einen hübschen, aus der Zeit gefallenen Ort; wir, die wir dort zuhause sind, finden nichts sonderlich Hübsches daran, aber wir würden nur ungern woanders leben. Ich würde sagen, unser Bewusstsein hat die Gestalt vom Wirtshaus, der Kirche und dem Dorfanger angenommen. Auf jeden Fall fühlen wir uns außerhalb von Fairfield nie ganz wohl.
Natürlich können die Cockneys mit ihren hohen Häusern und lärmgeplagten Straßen uns Bauerntölpel nennen, wenn es ihnen beliebt, aber trotzdem lebt es sich in Fairfield viel besser als in London. Unser Doktor sagt, immer wenn er nach London fährt, wird er vom Gewicht der ganzen Häuser erdrückt, und dabei ist er ein geborener Cockney. Als kleiner Junge musste er dort leben, aber heute weiß er es besser. Ihr Gentlemen mögt lachen – vielleicht stammen ein paar von Ihnen aus London –, aber für mich wiegt ein Zeuge wie er mehr als ein ganzes Fass voller Argumente.
Langweilig? Na, von mir aus können Sie es langweilig finden, aber ich versichere Ihnen, ich habe mir das ganze Garn über London angehört, das Sie heute Abend gesponnen haben, und es ist absolut gar nichts im Vergleich zu dem, was in Fairfield passiert. Das liegt an der Art, wie wir denken und uns nur um unseren eigenen Kram kümmern. Wenn einer von euch Londonern sich samstagnachts auf den Dorfanger setzen würde, wo die Geister der Jungs, die im Krieg gefallen sind, sich mit den Mädchen, die auf dem Friedhof liegen, ein Stelldichein geben, dann könnte der seine Neugier nicht im Zaum halten, und die Geister würden sich gestört fühlen und das Weite suchen, wo sie ihre Ruhe haben. Wir aber lassen sie kommen und gehen und machen kein Aufhebens davon, und infolgedessen ist Fairfield der geistreichste Ort in ganz England. Ich habe sogar am hellichten Tag mal einen Mann ohne Kopf auf dem Brunnenrand sitzen sehen, und die Kinder spielten zu seinen Füßen, als ob er ihr Vater wäre. Verlassen Sie sich drauf, Geister spüren genau wie Menschen, wo sie es gut haben.
Immerhin muss ich zugeben, dass das, was ich Ihnen jetzt erzähle, merkwürdig war – selbst für unseren Teil der Welt, wo in der Jagdsaison drei Meuten von Geisterhunden losziehen und der Urgroßvater des Hufschmieds die ganze Nacht über die Pferde der toten Gentlemen beschlägt. Na, so etwas könnte in London nie passieren, weil die sich immer in alles einmischen müssen, aber unser Schmied liegt einfach oben in seiner Stube und schläft so ruhig wie ein Lämmchen. Einmal, als er Kopfschmerzen hatte, rief er zu ihnen hinunter, sie sollten keinen solchen Lärm machen, und am nächsten Morgen fand er eine alte Guinee auf dem Amboss, als Entschuldigung. Er trägt sie heute an seiner Uhrkette. Aber ich muss zu meiner Geschichte zurückkehren – denn wenn ich erstmal von den seltsamen Dingen anfange, die in Fairfield passieren, finde ich kein Ende mehr.
Das Ganze begann mit dem verheerenden Frühlingssturm ’97; das war das Jahr, in dem wir zwei schlimme Stürme hatten. Hier geht es um den ersten, und ich erinnere mich noch sehr gut daran, weil, wie ich am nächsten Morgen feststellte, das Strohdach von meinem Schweinekoben wie ein Papierdrachen komplett in den Garten der Witwe geweht worden war. Als ich über die Hecke linste, machte sich die Witwe gerade – es war die Witwe von Tom Lamport – mit einem Unkrautstecher in ihrer Kapuzinerkresse zu schaffen. Nachdem ich ihr ein bisschen zugeschaut hatte, ging ich runter zum Fox and Grapes und erzählte dem Wirt, was sie zu mir gesagt hatte. Er lachte nur – er ist verheiratet und kennt sich mit Frauen aus. »Übrigens«, sagte er, »der Sturm hat mir was aufs Feld geblasen. So eine Art Schiff, glaube ich.«
Ich war einigermaßen verblüfft, bis er mir erklärte, dass es nur ein Geisterschiff sei und den Steckrüben keinen Schaden zufügen würde. Wir kamen zu dem Schluss, dass es vom Meer bei Portsmouth hochgeweht worden war, und dann sprachen wir über etwas anderes. Vom Pfarrhaus hatte es zwei Schieferplatten heruntergerissen, und auf Lumleys Weide war ein großer Baum entwurzelt. Es war ein Sturm, wie es ihn nicht alle Tage gab.
