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Für die Beantwortung dieser Frage muss man sich über die Beschaffenheit der Film- und Fernsehtexte klar werden. Wenn sich, wie es Angela Keppler (2001, S. 131) formuliert hat, im medialen Produkt »die Perspektiven der Produktion und der Rezeption auf eine bestimmte Weise« treffen, ist es Aufgabe der Analyse herauszufinden, auf welche Weise dies genau geschieht. Aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive können dann nicht nur die »Medieninhalte als Kommunikationsangebote« (ebd.) verstanden werden, sondern das gesamte symbolische Material der Fernsehsendungen und Filme, also auch Narration und Dramaturgie sowie die gestalterischen Mittel, mit denen die Aufmerksamkeit der Zuschauer erregt werden soll. Film- und Fernsehtexte werden in diesem Zusammenhang als Anweisungen zur Rezeption und Aneignung verstanden. Die Texte enthalten Handlungsanweisungen für die Zuschauer (vgl. Mikos 2001a, S. 177 ff.) und strukturieren auf diese Weise deren Aktivitäten vor. »Nicht das Medium ist die Message, sondern seine Rolle in der sozialen Anwendung« (Hienzsch/Prommer 2004, S. 148). Film – und auch Fernsehen – kann daher als soziale Praxis gesehen werden (vgl. Turner 2006). Das heißt nicht, dass Film- und Fernsehtexte die Rezeption durch die Zuschauer determinieren. Sie machen lediglich Angebote, die von den Zuschauern genutzt werden können, indem sie sich auf eine Interaktion mit dem jeweiligen Text einlassen. John Fiske (2011, S. 95 f.) spricht aus diesem Grund auch nicht von Texten, sondern von ihrer »Textualität« bzw. von produzierbaren Texten. Damit ist gemeint, dass die Film- und Fernsehtexte nach einer Vervollständigung durch die Zuschauer verlangen, sie werden erst im Akt der Rezeption und Aneignung produziert. Nach diesem Verständnis können Filme und Fernsehsendungen auch keine abgeschlossenen Bedeutungen an sich haben, die z.B. Film- oder Fernsehwissenschaftler in einer Analyse »objektiv« freilegen könnten, sondern sie entfalten ihr semantisches und symbolisches Potenzial erst durch die aktiven Zuschauer, d.h., sie können lediglich potenzielle Bedeutungen haben, sie bilden eine »semiotische Ressource« (Fiske).
»Vielleicht favorisiert ein Text manche Bedeutungen, er kann auch Grenzen ziehen, und er kann sein Potential einschränken. Andererseits kann es auch sein, daß er diese Präferenzen und Grenzen nicht allzu effektiv festschreibt« (Fiske 1993, S. 12 f.).
Film- und Fernsehtexte können also nur Angebote machen und mögliche Lesarten inszenieren, über die sie die Aktivitäten der Zuschauer vorstrukturieren. Eines können sie aber nicht: Sie können nicht die Bedeutung festlegen. Sie funktionieren als Agenten in der sozialen Zirkulation von Bedeutung und Vergnügen, denn sie können ihr Sinnpotenzial nur in den sozialen und kulturellen Beziehungen entfalten, in die sie integriert sind: »Texte funktionieren immer im gesellschaftlichen Kontext« (ebd., S. 13). Erst da kommt ihre strukturierende Kraft zum Tragen. Die Aneignung von populären Texten wie Filmen und Fernsehsendungen ist nach Fiske am Schnittpunkt von sozialer und textueller Determination lokalisiert. Damit wird auch deutlich, dass sich Texte immer im Feld sozialer Auseinandersetzung befinden (vgl. Mikos 2001c, S. 362). Für die Analyse heißt dies, dass die Struktur von Filmen und Fernsehsendungen zu den Rezeptions- und Aneignungsaktivitäten in Bezug gesetzt werden muss. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die strukturierende Kraft der Film- und Fernsehtexte in der Rezeption stärker ist als in der Aneignung, in der die soziokulturellen Kontexte, in die die Zuschauer eingebunden sind, wirksamer sind. Daher stehen die Rezeptionsaktivitäten im Vordergrund der folgenden Ausführungen, Aneignungsaktivitäten werden dort, wo es sinnvoll erscheint, in die Betrachtungen einbezogen.
