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Sie gab Erwin das ausgeschnittene Stück einer Zeitungsseite. Ich stand auf und setzte mich auf die Armlehne seines Sessels, um mitzulesen. Mit grünem Textmarker hatte sie eine Kleinanzeige eingekreist. Hilfe für leichte Tätigkeiten im Haushalt gesucht, las ich dort, drei Vormittage pro Woche. Dann folgte eine Telefonnummer.
»Das ist Juttas Telefonnummer«, sagte Frau Berger. »Also die von den beiden, natürlich.« Sie schnaubte. »Natürlich ist Gerhard jetzt, wo Jutta nicht mehr da ist, vollkommen hilflos. Vermutlich kann er sich gerade mal eine Stulle schmieren.« Erneutes verächtliches Schnauben. »Wenn überhaupt. Ohne Hilfe würde der Mann in seinem eigenen Dreck untergehen. Jeden Tag steht der Pizzaservice vor der Tür. Und mindestens vier Haushaltshilfen hat er schon verschlissen.«
»Das haben Sie alles während der letzten drei Wochen mitbekommen?«, fragte ich.
Sie zuckte schuldbewusst zusammen. »Nicht, dass Sie denken, ich würde den lieben Tag lang hinter der Gardine lauern. Oder mit dem Ohr an der Wohnungstür kleben.«
Nein, natürlich nicht. Wie könnte ich?
»Unser Haus ist sehr hellhörig, müssen Sie wissen. Da bekommen Sie alles mit. Natürlich höre ich es, wenn der Pizzaservice liefert. Und eine von den Haushaltshilfen habe ich im Hausflur getroffen, als ich meine Post reingeholt habe.«
Oder du hast zufällig genau in dem Moment deine Post reingeholt, als du die Haushaltshilfe im Flur gehört hast, dachte ich.
»Und mit der haben Sie sich unterhalten?«, hakte Erwin nach.
Frau Berger nickte. »Unterhalten ist vielleicht zu viel gesagt, sie sprach kaum Deutsch. Sie hatte gerade gekündigt. Kann diese Mann da oben nicht aushalten, hat sie gesagt.«
»Wie viele Mietparteien wohnen bei Ihnen im Haus?«, wollte ich wissen.
»Vier«, entgegnete sie. »Die Dengelmanns und ich links, rechts unten Professor von Rabenstein, ein sehr höflicher älterer Herr, und über ihm ein kinderloses Lehrerehepaar. Sehr ruhige und gediegene Leute. Aber man hat nicht viel miteinander zu tun. Man grüßt sich im Hausflur und wünscht sich einen guten Tag und einen guten Weg.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das reicht mir auch vollkommen aus.«
»Wie kam es, dass Frau Dengelmann und Sie sich angefreundet haben, wenn Sie ansonsten Distanz zu Ihren Nachbarn halten?«
Sie sah mich an und lächelte. »Nachdem sie und Gerhard über mir eingezogen waren, fünfzehn Jahre ist das jetzt her, liefen wir uns immer mal wieder im Flur über den Weg. Oder an der Mülltonne. Und eines Tages lud ich sie spontan zu einer Tasse Kaffee ein, weil ich gerade Kuchen gebacken hatte. Im Laufe der Zeit entwickelte sich zwischen uns eine echte Freundschaft. Anfangs besuchten wir sogar mal eine Matineevorstellung im Kino, verschiedene Museen und einen Literaturzirkel, bis Gerhard zu nörgeln begann, weil das Geld kostete. Danach bildeten wir unseren eigenen kleinen Literaturzirkel. Wir lasen gemeinsam einen Klassiker und diskutierten dann darüber.« Bei der Erinnerung daran seufzte sie. »Sie war mir gleich sympathisch gewesen, die Jutta. So eine höfliche und ruhige Frau, hatte ich gleich bei unserer ersten Begegnung gedacht. Immer angemessen gekleidet. Sehr adrett und überaus geschmackvoll.«
›Höflich‹ und ›ruhig‹ schienen eindeutig Kriterien zu sein, mit denen man bei Frau Berger punkten konnte. Ach so, ›gediegen‹ natürlich auch. Auf den ersten Blick nichts, das auf Erwin und mich zutreffen würde.
