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Ich blickte Doris flehend an, und sie grinste.
»Alles zu seiner Zeit. Jetzt wird erst mal ordentlich gefrühstückt.«
Mit allzu vollem Magen lässt es sich nicht unbedingt leicht putzen, wie ich dann rasch feststellen musste, als es schließlich losging. Erwin hatte nicht zu viel versprochen: Doris präsentierte mir Schwämme und Lappen in so ziemlich jeder Farbe des Regenbogens, die sämtlich eine ganz bestimmte Aufgabe und natürlich im Bad einen eigenen Schrank hatten.
»Fangen wir hiermit an«, dozierte sie und deutete auf diverse Schwämme beziehungsweise Lappen im Farbspektrum zwischen Grün und Blau, »im Bad ist die Hygiene ganz besonders wichtig. Ich halte es so: Dunkelgrün: Toilette, und zwar ausschließlich die Toilette – von außen, versteht sich. Hellgrün: Waschbecken und Wanne. Hellblau: Spiegel und Armaturen. Dunkelblau: Fliesen.«
»Warum ausgerechnet diese Farben?«, fragte ich.
»Irgendwelche musste ich ja nehmen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Irgendwie gehören die farblich ja auch zusammen. Und wenn du über Jahrzehnte mit diesem System arbeitest, denkst du überhaupt nicht mehr darüber nach. Stell dir vor, du hättest kein System dafür. Dann stehst du da und weißt nicht mehr, mit welchem Lappen du die Pipispritzer weggewischt hast, und putzt damit das Waschbecken. Schon hast du die Keime verbreitet. Und der Nächste, der das Bad benutzt, stützt sich am Waschbeckenrand ab und wischt sich dann mit den verkeimten Händen über den Mund …«
»Hör auf!«, kreischte ich angeekelt. »Das ist ja widerlich! Gerade noch dachte ich, du übertreibst mit deiner merkwürdigen Regenbogenkollektion aus Putzlappen, aber so …«
Sie nickte. »Siehste. Natürlich koche ich die Lappen zusätzlich regelmäßig aus. Und ich putze grundsätzlich mit Handschuhen. Wenn du keine Gummihandschuhe magst: Diese Einwegdinger eignen sich hervorragend, und zwar aus zwei Gründen. Erstens bleiben deine Hände sauber und ebenfalls keimfrei. Denn vergiss nicht: Wenn du einen verkeimten Schwamm in der Hand hattest und dann in dein Gesicht … «
»Schon gut! Ich habe verstanden!«, keifte ich und stöhnte. »Und zweitens?«
»Deine Haut quillt nicht so auf. Außerdem sind manche Putzmittel ziemlich aggressiv, und falls du empfindlich bist, empfehlen sich Handschuhe ohnehin als Schutz. Dein Herr Dengelmann macht mir den Eindruck, als müsstest du dort schwere Geschütze auffahren. Also Mittel benutzen, die schön ätzend nach Säure stinken. Die riechen, als könnte man damit auch Wälder entlauben.«
»Großer Gott, das klingt ja gruselig. Sind die gefährlich?«, wisperte ich eingeschüchtert.
»Na ja, du solltest sie vielleicht nicht unbedingt trinken, manche enthalten tatsächlich Salzsäure. Oder zu viel davon in einem kleinen, ungelüfteten Raum benutzen. Dann kann dir von den aufsteigenden Dämpfen durchaus schwummerig werden.«
Himmel – worauf hatte ich mich da eingelassen? Dengelmann machte mir keine Angst, aber ich begann, die Putzmittel zu fürchten, die man offensichtlich auch als Chemiewaffen einsetzen konnte.
Wir verließen das Bad und begaben uns zu meinem ersten Praxistest. Ich bekam von Doris die Aufgabe, das Küchenfenster zu putzen. Tapfer machte ich mich ans Werk und sah schon an ihrem kritischen Blick, dass ich mich dabei nicht gerade mit Ruhm bekleckerte. Ich mühte mich redlich ab, aber als wir das Fenster schlossen, präsentierte die unbarmherzige, tiefstehende Novembersonne ein hübsches Muster aus Putzstreifen.