Ich schätze, der Sturm hatte unsere Geister über ganz England geweht. Tage später kehrten sie auf strauchelnden Pferden und mit wundgelaufenen Füßen zurück, und sie waren so froh, wieder in Fairfield zu sein, dass einige von ihnen heulend wie kleine Kinder durch die Straßen liefen. Der Squire sagte, der Urgroßvater seines Urgroßvaters hätte seit der Schlacht von Naseby nicht mehr so erschossen ausgesehen, und er ist ein gebildeter Mann.
So kam eins zum anderen, und es dauerte wohl eine ganze Woche, bis wieder alles im Lot war, und dann traf ich eines Nachmittags auf dem Dorfanger den Wirt, der ein sorgenvolles Gesicht machte. »Kannst du vielleicht mitkommen und dir mal dieses Schiff auf meinem Feld ansehen?«, sagte er zu mir. »Ich habe das Gefühl, es neigt sich mächtig den Steckrüben zu. Ich will mir gar nicht vorstellen, was die Frau dazu sagt, wenn sie das sieht.«
Ich ging mit ihm den Feldweg lang, und tatsächlich, mitten auf seinem Acker stand ein Schiff – ein Schiff wie kein Mensch es in den letzten dreihundert Jahren auf dem Wasser gesehen hatte, geschweige denn auf einem Rübenacker. Es war ganz schwarz angestrichen und mit Schnitzereien überzogen, und im Heck hatte es ein großes Erkerfenster, ganz genau wie im Wohnzimmer vom Squire. An Deck lugte eine Reihe kleiner schwarzer Kanonen aus den Geschützpforten hervor, und das Schiff ankerte an beiden Enden im harten Boden. Ich habe schon die sieben Weltwunder auf Postkarten gesehen, aber so etwas noch nie.
»Ganz schön stabil für ein Geisterschiff«, sagte ich, doch ich konnte sehen, dass der Wirt bekümmert war.
»Ich würde sagen, es ist so ein Zwischending«, antwortete er nachdenklich, »aber es wird an die fünfzig Steckrüben kosten, und die Frau will, dass es verschwindet.« Wir gingen hin und betasteten den Schiffsbauch, und er fühlte sich so fest an wie bei einem echten Schiff. »Also, manche Leute in England würden das sehr eigenartig finden«, sagte er.
Tja, ich weiß nicht viel über Schiffe, aber ich würde meinen, dass dieses Geisterschiff gut zweihundert Tonnen auf die Waage brachte, und ich hatte den Eindruck, dass es gekommen war, um zu bleiben, so dass es mir leid tat für den Wirt, der ja ein verheirateter Mann war. »Alle Pferde in Fairfield könnten es nicht aus meinen Rüben holen«, sagte er und blickte das Schiff finster an.
Genau in diesem Augenblick hörten wir ein Geräusch an Deck und schauten hinauf. Ein Mann war aus der Vorderkajüte gekommen und sah freundlich zu uns herunter. Er trug eine schwarze Uniform mit rostfarbenen Goldtressen, und an der Seite hatte er in einer Messingscheide ein großes Entermesser hängen. »Ich bin Captain Bartholomew Roberts«, sagte er im Ton eines Gentleman, »hier eingelaufen, um neue Leute anzuwerben. Ich habe das Schiff anscheinend ziemlich weit den Hafen raufgeführt.«
»Hafen!«, rief der Wirt, »Sie sind hier fünfzig Meilen weg vom Meer.«
Captain Roberts ließ sich nicht das Geringste anmerken. »So weit, tatsächlich?«, sagte er. »Na, das macht nichts.«
Der Wirt war ein wenig verärgert, als er dies hörte. »Ich möchte nicht unfreundlich erscheinen«, sagte er, »aber ich wünschte, Sie hätten Ihr Schiff nicht auf meinem Acker abgestellt. Meine Frau legt großen Wert auf diese Rüben, verstehen Sie?«
Der Captain nahm aus einer schönen goldenen Dose, die er aus der Tasche zog, eine Prise Schnupftabak und wischte sich dann sehr vornehm mit einem Seidentaschentuch die Finger ab. »Ich werde nur ein paar Monate hierbleiben«, sagte er, »aber wenn ein Zeichen meiner Verehrung Ihre werte Frau gewogen stimmen würde, sollte mich das freuen.« Und mit diesen Worten löste er eine große Goldbrosche von seinem Kragen und warf sie zum Wirt hinunter.
Der wurde puterrot. »Ich kann nicht bestreiten, dass sie ein Faible für Schmuck hat, aber das ist zu viel für einen halben Sack Steckrüben.« Und wirklich war es eine schöne Brosche.