Film- und Fernsehtexte sind grundsätzlich an ein Publikum gerichtet. Daher sind sie zum Wissen, zu den Emotionen und Affekten, zum praktischen Sinn und zur sozialen Kommunikation der Rezipienten hin geöffnet.
Es lassen sich also vier Arten von Aktivitäten unterscheiden, die in der Rezeption und Aneignung eine Rolle spielen:
– kognitive Aktivitäten
– emotionale und affektive Aktivitäten
– habituelle und rituelle Aktivitäten
– sozial-kommunikative Aktivitäten
Sie alle sind an zwei grundlegende Modi Operandi gebunden, die den Umgang mit den Film- und Fernsehtexten ausmachen: das Film- und Fernsehverstehen und das Film- und Fernseherleben. In der Analyse geht es vor allem darum, diese Prozesse des Verstehens und Erlebens herauszuarbeiten. Film- und Fernsehverstehen meint, anhand eines audiovisuellen Produkts zu untersuchen, wie es sich als bedeutungsvoller Text, der in den kulturellen Kreislauf von Produktion und Rezeption eingebunden ist, konstituiert (vgl. Mikos 1998, S. 3). Dazu müssen jedoch auch die lebensweltlichen Verweisungszusammenhänge einbezogen werden. Film- und Fernseherleben meint eine eigene Zeitform mit eigenen Höhepunkten, »in denen das zu kulminieren scheint – sowohl das, das es auf der Leinwand zu besichtigen gilt, wie auch das Erleben selbst« (Neumann/Wulff 1999, S. 4). Die Zuschauer gehen selbstvergessen im Erlebnis auf (vgl. Renner 2002, S. 153). Film- und Fernseherleben schafft eigene Sinnstrukturen, die mit der Alltagswelt und den lebensweltlichen Verweisungszusammenhängen der Zuschauer verknüpft sind.
1.1 Film- und Fernsehverstehen
Filme und Fernsehsendungen ergeben Sinn, denn sie sind sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption an sinnhaftes soziales Handeln gebunden (vgl. dazu auch Hall 1980, S. 130; Keppler 2001, S. 129). Darüber treten sie in einen bedeutungsvollen Diskurs ein. Sie prägen die Lebensverhältnisse in der gegenwärtigen Gesellschaft (vgl. Keppler 2006, S. 19 ff.). Wie bereits erwähnt, sind Film- und Fernsehtexte grundsätzlich zum Wissen der Rezipienten hin geöffnet (vgl. Wulff 1985, S. 13). Um eine Filmszene zu verstehen, muss ein Zuschauer zunächst einmal Informationen verarbeiten und sie in einen bedeutungsvollen Kontext bringen. Auf diese Weise erhält die Szene einen Sinn. Ein einfaches Beispiel mag das verdeutlichen: Um zu erkennen, dass es sich bei den Figuren auf der Leinwand oder dem Bildschirm um Menschen handelt, die in einem Restaurant an einem Tisch sitzen, muss der Zuschauer die ihm dargebotene Bildinformation verarbeiten. Er muss wissen, was Menschen sind, was ein Restaurant ist und was ein Tisch ist. Darüber hinaus wissen wir, dass Menschen immer in bedeutungsvollen Strukturen handeln, aus ihnen können sie nicht heraustreten (vgl. Blumer 1973/2013). Das heißt in diesem konkreten Fall, dass der Zuschauer auch um die Bedeutung von Menschen, Tischen und Restaurants weiß. Anhand des Settings Mensch – Tisch – Restaurant werden Kontexte des Wissens aufgerufen, die deren Bedeutung im Rahmen sinnhaften sozialen Handelns an lebensweltliche Verweisungszusammenhänge zurückbinden. Dazu zählt z.B. das Wissen, dass Menschen nicht immer zu Hause essen, sondern sich auch mal in Restaurants von Köchen bekochen und von Kellnern bedienen lassen. Auf dieser Ebene nimmt der Zuschauer zunächst lediglich Informationen aus dem Film- oder Fernsehbild auf und evaluiert sie im Rahmen von sinnhaften Handlungskontexten. Die Bedeutung der beschriebenen Restaurantszene im Film bzw. in der Fernsehsendung ergibt sich außerdem daraus, dass sie in einem narrativen Kontext steht. Der Zuschauer kann aus der bisherigen Erzählung an dieser Stelle schließen, dass es in der dargebotenen Szene nicht in erster Linie um den Zusammenhang von Hunger und Essen, also die reine Nahrungsaufnahme geht, sondern dass das Gespräch, das die Personen beim Essen führen, bedeutsam ist. Es könnte sich beispielsweise um einen letzten Versöhnungsversuch eines Ehepaares handeln, das kurz vor der Scheidung steht oder um ein Geschäftsessen.