Vermutlich waren wir für sie – rein optisch – auch nicht unbedingt vertrauenswürdig, sinnierte ich. Es sei denn, sie hielt Ringelpulli und Jeans für adrett, was ich stark zu bezweifeln wagte. Aber welche Wahl hatte sie? Sie war auf der Suche nach Hilfe, und wir boten Hilfe an.
Wie lautete der Text von Erwins Anzeige so schön: Sie suchen – ich finde. Sie haben Fragen – ich biete Antworten. Sie wollen Diskretion – ich schweige wie ein Grab. Vielleicht hätte sie niemals angerufen, wenn daneben ein Foto von ihm abgedruckt gewesen wäre. Oder von mir.
Hätte, hätte, Fahrradkette.
Jetzt war sie hier und kam aus der Nummer nicht mehr raus. Und immerhin schienen wir auf sie einen leidlich akzeptablen Eindruck gemacht zu haben, da sie keine Ausreden hervorgezaubert hatte, um sich wieder zu verkrümeln. Die Dame musste wirklich verzweifelt sein.
»Diese Anzeige, die Sie uns mitgebracht haben«, ich deutete auf den Zeitungsausschnitt, der zwischen uns auf dem niedrigen Tisch lag, »äh ... hätten Sie gern, dass wir zur nächsten Person, die sich auf die Anzeige meldet, Kontakt aufnehmen?«
Sie sah mich verdutzt an und schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Sie müssen doch in seine Wohnung, um dort nach Spuren zu suchen, nicht wahr? Und deshalb bin ich ja so froh, dass Herr Schneider in Ihnen eine passende Mitarbeiterin hat.«
Passende Mitarbeiterin? Passend wozu?
Ich verstand kein Wort.
Ehe ich nachfragen oder mich über Erwins wissendes Grinsen wundern konnte, fuhr Frau Berger fort: »Ich dachte, dass Sie sich auf die Anzeige bewerben.«
»Das könnt ihr vergessen, Herrschaften«, blökte ich, während ich mit großen Schritten durchs Büro tigerte. »Ich werde auf keinen Fall als Putze bei diesem Blödmann anheuern, der vielleicht ein brutaler Meuchelmörder ist!«
Frau Berger hatte sich für heute verabschiedet, und nun hielten die Mitarbeiter der Detektei Schneider Kriegsrat.
»Wieso denn?«, fragte Dennis. »Undercover kannst du doch super. Das hast du doch überaus eindrucksvoll bewiesen, als du damals ...«
»Hör bloß auf!«, fiel ich ihm brüsk ins Wort. »Hast du schon vergessen, wie Frank und ich danach ausgesehen haben? Und wie lange es gedauert hat, bis alles verheilt war? Und jetzt wollt ihr mich schutzlos einem Kerl ausliefern, der vielleicht Frauen killt?«
Erwin lachte leise. »Du neigst zu Übertreibungen, meine Liebe. Von Frauen in der Mehrzahl kann keine Rede sein, von Mord ebenfalls nicht. Bisher ist nur eine Frau verschwunden, und das auch nur vielleicht. Frau Berger macht sich Sorgen um ihre Freundin Jutta, von der sie seit drei Wochen nichts gehört und gesehen hat. Deren Gatte gibt an, von Jutta Dengelmann verlassen worden zu sein. Noch haben wir keinerlei Grund, daran zu zweifeln. Andersherum kann Frau Dengelmann Dutzende Gründe haben, ohne ein Wort und spurlos zu verschwinden. Und ihrer Freundin nichts davon zu verraten. Vielleicht hatte sie einfach keine Lust, ihren Plan vor Frau Berger zu rechtfertigen oder zu begründen? Wissen wir, ob die gute Jutta nicht jedes Mal, wenn sie einkaufen war, in ein Internetcafé gehuscht ist und über irgendeine Singlebörse jemanden kennengelernt hat, mit dem sie sich gerade vergnügt?«
Nein, das wussten wir nicht.
Dennoch ...