Der Captain lachte. »Ach was«, sagte er, »das ist ein Zwangsverkauf, und Sie verdienen einen guten Preis. Kein Wort mehr darüber.« Er nickte uns zu, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Kajüte. Der Wirt ging den Feldweg zurück wie jemand, dem eine Last von der Seele genommen wurde. »Dieser Sturm hat mir ganz schön Glück gebracht«, sagte er. »Die Frau wird sich mächtig über die Brosche freuen. Das schlägt die Guinee vom Hufschmied um Längen.«
Siebenundneunzig war Kronjubiläum, das Jahr des zweiten Jubiläums, wie Sie sich erinnern werden, und wir hatten in Fairfield eine Menge um die Ohren, weswegen wir uns kaum um das Geisterschiff kümmern konnten – auch wenn es sowieso nicht unsere Art ist, uns in Dinge einzumischen, die uns nichts angehen. Der Wirt sah seinen Mieter ein oder zwei Mal, als er seinen Rübenacker hackte, und man grüßte sich freundlich. Seine Frau trug ihre neue Brosche jeden Sonntag zur Kirche. Aber wir pflegten zu keiner Zeit sonderlich viel Umgang mit den Geistern, nur der Dorftrottel, und der kannte den Unterschied zwischen einem Menschen und einem Geist nicht, der arme Einfaltspinsel! Am Jubiläumstag allerdings erklärte jemand Captain Roberts, warum die Glocken läuteten, und er hisste eine Flagge und feuerte seine Kanonen ab wie ein patriotischer Engländer. Dummerweise waren die Kanonen geladen, und eine der Kugeln schlug ein Loch in Farmer Johnstones Scheune, aber niemand ließ sich dadurch die Festlaune verderben.
Erst nach den Feierlichkeiten stellten wir fest, dass irgendetwas in Fairfield nicht stimmte. Es war der Schuhmacher, der mir eines Morgens im Fox and Grapes zuerst davon erzählte. »Du kennst doch meinen Urgroßonkel?«, fragte er.
»Du meinst Joshua, den stillen Burschen?«, antwortete ich. Ich kannte ihn gut.
»Still?«, sagte der Schuhmacher aufgebracht. »Still nennst du das, wenn er jeden Morgen um drei Uhr voll wie ne Haubitze nach Hause kommt und uns alle mit seinem Lärm aufweckt?«
»Aber das kann doch nicht Joshua sein!«, sagte ich, denn ich kannte ihn als eines der unbescholtensten jungen Gespenster im Dorf.
»Es ist Joshua«, sagte der Schuhmacher, »und wenn er nicht aufpasst, landet er in einer der nächsten Nächte auf der Straße.«
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie diese Art von Gerede mich erschreckte, denn ich höre nicht gern, wenn ein Mann schlecht über seine eigene Familie spricht, und ich konnte kaum glauben, dass ein so anständiger Junge wie Joshua sich dem Suff ergeben hatte. Aber genau in diesem Moment kam der Metzger Aylwin herein, und er hatte eine solche Wut, dass er kaum sein Bier trinken konnte. »Dieser Grünschnabel! Dieser Grünschnabel!«, sagte er immerzu. Es dauerte eine Weile, bis der Schuhmacher und ich begriffen, dass er von seinem Vorfahren sprach, der bei Senlac gefallen war.
»Säuft er?«, fragte der Schuhmacher hoffnungsvoll – denn wir alle sind froh über Leidensgenossen im Unglück –, und der Metzger nickte grimmig.
»Dieser junge Schwachkopf«, sagte er und leerte seinen Krug.
Tja, danach hielt ich die Ohren gespitzt, und es war im ganzen Dorf die gleiche Geschichte. Es gab unter all den Geistern von Fairfield kaum einen jungen Mann, der nicht regelmäßig in den frühen Morgenstunden volltrunken nach Hause gewankt wäre. Ich wachte nachts auf und hörte sie an meinem Haus vorbeistolpern und zotenhafte Lieder grölen. Das Schlimmste war, dass der Skandal sich herumsprach: Plötzlich redeten die Leute in Greenhill vom »versoffenen Fairfield« und brachten ihren Kindern ein Lied über uns bei:
In Fairfield wird so viel gesoffen,
da braucht man gar kein Butterbrot,
Rum zum Frühstück, Rum zu Mittag,
Rum zum Tee und Abendrot!
Wir nehmen die Dinge normalerweise leicht in unserem Dorf, aber das hat uns doch schwer getroffen.
Natürlich fanden wir bald heraus, wo die jungen Burschen ihren Schnaps herbekamen. Der Wirt war reichlich niedergeschlagen, dass sich sein Mieter als so übel entpuppte, aber seine Frau wollte die Brosche partout nicht herausrücken, so dass er dem Captain auch nicht kündigen konnte. Doch mit der Zeit wurde alles immer noch schlimmer, und zu jeder Tageszeit sah man diese verkommenen jungen Leute auf der Gemeindewiese ihren Rausch ausschlafen. Fast jeden Nachmittag polterte ein Geisterwagen mit einer Ladung Rum zum Schiff, und obgleich die älteren Geister eher dazu neigten, der Gastfreundschaft des Captains aus dem Weg zu gehen, gab es für die jungen Burschen kein Halten.