Die Bedeutung dieser Szene ergibt sich aber nicht nur aus dem narrativen Kontext, sondern auch daraus, dass der Zuschauer um diese Möglichkeiten weiß, weil sie sinnhaftes Handeln darstellt – in diesem Fall, dass Gespräche beim Essen eine besondere Bedeutung haben können und Mittelpunkt der Aktivität »Essen im Restaurant« sein können. Damit ist klar, dass es in der Szene nicht nur um die abgebildete Nahrungsaufnahme im Restaurant geht, sondern um das Gespräch, das bei Tisch geführt wird. Der Zuschauer hat ein Wissen um die soziale Bedeutung von Restaurants, das er nun in der Rezeption aktivieren kann, um die Szene nicht nur zu verstehen, sondern sie auch mit Bedeutung zu füllen. Dies ist möglich, weil der Filmtext zu seinem Wissen hin geöffnet ist. Es ist leicht vorstellbar, wie komplex diese Bezüge werden, wenn es nicht um so einfache Alltagsbegebenheiten wie Restaurantbesuche und Gespräche geht, sondern z.B. um politische Macht, Hierarchien, Geschlechterverhältnisse, religiöse Praktiken, ökonomische Krisen und Ähnliches mehr.
Die Rolle des Wissens der Zuschauer wird noch deutlicher, wenn es nicht nur um die Informationsverarbeitung des Abgebildeten oder Repräsentierten und die Bedeutungszuweisung des Erzählten geht, sondern wenn die textuellen Strategien nach der kognitiven Aktivität der Zuschauer verlangen. Hierbei spielen die sogenannten Leerstellen eine wichtige Rolle, die aus rezeptionsästhetischen Arbeiten der Literatur- und Kunstwissenschaft bekannt sind (vgl. dazu Mikos 2001a, S. 15 ff.; Neuß 2002, S. 17 ff.) und auch in der Filmwissenschaft thematisiert wurden (vgl. Hanich 2012). In ihnen zeigt sich die Appellstruktur der Texte (vgl. Iser 1979; Mikos 2001a, S. 177 ff.). Leerstellen bilden gewissermaßen Lücken im Erzählfluss oder in der Repräsentation von Wirklichkeit. Diese Lücken müssen die Zuschauer mit ihrem Wissen füllen. In diesem Sinn sind sie Handlungsanweisungen an die Zuschauer, ihr Wissen zu aktivieren und bedeutungsbildend und sinngenerierend tätig zu werden. Norbert Neuß (2002, S. 19 ff.) hat eine erste Typologie von Leerstellen am Beispiel von Kinderfilmen entwickelt. Danach entstehen Leerstellen im Film durch imaginäre Zeiten und Räume, durch Sprachbilder und Metaphern, durch bildliche Symbole, durch die aktive Ansprache des Rezipienten und das Herstellen von »Wir-Gemeinsamkeit«, durch Fantasie öffnende Tätigkeiten, durch die Wahl der Perspektive und durch Abstraktion. Letzteres macht er am Beispiel von animierten Filmen deutlich, in denen abstrakte Bilder und Geräusche die Aktivitäten der Rezipienten anregen können. Das trifft auch auf die dargestellten Figuren zu. Je weniger detailreich z.B. die Zeichnung einer Figur ist, desto mehr Raum ist vorhanden, um sie mit eigenem Wissen und eigenen Interpretationen zu füllen.