»Würde das etwa zu dem Bild passen, das Frau Berger von ihrer Freundin gezeichnet hat?«, gab ich zurück. »Wer glaubt denn so was?«
»Du musst dringend an deinen Vorurteilen arbeiten.« Erwin schüttelte amüsiert den Kopf. »Unter so mancher biederen Seidenbluse schlägt ein feuriges Herz. Vielleicht sehnte sie sich seit Jahren nach der Leidenschaft, die ihr Gerhard ihr nicht gegeben hat? Das muss Frau Berger nicht zwangsläufig wissen, Freunde. Für dieses Thema würde ich sie mir auch nicht unbedingt als Gesprächspartnerin aussuchen. Gemeinsam Klassiker lesen und über unerfüllte Träume und Bedürfnisse reden – dazwischen liegen Welten. Kann doch sein, dass Jutta Angst davor hatte, ihre einzige Bezugsperson zu verlieren, wenn sie ein derartiges Thema anschneidet?«
»Pfff. Reichlich spekulativ«, fauchte ich.
»Aber doch auch nicht viel spekulativer als deine Fantasievorstellung vom brutalen Frauenmörder, oder?«, warf Dennis ein, der Erwins und meine leidenschaftlich geführte Diskussion fasziniert verfolgt hatte.
Ich funkelte ihn böse an. »Vielen Dank auch, Chef. Schön, dass du mir in den Rücken fällst. Jetzt sag bloß noch, du bist auch dafür, dass ich mich bei diesem Honk um die Stelle bewerbe. Das könnt ihr vergessen!«
Kapitel 4
Ein echter Teeliebhaber besitzt für jede Sorte eine passende Kanne
(weil der Tee sonst schmollt, wie Loretta vermutet)
»Dengelmann.«
Vor Verblüffung riss ich die Augen auf und ließ beinahe den Hörer fallen. Ich weiß nicht, womit ich gerechnet hatte, aber ganz bestimmt nicht mit dieser warmen, sonoren, schnurrenden Stimme. Dennnngelllmannn – so sprach er es aus, als wäre es ein süßes Versprechen.
Nach Frau Bergers gleichermaßen grellen wie subjektiven Schilderung dieses Herrn, dieses knöchernen, humorlosen Erbsenzählers, hatte ich mir eine schnarrende, trockene und unmodulierte, auf jeden Fall unsympathische Stimme vorgestellt, aber ganz gewiss nicht dieses honigtropfende, sanfte Organ.
Und das hatte mir buchstäblich die Sprache verschlagen.
Vor mir pantomimte Erwin hektisch vor sich hin. Er ließ seine Brauen fragend umherwandern, formte mit den Lippen tonlose Worte und malte Fragezeichen in die Luft. Das Telefon stand auf Lautsprecher, deshalb durfte er keinen Laut von sich geben. Wie ein Derwisch hampelte er vor meiner Nase herum. Herrje – musste er mich noch zusätzlich ablenken?
»Hallo? Wer ist denn da?«, kam es aus dem Hörer.
Ich drehte Erwin den Rücken zu.
Konzentration war gefragt.
»Guten Tag, Herr Dengelmann. Loretta Luchs mein Name. Ich melde mich auf Ihre Anzeige, die heute in der Zeitung stand.«
»Da sind Sie nicht die Erste«, sagte er.
»Das denke ich mir. Aber vielleicht bin ich die Beste«, gab ich keck zurück.
Erwin kam in mein Blickfeld geschossen und tippte sich wie ein Besessener gegen die Stirn. Schon klar, ich hätte nicht so frech sein sollen. Wenn wir Pech hatten, war mein Einsatz als Putzfrau vorbei, bevor er überhaupt begonnen hatte, und ich hatte es verbockt.
Ich flüchtete hinter die Blätterwand, setzte mich an den Schreibtisch und hielt den Atem an.
Und siehe da: Herr Dengelmann nahm es mit Humor.
Er lachte und sagte: »Dann bin ich ja mal gespannt. Ich würde Sie gerne kennenlernen. Am besten heute noch. Wann können Sie hier sein?«
»In einer Stunde.«
Ich fragte nach seiner Adresse – Gott sei Dank dachte ich daran. Nicht nötig, die habe ich schon von Frau Berger. Sie wissen schon: die Frau, die unter Ihnen wohnt und denkt, dass Sie Jutta umgebracht haben. Das genau hätte passieren können, wenn ich mich von Erwin hätte ablenken lassen.