Damit würde ich bei Dengelmann niemals durchkommen, und auch Doris runzelte die Stirn.
»Guck mir zu«, sagte sie, öffnete das Fenster wieder und griff zu einem Schwamm. Rasch wischte sie über die Scheibe, während sie dozierte: »Ein streifenfreies Fenster ist eigentlich keine Zauberei. Wichtig ist, dass du in der richtigen Reihenfolge und vor allem zügig arbeitest. Du nimmst zunächst einen Schwamm und seifst erst die Scheibe, dann den Rahmen ein. Am besten dafür geeignet ist ein leicht fettlösliches Mittel; ein Spritzer Spülmittel im Wasser tut es auch.«
»Und was ist mit Glasreinigungsspray?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf, warf den Schwamm zurück in den Eimer mit Putzwasser und griff zu einem lederartigen Lappen. »Um mal eben einen Spiegel zu reinigen – okay. Aber nicht für verschmutzte Fenster. Diese Sprays verursachen Streifen eher, als dass sie welche verhindern würden.« Wieder machte sie sich über die Scheibe her. »Okay, weiter. Nach dem ersten Schritt trocknest du das Glas und die Innenseiten des Rahmens mit einem Kunstlederlappen wie diesem hier; die Scheibe muss aber leicht feucht bleiben.« Sie legte den Lappen beiseite und nahm ein weiches Tuch zur Hand. »Dann geht es mit einem Mikrofasertuch oder einem Abzieher weiter. Für Ungeübte ist die Arbeit mit einem Abzieher nicht ganz einfach, aber das können wir trainieren, wenn du willst.«
Wollte ich das? Ich war mir nicht sicher.
Aber ich musste wohl.
»Auf jeden Fall muss ich mir gleich noch alles aufschreiben, was du hier erzählst«, sagte ich. »Das lese ich mir dann heute Abend noch einmal durch.«
Kichernd trocknete sie die Scheibe mit energischen Schwüngen des Lappens. »Die Streifen entstehen, wenn du zu langsam bist, verstehst du? Zur Sicherheit kannst du mit einem zweiten, trockenen Tuch noch einmal hinterhergehen. Wichtig ist aber, dass das Tuch noch nie gewaschen wurde, denn danach kann es auf dem Fenster Fusseln hinterlassen.«
»Na toll. Und wie viele von diesen Lappen gehen dabei drauf, bis du alle Fenster durchhast? Jedes Mal ein fabrikneuer, trockener Lappen? Scheint mir vom Wareneinsatz her reichlich übertrieben.«
»Und genau deshalb kannst du dafür auch das gute, alte Zeitungspapier nehmen. Wie gesagt: Wichtig ist, dass du die Schritte vor dem Polieren in der richtigen Reihenfolge und zügig erledigst. Noch ein Tipp: Wenn dir beim Blumengießen Wassertropfen auf die Scheibe geraten, mach sie sofort weg. Das kann üble Kalkflecken geben. Apropos Kalkflecken …«
Sie ging zurück ins Band, und ich trottete brav hinterher.
»Ich habe extra gestern nicht die Armaturen geputzt«, sagte sie und öffnete erneut den Lappenschrank, in dem auch die diversen Putzmittel aufbewahrt wurden. »Das wirst du jetzt erledigen. Nur zu.«
Zögernd griff ich nach dem hellgrünen Lappen, aber sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. Aha – falsch. Huch, das war doch wohl nicht der Pipilappen? Was hatte sie noch gesagt, welche Farbe für die Armaturen reserviert war? Ich grübelte, dann fiel es mir ein: Hellblau. Ich holte den Lappen heraus und sah sie abwartend an.
Doris nickte. »Sehr gut. Hellblau ist richtig. Jetzt weiter: Welches Mittel benutzt du?«
Die Flaschenbatterie war beeindruckend, die Etiketten schwungvoll und grellfarben beschriftet. Ich deutete auf eine Sprühflasche, und Doris hob die Hand.