»So wird z.B. Wickie von ›Wickie und die starken Männer‹ von Kindern mal als Junge und mal als Mädchen interpretiert. Je nachdem, wie man diese Figur füllt, entstehen in dem Film ganz neue Perspektiven und Beziehungskonstellationen« (ebd., S. 22).
Wenn in einem Western z.B. ein Indianer auf einem Berg steht und in die Ferne schaut, werden die Zuschauer dazu angeregt, ihr Wissen zu aktivieren, um sich vorstellen zu können, was der Indianer wohl sieht und welche Gedanken ihm möglicherweise dabei durch den Kopf gehen. Zwar kann die Kamera noch zeigen, wohin der Blick schweift, aber die Gedanken lassen sich bildlich höchstens mit einer Nahaufnahme des Gesichts andeuten. Der Zuschauer ist an dieser Stelle gefragt, sein Wissen einzusetzen, um die Bedeutung dieser Bilder im Rahmen des Erzählkontextes zu verstehen. Leerstellen entstehen in Film und Fernsehen auch durch Auslassungen. So sind in Nachrichtensendungen häufig stereotype Bilder von politischen Treffen zu sehen. Nachdem einige Staatsmänner und Staatsfrauen zunächst einzeln beim Verlassen eines Flugzeugs gezeigt werden, sieht man sie anschließend in trauter Runde versammelt an einem riesigen Konferenztisch sitzen. Da es sich bei dieser Darstellung nicht um die filmische Dokumentation eines Ereignisses in Echtzeit handelt, sondern um die mediale Bearbeitung des dokumentarischen Ausgangsmaterials, das das Ereignis im Medium (re)präsentiert, wird nicht gezeigt, wie die Staatsmänner und -frauen vom Flughafen in den Konferenzraum gelangt sind. Diese Lücke muss der Zuschauer aufgrund der gezeigten Hinweise in dem Nachrichtenfilm mit seinem Wissen schließen: Er muss kognitiv aktiv werden.
Filme und Fernsehsendungen sind nicht nur zum Wissen der Zuschauer hin geöffnet, sondern auch zur sozialen Kommunikation. Sie werden im Alltag benutzt, z.B. indem sie Gegenstand von Gesprächen mit Freunden und Bekannten werden, sie als »kommunikative Ressource« dienen (Keppler 1994, S. 211). Der Gebrauch der Medien im Alltag wird als kommunikative Aneignung bezeichnet (vgl. Faber 2001; Hepp 1998, S. 23 ff.; Holly 2001, S. 13 ff.; Klemm 2000, S. 72 ff.). Dabei werden Filme und Fernsehsendungen nicht nur bewertet, sondern im Rahmen der Kommunikation wird auch ihre Bedeutung ausgehandelt, z.B. in Familiengesprächen (vgl. Keppler 1994, S. 220 ff.). In direkter Kommunikation wird geprüft, ob und wie sie im Alltag und in der Lebenswelt Sinn ergeben und sinnhaft in die alltäglichen Lebens- und Kommunikationsverhältnisse integriert werden können. Die textuellen Strukturen von Filmen und Fernsehsendungen können Hinweise darauf enthalten. Sie generieren Vorschläge, wie sie mit den Lebensverhältnissen des Publikums in Beziehung treten können. Martin Barker (2000, S. 37) hat dies ihre »Modalitäten des Gebrauchs« genannt. Ein Film kann so über seine textuellen Strukturen anzeigen, wie er vom Publikum benutzt werden und kommunikativ angeeignet werden will. Wenn z.B. in Horrorfilmkomödien für Teenager, den sogenannten »Teen Scream«-Filmen (vgl. Dirk/Sowa 2000; Mikos 2002, S. 14; Westphal/Lukas 2000, S. 270 ff.) wie der »Scream«-Trilogie oder »The Faculty« zahlreiche visuelle und narrative Anspielungen auf frühere Filme des Genres inszeniert werden, ist das u.a. eine Handlungsanweisung auf eine kommunikative Aneignung im Kreis von Fans dieses Genres. Sie werden sich mit Freunden über die erkannten Anspielungen austauschen und so nach