Ich verabschiedete mich von Dengelmann und legte auf.
»Was war denn gerade los mit dir?«, fragte Erwin. Die Pflanzen raschelten, dann schoben zwei Hände die Blätter auseinander, und sein Gesicht erschien. »Stehst da und stierst mit aufgerissenen Augen vor dich hin, sagst keinen Ton … Ich dachte schon, du hast einen Schlaganfall oder so was.«
Ich stellte das Telefon in die Ladestation und kicherte. »Bleib locker, Tarzan. Mich hat nur etwas überrascht.«
»Ach ja? Was denn?«
Flugs kam er um die Blätterwand gehüpft und stierte mich neugierig an.
Was sollte ich ihm sagen? Dass Dengelmanns Stimme mich schier umgehauen hatte? Wie doof hörte sich das denn an? Nun ist es allerdings so, dass ich auf Stimmen reagiere. Jemanden mit einem Organ, das klang wie kreischende Kreide auf einer Schultafel, kann ich auf Dauer nicht in meiner Nähe ertragen, auf keinen Fall. Oder jemanden, der monoton vor sich hin salbadert.
Eine schöne Stimme sprüht vor Leben, weckt Fantasien – wer wüsste das besser als ich? Schließlich verdiente ich damit mein Geld an der Sexhotline, und ich hatte nur meine Stimme, um den Männern ein aufregendes Abenteuer zu verschaffen, für das sie gerne bezahlten.
»Was war denn nun?«, fragte Erwin. »Du bist ja schon wieder so weggetreten. Allmählich wird mir das unheimlich.«
Ich schüttelte den Kopf. »Muss es nicht. Du hast ihn doch selbst gehört.«
»Wen?«
»Dengelmann.«
Er glotzte mich an, als würde ich in einem seltenen Hindi-Dialekt sprechen. Offenkundig wusste er kein Stück, worauf ich hinauswollte. Er schien zu grübeln, ob er vielleicht Wesentliches überhört hatte.
»Seine Stimme«, fügte ich hinzu.
»Wessen Stimme?«
»Dengelmanns.«
Sein Gesicht veränderte sich nicht.
»Jaaaaaa …?«
Meinem lieben Kumpel Erwin ging – offenkundig, die zweite – Dengelmanns Stimme gepflegt am Arsch vorbei, um es mal salopp zu formulieren.
»Er hat die schönste Stimme, die ich jemals gehört habe.«
Um ihm eine Freude zu machen, spendierte ich ihm noch einen theatralischen Seufzer obendrauf.
Seine Miene veränderte sich zu Misstrauen. »Du bist doch nicht etwa besoffen?«
»Sicher, das wird es sein: Ich bin sturzbesoffen. Schließlich beginne ich den Tag immer mit einem Wasserglas Wodka, wie allgemein bekannt ist.«
»Werd mal nicht frech, Frolleinchen. Ernsthaft – es kann doch nicht nur die Stimme gewesen sein. Warum hast du so panne aus der Wäsche geguckt?«
Ich grinste, lehnte mich lässig in seinem Chefsessel zurück und legte die Füße auf seinen Schreibtisch. »Okay, ernsthaft: Seine Stimme hat mich total überrascht. Angenehm überrascht. Frau Bergers Beschreibung hat in mir das Bild eines kleinen, mickrigen Männleins entstehen lassen, und dazu gehörte für mich beinahe schon zwingend eine Stimme, die klingt wie trockenes Laub.«
»Wie?«
»Trockenes Laub. Knisternd, total dröge, ohne Wärme oder Tiefe. Ohne Melodie. Ich war nicht vorbereitet auf diese wunderschöne, warme Stimme.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Okay. Hätten wir also professionell geklärt, dass Dengelmanns Stimme ein echter Schlüpferstürmer ist.«
»Erwin!!!«
»Was denn? Ist doch so, oder etwa nicht? Wenn die Stimme soooo toll ist, quatscht der die Weiber damit bestimmt reihenweise ins Bett. Könnte für den Fall durchaus interessant sein.«
»Wann denn? Der war doch wohl rund um die Uhr damit beschäftigt, seine Jutta zu überwachen.«
»Pfff.« Erwin zuckte mit den Schultern. »Wer das will, schafft das auch. Vielleicht war er ja gar nicht immer in seinem Hobbykeller, sondern unterwegs. Kann man nicht wissen. Es muss doch einen Grund dafür geben, dass er seine Gattin nicht in den Keller gelassen hat.«
»Dafür kann es viele Gründe geben. Vielleicht wollte er einfach nur seine Ruhe haben.« Ich winkte ab. »Alles Weitere ist reine Spekulation. Nein: absolut alles. Wir wissen nur das, was Frau Berger erzählt hat. Offenkundig hasst sie den Kerl, weil er ihr die Freundin weggenommen hat, die jetzt angeblich auch noch verschwunden ist. Sie wäre nicht die erste Verrückte, die jemanden denunziert.«
Erwin musterte mich mit gerunzelter Stirn, dann schüttelte er den Kopf. »Hat er dich also schon einkassiert mit seiner Säuselstimme. Ich frage mich, ob du noch neutral genug bist, um deine Aufgabe zu erfüllen«, spottete er.