»Falsch. Zu aggressiv. Dieses Mittel enthält Chlorbleichlauge. Wenn du ein Spray benutzt, dann darfst du es nicht direkt auf die Armatur sprühen.«
»Warum nicht? Wie soll ich es denn sonst machen?«
»Du sprühst es auf den Lappen, den du benutzt, ganz einfach. Der Grund dafür ist, dass der feine Sprühnebel in die Ritzen und Öffnungen der Armatur gelangen und dort großen Schaden anrichten könnte.«
Darauf wäre ich nun wirklich in tausend kalten Wintern nicht gekommen. Meine Billig-Armatur zu Hause schien da nicht so empfindlich zu sein: Ich benutzte so ein Sprühzeugs, das ich gerne stundenlang einwirken ließ – beziehungsweise nach dem Aufsprühen vergaß und mich dann später wunderte, was zum Henker da an meinem Wasserhahn klebte.
Sie reichte mir eine Flasche, auf deren Etikett was von ›Power‹ und von ›multi-aktiv‹ stand. »Das Allerbeste ist sowieso, die Armaturen nach jedem Benutzen kurz mit einem weichen Lappen zu trocknen, dann können die Wassertropfen erst gar keine Kalkablagerungen bilden.«
»Man kann auch übertreiben«, murmelte ich und sprühte ein wenig von dem antiseptisch riechenden Zeug auf meinen Lappen. »Ich sehe hier keine Ablagerungen, aber das nur nebenbei.«
Doris grinste. »Natürlich nicht. Ich mache das schließlich regelmäßig. Und bei Herrn Dengelmann wird es ähnlich sein, wenn seine Frau jahrelang dafür gesorgt hat. Aber es geht auch nicht darum, dass du schmutztechnisch herausgefordert sein wirst. Du sollst ja nicht ein Haus wieder bewohnbar machen, in dem jahrelang Messies gehaust haben und in dem überall zentimeterdicker Siff klebt. Du willst den hohen Standard in einer gepflegten Wohnung erhalten, Loretta. Und zwar unter den Augen eines überaus kritischen Auftraggebers, aber das dürfte locker zu schaffen sein. Und jetzt ab an die Armaturen, Frollein.«
Tatsächlich erledigte ich die Aufgabe zu ihrer vollsten Zufriedenheit, und ich freute mich wie eine Grundschülerin, die zum allerersten Mal ein fehlerfreies Diktat geschrieben hatte.
Weiter ging es von Raum zu Raum, und ich erhielt von ihr fabulöse Tipps zur fachgerechten Pflege und Reinigung von Fußböden, Lichtschaltern und empfindlichen Oberflächen aus Holz.
Den Außenbereich schenkten wir uns, denn ich ging nicht davon aus, dass ich bis zur Eröffnung der nächsten Balkonsaison im Frühjahr bei Dengelmann beschäftigt sein würde. Aber ich war sicher, dass ich von Doris auch alles über die Reinigung von Verandamöbeln und Steinfliesen sowie darüber erfahren könnte, wie man lästige Moosbildung verhinderte.
Nun, beim nächsten Mal vielleicht.
»Mir schwirrt der Kopf«, sagte ich schließlich, »da passt nix mehr rein.«
Mütterlich tätschelte sie mir den Arm. »Ich mach uns jetzt erst mal ein Käffchen und ein lecker Bütterken. Und danach schreiben wir dir alles auf.«
»Hier, Jungs: Das ist das Ergebnis der heutigen Unterrichtseinheit bei Doris«, sagte ich und knallte meine persönliche Putzbibel auf den Tisch im Detektivbüro.
Dennis schnappte sich das Schulheft und blätterte es sichtlich beeindruckt durch. »Nicht schlecht. Und damit willst du Gerhard Dengelmann aus den Klotschen hauen, nehme ich mal an.«
Ich holte mir ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank und ließ mich in einen Sessel fallen. »Mir reicht schon, wenn er mich nicht gleich wieder entlässt, weil ich für seinen ollen Kacheltisch in seinem blöden Wohnzimmer das falsche Mittel benutzt und das potthässliche Ding ruiniert habe.«
»Schönen Gruß von Frau Berger«, sagte Erwin und setzte sich zu mir. »Sie ist begeistert, dass es mit dem Job bei Dengelmann geklappt hat. Sie hat dich gestern gesehen, als du den Termin mit ihm hattest.«
Natürlich hatte sie das – schließlich hatte ich ihren neugierigen Blick durch den Türspion beinahe körperlich gespürt. Sollte sie, mich störte es nicht weiter.