und nach die intertextuellen Bezüge des Films erschließen. Ratgebersendungen im Fernsehen bieten nicht nur Informationen zu bestimmten Themen, die das Wissen der Zuschauer erweitern, sondern sie sind auch auf die kommunikative Aneignung und den Gebrauch im Alltag gerichtet. Wenn z.B. Tipps für das Katerfrühstück am Neujahrstag gegeben werden, ist damit einerseits strukturell die Anregung für die Zuschauer verbunden, sie am betreffenden Tag in die Tat umzusetzen, andererseits können sie auch im Rahmen des sozialen Umfelds als Meinungsführer auftreten und die Tipps an Freunde, Nachbarn, Kollegen und Familienmitglieder weitergeben (vgl. zum Konzept des Meinungsführers exempl. Schenk 2002, S. 320 ff.). In diesem Sinn können Film- und Fernsehtexte ihre Zuschauer anregen, sozial-kommunikativ aktiv zu werden und sie in die soziale Zirkulation von Bedeutung einzuspeisen.
In der Analyse können die Strukturen der Film- und Fernsehtexte herausgearbeitet werden, die sie zum Wissen und der sozialen Kommunikation der Zuschauer hin öffnen. Allerdings müssen dabei Differenzierungen vorgenommen werden. So gibt es verschiedene Wissensformen, zu denen die Texte hin geöffnet sind. Peter Ohler (1994, S. 32 ff.) hat zwischen generellem Weltwissen, narrativem Wissen und dem Wissen um filmische Darbietungsformen unterschieden. Der »Rezipient muß mit Hilfe seines generellen Weltwissens aus den gezeigten Szenen Schlußfolgerungen hinsichtlich des nicht gezeigten Geschehens ziehen« (ebd., S. 35). Weltwissen ist also nötig, um z.B. Leerstellen zu füllen. Das Wissen darum, dass man im Restaurant nach dem Essen bezahlen muss und der Bedienung ein Trinkgeld geben sollte, gehört diesem generellen Weltwissen an. Des Weiteren weist Ohler dem narrativen Wissen bei der Verarbeitung filmischer Geschichten eine zentrale Rolle zu. Dabei handelt es sich um Wissen über typische Plots, Rollen von Protagonisten, Handlungssequenzen und Handlungssettings im Rahmen typischer Genres. Zum narrativen Wissen gehört z.B., dass ein Überfall, der von Polizisten beobachtet wird, eine Verfolgungsjagd nach sich ziehen kann und dass hier Gut gegen Böse kämpft. Dazu gehört das Wissen um die Rolle des Moderators in einer Gameshow ebenso wie das Wissen um den typischen Handlungsverlauf eines Fußballspiels, bei dem zwei Mannschaften in einem Stadion gegeneinander antreten, oder das Wissen darum, dass in einem Korrespondentenbericht in einer Nachrichtensendung der Korrespondent selbst irgendwann im Bild zu sehen sein wird. Dieses Wissen ist abstrakt und unabhängig von einem konkreten Moderator oder einem konkreten Korrespondenten, einem konkreten Stadion und den beiden konkreten Mannschaften. Die dritte Form des Wissens nach Ohler ist das Wissen über filmische Darbietungsformen. Einstellungsgrößen, Schnitte, Kameraperspektiven, Toneffekte, Musik und Montage sind einige »dieser formalen Mittel, die dem Rezipienten als Cues (Hinweise, L.M.) dienen, die das Verständnis der filmischen Narration erleichtern und narrationsbezogene Erwartungen generieren helfen« (ebd., S. 36). Hierzu gehört z.B. das Wissen, dass zwei Personen, die im Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren aneinandergeschnitten sind, sich offenbar in einem Dialog befinden oder dass dramatische Musik ein spannendes Ereignis ankündigt. Das narrative Wissen und das Wissen um die filmischen Darbietungsformen sind miteinander verknüpft.