»Klar bin ich das!«, rief ich empört. »Wen willst du denn sonst hinschicken – Frank, vielleicht?«
Das sollte er nicht wagen.
Ich war jetzt viel zu neugierig auf Herrn Dengelmann.
Das schmucke Vier-Parteien-Haus mit der hellgelb verputzten Fassade und den ausladenden Erkerfenstern sah aus, als könnte es sich nicht jeder leisten, hier zu wohnen. Schon von außen ließ es auf großzügige Wohneinheiten mit mindestens neunzig Quadratmetern Fläche schließen, und ich wettete mit mir selbst, dass die Erdgeschosswohnungen nach hinten raus schicke Terrassen hatten. In dieses Objekt würde locker die doppelte Anzahl Mietparteien passen.
Ich spähte unauffällig zu den Fenstern auf der linken Seite im ersten Stock, an denen weiße Spitzengardinen in vorbildlichem Faltenwurf hingen, die den Blick ins Innere versperrten. Mann, hoffentlich fing mein Job – wenn ich ihn denn bekam – nicht damit an, dass ich gefühlte achthundert Quadratmeter Gardinen abhängen, waschen und wieder aufhängen musste, so als Probearbeit, um mich zu qualifizieren. Dann konnte ich direkt einpacken.
Die Fenster der Berger ein Stockwerk darunter rahmten schwere Stores prunkvoll ein. Ob sie wohl auf eine Leiter steigen, ein Glas an die Decke pressen und versuchen würde, zu belauschen, was Dengelmann und ich redeten, wenn sie wüsste, dass ich jetzt meine Verabredung mit ihm hatte? Zutrauen würde ich es ihr jedenfalls.
Ich widerstand dem Impuls, meine Jacke glatt zu ziehen und meine Schuhe dezent an den Hosenbeinen zu polieren. Schließlich stand mir hier kein Treffen mit meiner adeligen, potenziellen Schwiegermutter in spe bevor, bei der ich einen einwandfreien Eindruck machen musste. Herrje – es ging bloß um einen blöden Minijob, oder wie das hieß.
Nein. Ging es nicht.
Es ging um einen verdammten Auftrag, und ich musste alles daransetzen, diesen Job zu kriegen.
Ich zog also die Jacke zurecht, wischte zur Sicherheit dann doch lieber die Schuhe hinten an den Hosenbeinen ab, atmete tief durch und wollte gerade auf die Klingel drücken, an der … Ich stoppte gerade noch rechtzeitig, denn, ups, beinahe hätte ich bei Frau Berger geklingelt, weil ich vor einer Minute noch an sie gedacht hatte. Mein Finger wanderte höher bis zu Dengelmann. Ich presste den Knopf.
Wie köstlicher Himbeersirup floss es aus der Gegensprechanlage. »Ja bitte?«
»Guten Tag, Herr Dengelmann«, raunte ich mit meiner tiefsten Stimme, die ich instinktiv gewählt hatte. »Hier ist Loretta Luchs. Wir sind … verabredet.«
Verdammt, ich klang wie auf der Arbeit.