»Hatte sie noch irgendwelche Informationen zu bieten, die für mich relevant sein könnten?«, fragte ich.
Erwin schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist noch immer felsenfest davon überzeugt, dass ihre Freundin Jutta nicht freiwillig verschwunden ist.«
»Und wenn sie eine total verrückte Spinnerin ist, die sich einfach dadurch ein wenig Würze in ihr ödes Leben holt, dass sie ihren Nachbarn durch uns ausspionieren lässt?« Ich zuckte mit den Achseln. »Könnte doch sein, oder?«
»Alles Mögliche könnte sein«, erwiderte Erwin. »Das wissen wir doch.«
Wie recht er hatte. Vor allem könnte es sein, dass ich morgen bei meiner ersten Putzschicht nichts mehr von dem wusste, was Doris mir erzählt hatte. Also war es Zeit, nach Hause zu gehen und den Unterrichtsinhalt noch einmal sorgfältig durchzugehen. Das Gehörte nur aufzuschreiben und dann nicht mehr ins Heft zu gucken, brachte nichts, das wusste ich schließlich noch aus der Schule.
Weil ich noch ein so großes Lernpensum vor mir hatte, belohnte ich mich schon im Voraus mit einem Döner, was Baghira in einen wahren Freudentaumel versetzte. Tatsächlich schaffte er es sogar, mich beim Fressen seines Abendhappis nicht aus den Augen zu lassen: Er saß dabei neben seinem Schüsselchen, fixierte mich am Esstisch und angelte, ohne hinzusehen, mit der Kralle einzelne Stückchen aus seinem Fressen, die er sich dann geziert mit den Zähnen von der Pfote pickte. Doch, wirklich, das tat er – ich konnte es selbst kaum glauben.
Aus purer Gemeinheit ließ ich ihn noch ein wenig zappeln und gab vor, seine aufgeregte Ungeduld zu meinen Füßen nicht zu bemerken. Erst als er sich hochkant stellte, seine Vorderkrallen in meinen Oberschenkel grub und mich laut anschrie, knüllte ich die Alufolie, in die der Döner eingewickelt gewesen war, zu einem festen Ball zusammen und warf ihn durch die Küchentür hinaus in den Wohnungsflur. Blitzartig verwandelte sich mein sonst überaus träger Kater in ein pfeilschnelles Wesen, das plötzlich sechzehn Beine zu haben schien und den Ball mit der Virtuosität eines Fußballweltmeisters durch die Wohnung dribbelte.
Ich lauschte dem sich entfernenden Getöse einige Minuten lang, dann schlug ich mit einem Seufzen das Heft auf. Ich hatte mit mir selbst abgemacht, die honigtriefenden Baklava-Teilchen erst anzurühren, wenn ich mein Pensum mindestens einmal durchgearbeitet und einen kleinen Test geschrieben hatte.
Kapitel 7
Loretta weiß zu überzeugen, ohne ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen zu müssen – jedenfalls noch nicht …
Als ich am nächsten Morgen bei Dengelmann klingelte, war ich um ein Vielfaches aufgeregter als bei unserer ersten Begegnung. Immerhin war das jetzt der Auftritt vor dem denkbar strengsten Prüfer.
Tatsächlich hatte ich mir am gestrigen Abend noch Aufgaben wie Was darf man auf keinen Fall mit Armaturen machen? (kratzige Schwämme benutzen) oder Wie wird ein Parkettboden gereinigt? (nur leicht feucht, sonst quillt das Holz auf) gestellt und diese schriftlich beantwortet. Ja, ich hatte mich sogar noch im Internet informiert, wie man kleine Schäden und Kratzer am Holz selbst ausbessern kann. Überhaupt hatte ich mir eine Menge zusätzliches Wissen über echte Parkettböden draufgeschafft, mit dem ich Gerhard Dengelmann zu beeindrucken gedachte.