In diesem Zusammenhang spricht Dieter Wiedemann (1993, S. 49) auch von »mentalen Dramaturgien«. In der Analyse kann nun herausgearbeitet werden, welches narrative Wissen erforderlich ist, um die Geschichte eines Films oder einer Fernsehsendung im Kopf entstehen zu lassen, und welches Wissen um filmische Darbietungsformen dabei eine Rolle spielt. Beide Wissensbestände stehen in Bezug zum Weltwissen. Es geht also nicht nur darum, was erzählt wird, sondern wie es erzählt wird und welche Rolle das für die Geschichte im Kopf spielt. Die Wissensformen sind nicht naturgegeben vorhanden, sondern müssen erst erworben werden. Der Umgang mit audiovisuellen Medien ist für jeden Menschen ein Lernprozess. In der audiovisuellen Sozialisation werden die Konventionen und Regeln von Film und Fernsehen erlernt. Daraus folgt, dass die Geschichten im Kopf unterschiedlich ausfallen, weil jeder Mensch eine andere mediale Lerngeschichte erlebt und erfahren hat. So hat z.B. jede Generation ihre eigenen Medienerfahrungen. Die Fernsehgeneration, die mit diesem Medium aufgewachsen ist, entwickelt andere Geschichten im Kopf als die Mitglieder der Generation, die ohne Radio und Fernsehen und nur mit dem Film als Medium aufgewachsen sind. Ebenso hängt z.B. das Verständnis eines Horrorfilms auch vom Wissen um die typischen Gestaltungs- und Erzählmuster des Genres ab. Wer dieses Wissen hat, wird eine andere Geschichte sehen als jemand, der keine entsprechenden Seherfahrungen aufweisen kann.
Gegenstand der Film- und Fernsehanalyse müssen die textuellen Strategien sein, mit denen die kognitiven Aktivitäten der Zuschauer den Film im Kopf entstehen lassen. Ebenfalls analysiert werden müssen die Textstrategien, die die sozial-kommunikative Aneignung der Filme und Fernsehsendungen vorstrukturieren. Man kann sagen, dass über die sozial-kommunikativen Aktivitäten der Zuschauer die Filme aus dem Kopf wieder heraustreten und zu einem Bestandteil des sozialen Lebens werden, indem sie sich in die soziale Zirkulation von Bedeutungen in den gesellschaftlichen Diskursen einklinken.
1.2 Film- und Fernseherleben
Filme und Fernsehsendungen stellen für Zuschauer auch ein Erlebnispotenzial dar. Sie werden aus Vergnügen angeschaut, weil man lachen oder auch weinen kann. Möglicherweise werden sie aber auch angeschaut, weil ihre Inhalte sich gerade mit spezifischen Lebensthemen der Zuschauer verbinden. Erlebnisse sind für den einzelnen Zuschauer im Kino- oder Fernsehsessel nur möglich, wenn sich der Film oder die Fernsehsendung in seine subjektiven Sinnhorizonte einfügt. Norbert Neumann und Hans J. Wulff haben auf diese »Zwischenstellung des Erlebnisses« hingewiesen:
»Nun ist gerade die Zwischenstellung des Erlebnisses zwischen den Strukturen des Textes und den aus ihm stimulierten Bedeutungsproduktionen des Subjekts eine methodisch außerordentlich widerspenstige Tatsache. Das Erlebnis ist erst in der Erinnerung abgeschlossen, ist selbst aber eine offene geistige Tätigkeit. Das Erleben ist ein Prozess, eine aktualgenetische Austausch- und Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Text. Erleben ist Übersetzen, weil das Bedeutungsangebot des Textes vermittelt werden muss mit den Sinnhorizonten des Erlebenden« (Neumann/Wulff 1999, S. 4).