Reiß dich zusammen, Loretta, dich sticht wohl der Hafer, dachte ich erschrocken.
»Frau Luchs. Kommen Sie herein. Erster Stock.«
Okay – dies war ein Hinweis für Halbgescheite. Wo sollte er schon wohnen, in einem zweistöckigen Haus mit zwei Klingelknöpfen auf der linken Seite, und sein Name stand auf der oberen der beiden? Hallo? Hielt er mich für dämlich? Aber was wusste ich schon, welche Erfahrungen er bisher mit seinen Putzkräften gemacht hatte.
Der Summer erklang, und ich drückte die schwere Haustür auf, eine designerische Geschmacklosigkeit aus kupferfarbenem Metall und Riffelglas.
Vom polierten Steinboden des Eingangsbereiches hätte man bedenkenlos essen können, und auf den Stufen lag tatsächlich Teppichboden. Als ich Frau Bergers Wohnungstür passierte, bildete ich mir ein, ihren Blick durch den Türspion hindurch zu spüren.
Dank des Teppichs erklomm ich die Stufen in den ersten Stock hinauf vollkommen lautlos. Oben rührte sich nichts.
Du lässt mich tatsächlich vor verschlossener Tür stehen? Du traust dich was, dachte ich grimmig.
Da wollte mir wohl jemand dezent demonstrieren, wer der Chef im Ring war. Nicht mit mir. Nicht mit Loretta Luchs. Ich hatte doch keine Lust, wie eine Bittstellerin demütig abzuwarten, bis der gnädige Herr endlich geruhte, die Zugbrücke herabzulassen.
Ich wartete also drei Anstandssekunden, dann klopfte ich forsch und rief laut: »Herr Dengelmann? Alles in Ordnung?«
Das konnte ich mir einfach nicht verkneifen.
Schwupps – schon ging die Tür auf, und da stand er: Herr Dengelmann.
»Frau Luchs, nehme ich an«, raunte es mir entgegen.
Ich nickte nur und nahm die mir angebotene Hand, um sie herzlich zu schütteln.
»Wunderbar, wunderbar«, sagte er. »Kommen Sie doch bitte herein.«
Auffordernd streckte er die Arme aus. Nach einem hysterischen Augenblick allerhöchster Irritation begriff ich, dass er mich nicht umarmen wollte. Nein, er war ein Gentleman. Er wartete darauf, dass ich meine Winterjacke auszog, damit er sie mir abnehmen und an die Garderobe hängen konnte.
Nachdem das erledigt war, folgte ich ihm in ein großes Wohnzimmer, das … nun ja … klassisch eingerichtet war. Schwere, behäbige Möbel, orientalisch anmutende Teppiche auf Parkettboden, wenig Nippes, viele Grünpflanzen, bodenlange Gardinen – die hatte ich ja bereits von außen gesehen – und dunkelgrüne Dekostores aus Samt.
»Ich habe Tee gemacht. Sie nehmen doch eine Tasse?«, fragte er.
Als ich nickte, ging er zu einem bereitstehenden Servierwagen, auf dem schon alles Notwendige hergerichtet war: schwarze, flache Metallkanne auf schwarzem Metallstövchen sowie zwei dazu passende henkellose Becher. Hatte er mich vielleicht an der Tür warten lassen, weil er gerade den Tee frisch aufgegossen hatte?
»Aber setzen Sie sich doch«, fügte er hinzu, weil ich etwas verloren in seiner guten Stube herumstand.
Ich wählte einen der monumentalen Sessel, in den ich einsank wie ins Bällebad in einem Kinderspielparadies. Während er das Teesieb aus der Kanne nahm und einschenkte, hatte ich Muße, ihn ausgiebig zu betrachten.
Auf den ersten flüchtigen Blick war Gerhard Dengelmann von durchschnittlicher Größe, durchschnittlichem Gewicht und durchschnittlichem Aussehen. Sein konservativ geschnittenes Haar war bereits ergraut – in diesem attraktiven Grauton, mit dem nur Schwarzhaarige gesegnet sind. Die randlose Brille, das kleinkarierte Hemd und die Cordhose waren optisch von bestürzender Tristesse.