Der Türsummer ertönte, und ich trat ein.
Wie zufällig lungerte Frau Berger an ihrem Briefkasten herum. Ehrlich gesagt überraschte es mich nicht sonderlich, sie im Hausflur anzutreffen. Sie gab vor, nach ihrer Post zu sehen.
Na klar – um acht Uhr morgens.
»Guten Morgen«, sagte ich unverbindlich freundlich und strebte eilig an ihr vorbei.
»Guten Morgen«, erwiderte sie, dann hörte ich hinter mir, wie sich ihre Wohnungstür schloss.
Dengelmann stand diesmal bereits im Türrahmen und bat mich herein.
Nach einer knappen Begrüßung sagte er: »War das da unten die Berger? Hat die Frau Sie angesprochen?«
Obacht, Loretta, dachte ich.
Ich zog meine Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. »Ja, da unten war eine Frau. Heißt sie Berger? Ich hatte den Eindruck, sie holt ihre Post aus dem Briefkasten. Ich hab sie natürlich gegrüßt, wie es sich gehört. Es soll Ihnen niemand nachsagen können, Sie würden Leute beschäftigen, die keine zivilisierten Umgangsformen haben.«
Er schien mir gar nicht zuzuhören, sondern stierte mit gerunzelter Stirn ins Ungefähre, schnaubte leise und murmelte dann: »Als wäre der Postbote morgens um acht schon durch. Der kommt nie vor zehn, das weiß sie so gut wie ich.«
»Sollte ich irgendetwas über diese Frau Berger wissen, Herr Dengelmann? Weil Sie mich doch fragten, ob sie mich angesprochen hat?«
Er schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf. »Nein. Sie ist einfach etwas geschwätzig und stiehlt Ihnen die Zeit, wenn Sie nicht aufpassen. Sobald Sie stehen bleiben und sich mit ihr auf ein Gespräch einlassen, haben Sie verloren. Also seien Sie möglichst nicht zu freundlich zu ihr. Höflich – okay. Freundlichkeit missversteht sie schnell als Interesse an ihrer Person.« Er biss sich auf die Unterlippe, als hätte er mir zu viel verraten. Dann deutete er auf meine klobigen Schuhe. »Wollen Sie die anbehalten?«
Ich schüttelte den Kopf und griff nach meiner Stofftasche, die ich neben meine Jacke an die Garderobe gehängt hatte. Wohlweislich hatte ich den Bereich der Schmutzfangmatte noch nicht verlassen.
»Natürlich nicht, ich habe andere Schuhe dabei. Wenn Sie es wünschen, ziehe ich meine Straßenschuhe zukünftig bereits im Hausflur aus.«
Ich sah seinem Gesicht an, dass ich einen Punkt gemacht hatte, und reckte innerlich triumphierend die Faust gen Himmel. Wunderbar, das fing gut an.
»Darf ich mir jetzt Ihre Putzutensilien ansehen?«, fragte ich, nachdem ich die Schuhe gewechselt hatte.
»Die bewahren w…, die bewahre ich im Hauswirtschaftsraum auf«, erwiderte er und führte mich zu einem kleinen Raum, der von der Küche abging.
Eigentlich war es eher ein begehbarer Schrank, der allerdings eine Menge Platz für Putzkram und Vorräte bot. An einer Hakenleiste hingen Besen, Schrubber, Wischmopp, mehrere Handfeger und Kehrschaufeln, darunter standen ein großer Staubsauger sowie drei Eimer, in denen sich benutzte Lappen und Aufnehmer befanden. In einem Regal entdeckte ich diverse Flaschen mit Putzmitteln, die im Wesentlichen mit denen bei Doris übereinstimmten.
Ich befand mich also auf relativ sicherem Terrain.
Das Lappen- und Schwämme-Angebot ließ allerdings sehr zu wünschen übrig. Es gab eine Plastikkiste mit angebrochenen Billig-Zehnerpackungen, wie man sie beim Discounter bekam. Nix Regenbogen.
Aber dazu würde ich ihm später etwas erzählen.