Im Film- und Fernseherleben vermischt sich das Soziale mit dem Subjektiven, denn sowohl die Texte als auch die Zuschauer sind in soziale und kulturelle Kontexte eingebunden. Das zeigt sich u.a. schon an der Abhängigkeit des Erlebnisses von der Rezeptionssituation: Während man sich im dunklen Kinosaal selbstvergessen dem Geschehen auf der Leinwand widmen und gegebenenfalls den kommunikativen Kontakt zu den Begleitern suchen kann, findet das Fernsehen im häuslichen Ambiente statt, wo zahlreiche Varianten von Störfaktoren bestehen können, die nicht vom Fernsehenden beeinflussbar sind, aber die involvierte, konzentrierte Hinwendung zum Bildschirm behindern – einmal abgesehen davon, dass die Aktivität »Fernsehen« häufig von anderen Tätigkeiten begleitet werden kann. Allerdings hängt das Erlebnis nicht nur von der Intensität der Zuwendung und dem Involvement ab, sondern vor allem von der Verbindung mit den subjektiven Sinnhorizonten. Es findet seinen Ausdruck im Subjekt: »Manchmal aber erfasst der Prozess des Erlebens die ganze Person, vermag Tiefenschichten der Erfahrung, des Wünschens oder der Moral zu aktivieren« (ebd., S. 5). Der Zuschauer ist bewegt oder gerührt, und die Zuschauerin kann sich vor Lachen kaum noch halten (vgl. Mikos 2011). In diesem Sinn sind Film- und Fernsehtexte nicht nur zum Wissen und zur sozialen Kommunikation der Zuschauer hin geöffnet, sondern auch zu den Emotionen und Affekten sowie zum praktischen Sinn.
Emotionen und Affekte spielen für das Film- und Fernseherleben eine entscheidende Rolle. »Das Kino ist seit jeher ein privilegierter Ort für Emotionen, und wer über Film und Filmerleben redet, schließt dabei im Grunde stets die emotiven Wirkungen ein, denn sie gehören essenziell dazu« (Wuss 2002, S. 123). Zuschauer gehen schließlich ins Kino, »um sich den Emotionen auszusetzen« (Wulff 2002, S. 109). Das stellte auch schon Hugo Münsterberg im Jahr 1916 in seiner psychologischen Studie »Das Lichtspiel« fest. Dort heißt es: »Die Darstellung von Emotionen muß das Hauptanliegen des Lichtspiels sein« (Münsterberg 1996, S. 65). Emotionen und Affekte treten jedoch in Verbindung mit kognitiven Aktivitäten der Zuschauer auf, denn eine Szene muss verstanden und mit Bedeutung gefüllt werden, bevor die Zuschauenden affektiv berührt sein und Emotionen entwickeln können. Genauso müssen sie die Gefühle der Figuren verstehen können, bevor sie möglicherweise in einem Akt der Empathie mitfühlen. Emotionen sind ohne Kognitionen nicht denkbar. In der Psychologie wird in der Regel zwischen Affekt, Emotion und Mood unterschieden (vgl. dazu Kaczmarek 2000, S. 260). Während Emotionen als innere mentale Zustände gesehen werden, sind Affekte auf ein Objekt gerichtet und »Aspekte der Ereignisbewertungen durch das Subjekt« (ebd., S. 261). Unter Mood (Stimmung) wird ein diffuser Zustand eines Subjekts verstanden, der bestimmte emotionale Bewertungen wahrscheinlicher erscheinen lässt als andere. Wenn ein Zuschauer in einer diffusen Stimmung der Unlust ist, wird es wahrscheinlicher, dass er verschiedene Fernsehsendungen, durch die er gerade zappt, kritisiert, als dass er sich beispielsweise für eine neue Gameshow vollauf begeistern könnte. Wenn sie jedoch in einer diffusen Stimmung freudiger Erwartung ist, wird sie wahrscheinlich auch noch dem langweiligsten Gespräch in einer Talkshow etwas abgewinnen können und eben nicht entnervt den Fernseher ausschalten.