Bei genauerem Hinsehen allerdings …
Vor meinem geistigen Auge vollzog ich an ihm eine wundersame Wandlung: Nacken ausrasieren und Gel ins Haar, ein paar verwegene Bartstoppeln, verwaschene Jeans und schwarzer Strickpulli, schwere Boots: tadaaah – George Clooneys etwas älterer Bruder.
Und wer konnte schon sagen, ob George Clooney auch dann so ein heißer Feger wäre, wenn er als Beamter in einer Behörde arbeiten und in stilechtem Gelsenkirchener Barock wohnen würde? Na bitte.
Aber man stelle sich nur vor, wenn diese wunderbare Stimme aus einem von mir runderneuerten Herrn Dengelmann käme … die Frauen würden ihm reihenweise zu Füßen sinken. Auch für mich selbst könnte ich in diesem Fall nicht mehr die Hand ins Feuer legen, um ehrlich zu sein. Ob er sich bewusst war, über welches Potenzial er verfügte?
Er stellte Zucker und Milch in dekorativen Gefäßen und eine dunkle Holzschale mit Plätzchen auf den selbstverständlich gekachelten Couchtisch, zu dem das japanisch anmutende Teegeschirr aus schwarzem, reich verziertem Metall einen krassen Gegensatz bildete. In diesem ansonsten so konservativen Ambiente hätte ich eher etwas aus weißem Porzellan mit Streublümchen erwartet.
Dann holte er die beiden Teebecher und setzte sich in den Sessel, der dem meinen gegenüberstand. Um an meine Tasse zu kommen, musste ich mich zunächst mühsam aus dem tiefen Polster hochstemmen, was vermutlich reichlich ungraziös aussah. Ich kam mir vor wie ein Käfer, der auf dem Rücken lag und hilflos mit den Beinen strampelte.
Herr Dengelmann, der an seinem Tee nippte und mich über den Tassenrand hinweg musterte, verzog angesichts meiner Mühen keine Miene, was ich ihm hoch anrechnete.
Irgendwann hatte ich es geschafft und blieb vorsichtshalber auf der vorderen Sesselkante sitzen, während ich ein wenig Zucker in meinen Becher gab, dessen Untersetzer ebenfalls aus Metall und wie ein Blatt geformt war. Um das Schweigen zu brechen, trank ich einen Schluck und sagte: »Hmm. Der ist ungewöhnlich. Aber sehr lecker.«
Er lächelte und zeigte ebenmäßige Zähne. »Finden Sie? Das freut mich. Den meisten ist er zu kräftig.«
»Och. Ich habe Freunde an der Nordsee. Ostfriesentee haut den stärksten Mann vom Hocker. Um ihn genießbar zu machen, kommt ein Brocken Kandis rein, der beinahe die komplette Tasse ausfüllt.«
»Aber das ostfriesische ist ein schönes Tee-Ritual«, erwiderte er. »Tee, der nicht umgerührt werden darf … Der Kandis, der nach und nach knisternd schmilzt und für mindestens drei Portionen Tee reicht … Das Sahnewölkchen, das sich langsam verteilt … beinahe schon meditativ. Ich mag das wirklich sehr.«
Sieh an, dachte ich, Herr Dengelmann steht auf Rituale.
Ich hob die Tasse. »Und welche Sorte ist dieser hier?«
»Assam Jamguri Golden Blossom.«
Hui. Das klang aber exotisch.
»Von dem hab ich noch nie gehört. Und definitiv habe ich ihn noch nie zuvor gekostet.«
Er nickte, als hätte er sich das ohnehin gedacht. »Eine kostbare, sehr rare Sorte aus dem Assam-Jamguri-Teegarten, der in der östlichen Hochebene Assams im Golaghat-Distrikt liegt. In Indien. Für eine optimale Versorgung mit Nährstoffen wird die Rinde der hundert Jahre alten Büsche mit einer Kräuterpaste behandelt.«
Zuerst dachte ich, er will mich verhohnepipeln. Ich finde bereits die Vorstellung verrückt, dass Kobe-Rinder angeblich mit Bier gemästet, mit Schnaps geduscht und täglich massiert werden, um die Fleischqualität zu erhöhen. Aber Büsche, deren Äste mit Kräuterpaste eingerieben werden? Wow.