»Sie haben Parkett im Rest der Wohnung, wenn ich mich recht erinnere«, sagte ich, als ich meine Bestandsaufnahme beendet hatte.
Er nickte, und wir gingen hinüber ins Wohnzimmer.
Ich kniete mich hin und fuhr mit der flachen Hand prüfend über den Boden. »Wie viel Millimeter Nutzschicht hat das Parkett?«
Seine Brauen schossen hoch wie eine Saturnrakete beim Lift-off von der Startrampe. »Nun ... äh ... ursprünglich mal vier, mittlerweile nur noch drei.«
Ich nickte wissend. »Also haben Sie es bereits zwei Mal abschleifen lassen.«
Zu den hochgeschossenen Brauen gesellte sich eine heruntergeklappte Kinnlade. Er brauchte einen Moment, um sich wieder zu fassen. »Das … das ist richtig. Woher wissen Sie das?«
Ich sah zu ihm hoch und lächelte. »Ich habe Ihnen doch bereits bei unserem ersten Telefonat gesagt, dass ich die Beste bin, nicht wahr? Alles, was ich mache, nehme ich sehr ernst. Egal, ob ich putze oder einen Text lektoriere. Fundiertes Hintergrundwissen ist von eminenter Wichtigkeit. Wie wurde der Boden bisher gepflegt?«
»Mit der weichen Teppichbürste des Staubsaugers, soweit ich weiß.«
Genau, und zwar jeden Tag um Punkt neun von deiner Jutta, die dafür seit einigen Wochen leider nicht mehr zur Verfügung steht, dachte ich.
»Wissen Sie, ich selbst bin leider kein richtiger Experte«, fügte er hinzu, »das hat immer meine F…, meine bisherige Putzhilfe gemacht.«
»Lassen Sie mich raten: Ihre langjährige Putzfee ist in Rente gegangen, und bisher haben Sie niemanden gefunden, der ihr ebenbürtig wäre.«
Hui, ich musste aufpassen – schließlich wusste ich offiziell nichts von den vier gescheiterten Versuchen während der letzten drei Wochen.
Er seufzte. »Das trifft es ziemlich genau. Meine bisherige Hilfe steht leider nicht mehr zur Verfügung, und jetzt bin ich händeringend auf der Suche. Das ist deutlich komplizierter, als ich erwartet hätte. Die Damen arbeiteten entweder nur oberflächlich oder schreckten vor dem Aufwand zurück. Stellen Sie sich nur vor – eine junge Frau fragte mich doch tatsächlich, was sie hier putzen solle, es sei doch alles sauber!«
Tja, da hatte wohl jemand aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht.
»Wie bitte? Sie machen Scherze!«, rief ich angemessen fassungslos aus, gleichzeitig mühsam um Beherrschung meiner Gesichtszüge ringend. Schnell wandte ich mich ab und fuhr noch einmal mit der Hand über den Boden.
»Hm … ich spüre einige kleine Unebenheit und Kratzer«, konstatierte ich fachmännisch und stand auf. »Die könnte ich selbstverständlich ausbessern, wenn Sie es wünschen. Es gibt da sehr gute Reparatursets, mit denen ich beste Erfahrungen gemacht habe.«
Er musterte mich nachdenklich. »Halten Sie das für nötig? Ich überlasse Ihnen die Entscheidung.«
Das wurde ja immer besser!
Ich hatte es durch mein holterdipolter angelerntes Halbwissen, gepaart mit pseudokompetenter Klugscheißerei, tatsächlich geschafft, die Rollen umzukehren: Plötzlich war ich der Chef im Ring – und nicht länger die kleine Putze, die sich erst mal beweisen musste, während sie auf Knien vor ihm herumrutschte und ihr der Angstschweiß in Strömen von der Stirn perlte.