Um Filme und Fernsehsendungen in ihrem kommunikativen Verhältnis zu den Zuschauern zu analysieren, muss nicht im obigen Sinn zwischen Affekt, Emotion und Mood unterschieden werden. Stattdessen reicht es meines Erachtens aus, zwei grundlegende Arten von Emotionen zu unterscheiden (vgl. Mikos 2001a, S. 110 ff.): sogenannte Erwartungsaffekte, die in einem engen Zusammenhang mit Kognitionen stehen, und Emotionen als situative Erlebnisqualität und sinnliche Erfahrung, die auf früheren, lebensgeschichtlich bedeutsamen Erfahrungen der Zuschauer beruhen. Dies geht weiter als die rein psychologischen Bestimmungen, da Emotionen hier nicht als isolierte, intraindividuelle Erregungsstufen, sondern in Beziehung zur sozialen Realität der Rezipienten gesehen werden. Denn Emotionen können nur im situativen Rahmen sozialer Interaktionen auftauchen. Sie sind ebenso wie die Kognitionen notwendiger Bestandteil der Interpretation von Situationen; ohne sie kann das Subjekt nicht handeln. Die »je aktuellen Gefühle sind ein relevanter und unverzichtbarer Teil dafür, daß der Mensch aktiv handelt und erlebt, wie er es tut, also ein inhärenter Bestandteil seiner Interpretation« (Krotz 1993, S. 112). Das wird auch in Bezug zur Film- und Fernsehrezeption deutlich. So hat Ed S. Tan (1996, S. 195 ff.) ein Modell des Emotionsprozesses in Bezug auf die Spielfilmrezeption vorgelegt. Er geht davon aus, dass die narrative Struktur eines Filmtextes ein Situationsmodell aufbaut, in dem eine emotionale Bedeutungsstruktur aufgehoben ist, und erst dadurch kommt es zu einer emotionalen Reaktion bzw. Antwort. Das ist nur möglich, weil Handlungssituationen – ob im Film oder im Alltag – grundsätzlich eine emotionale Bedeutungsstruktur aufweisen. Deutlich wird so, dass die Emotionen nicht nur von Figuren und Charakteren im Film oder der Fernsehsendung angeregt werden (vgl. Smith 1995), sondern auch von dramatischen Konflikten, die z.B. zu einer emotionalen Anspannung der Zuschauer führen können (vgl. Wuss 1999, S. 318 f.), sowie von den Interaktionsbeziehungen, die sich im »sozialen Kleinsystem« (Wulff) der Handlung eines Films ergeben. In diesem Sinn geht Hans J. Wulff (2002, S. 110) davon aus, dass sich z.B. Empathie nicht einfach auf einzelne Figuren richtet, sondern dass Spielfilme ein »empathisches Feld« aufbauen. Darunter versteht er imaginierte Szenarien, die als ein symbolischer Kontext »des sozialen Lebens, des Genres, der besonderen Handlung und des besonderen dramatischen Konflikts« (ebd.) gesehen werden, der sowohl in Geschichten als auch in Personenkonstellationen integriert ist. Figuren und Charaktere werden dann im Rahmen dieses symbolischen Kontextes wahrgenommen Die Filmwissenschaftlerin Margrethe Bruun Vaage unterscheidet daher zwischen dem »automatischen Nachvollzug des Gefühlszustands des Anderen anhand seiner Körperhaltung (körperbezogene Empathie)« und der imaginativen, bei der sich der Zuschauer »in seiner Vorstellung partiell in die Situation des Anderen versetzen und diese verstehen« kann (Bruun Vaage 2007, S. 101). Nur so kann sich Empathie entwickeln.