»Also, ich finde ja, dass bei einem Echtholzboden nicht jede winzige Unperfektheit ausgemerzt werden muss. Ganz im Gegenteil: Sie wirken wie eine Patina und verleihen dem ganzen Raum Natürlichkeit und Charakter. Heutzutage gelten auffällige Maserungen und sogar Astlöcher als schick – was früher undenkbar gewesen wäre. Wissen Sie, ich vergleiche einen schönen Parkettboden gerne mit der Haut eines Menschen: Auch er wird mit den Jahren reifer und benötigt ständige, liebevolle Pflege.«
Das mit der Haut hatte ich mitten in der Nacht irgendwo im Internet gelesen und es – ehrlich gesagt – ziemlich albern gefunden. Jetzt und hier war es die finale Bemerkung, um ihn endgültig zu beeindrucken.
Aber ich war ja noch längst nicht fertig …
»Darf ich Ihnen mein ganz persönliches Putzsystem erklären, Herr Dengelmann?«, fragte ich, als wir wieder in der blitzsauberen Küche standen. Ohne eine entsprechende Aufforderung abzuwarten, setzte ich mich an den Tisch, und er fragte prompt reflexartig, ob er mir etwas zu trinken anbieten könne.
»Ein Glas Wasser wäre nett«, sagte ich bescheiden, und er stürzte beflissen zum Kühlschrank, um den Wunsch seiner neuen Putzgöttin zu erfüllen.
Allmählich keimte in mir Verständnis dafür auf, warum Uschi, die putzende Hausfrau, an der Sexhotline einer der beliebtesten Charaktere war. Abgesehen davon, dass sie halb nackt zu putzen pflegte, schien eine bestimmte Art von Männern schon allein darauf abzufahren, wenn man ihnen das heimische Nest hübsch proper hielt.
Aber warum war das so? Paarte sich dabei die Erinnerung an die geliebte, fürsorgliche Mutter mit dem Wunsch nach Dominanz, da Putzen ja immerhin eine dienende Tätigkeit war?
Mein Glas stellte er natürlich auf einen Untersetzer, bevor er sich mit gegenüber an den Tisch setzte. »Sie wollten mir etwas über Ihr Putzsystem erzählen, Frau Luchs«, sagte er, »ich bin sehr gespannt.«
Das glaubte ich ihm aufs Wort. Meine Kompetenz in Sachen Parkettböden hatte ihn umgehauen.
Ich trank einen Schluck Wasser und stürzte mich dann in einen Vortrag über den Sinn unterschiedlicher Lappenfarben für verschiedene Hygiene-Krisenherde, gespickt mit Informationen über Putzmittel und deren Vor- und Nachteile. Gewürzt wurde mein kleiner Monolog durch vermeintliches Insiderwissen über Sinn und Unsinn diverser Hausmittel.
Er unterbrach mich kein einziges Mal, sondern hing sichtlich fasziniert an meinen Lippen. Als ich schließlich geendet hatte und ihn abwartend ansah, schien er aus tiefer Trance zu erwachen.
»Kaufen Sie alles, was Sie benötigen«, sagte er wie betäubt. »Ich gebe Ihnen gern Geld mit.«
Ich winkte lässig ab. »Das ist nicht nötig. Ich bringe die Quittungen mit, und Sie geben mir dann das Geld.«
»Selbstverständlich, selbstverständlich. Ich … wir müssen noch administrative Dinge … ich brauche Ihre persönlichen Daten, um Sie anzumelden. Ich hole rasch etwas zu schreiben aus dem Arbeitszimmer.«
Er ging aus der Küche, und ich folgte ihm einige Sekunden später auf den leisen Sohlen meiner Turnschuhe bis zu Tür. Ich hatte die Hoffnung, einen Blick in sein geheimnisvolles Arbeitszimmer werfen zu können. Das klappte tatsächlich, war aber unspektakulär: Ich sah lediglich einen Schreibtisch, auf dem ein aufgeklappter Laptop mit dunklem Monitor stand – und Dengelmann von hinten, der etwas aus einer Schreibtischschublade holte.
Als er zurückkam, saß ich längst wieder brav auf meinem Stühlchen und nippte geziert an meinem Mineralwasser. Er fragte meine Daten ab, die er sorgfältig notierte.
Dann blickte er auf seine Armbanduhr. »Was halten Sie davon, wenn Sie die Sachen sofort einkaufen und beim nächsten Mal mitbringen? Passt Ihnen Freitag?«
»Einverstanden. Uhrzeit wie heute?«