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Die Kirche steht also nicht nur Entwicklungen gegenüber, sie steht auch selbst, ebenfalls suchend nach Sinn und Ausrichtung, mitten in diesen Prozessen. Und sie weiß das. Sie hat sich im Zweiten Vatikanum, die gesellschaftlichen Veränderungen positiv aufgreifend, bewusst als »Volk Gottes« verstanden – mit einem biblischen Begriff, der das bis dahin bevorzugte biblische Bildwort »Leib Christi« weitestgehend ablöste. Es ist ja durchaus so, dass uns durch »Zeichen der Zeit« sehr oft erst die Augen geöffnet werden für das, was Gott uns heute jeweils durch die Schrift aktuell sagen will. »Volk Gottes« also werden wir genannt – nicht mehr im Sinne eines Volkes, das seiner Leitung (den Häuptern sozusagen) gegenübersteht, sondern als ein Volk, zu dem auch die Glieder der Leitung grundsätzlich gleich in gemeinsamer Berufung gehören. »Volk Gottes« wird der »Grundlagenbegriff der Kirche … Das gilt für alle in der Kirche und alle haben grundsätzlich gleichen Anteil an diesem Volk.« Doch indem sie so die Gesetze ihres eigenen Lebens neu entdeckt, hat die Kirche zwar die Deutlichkeit der Konzilsworte und ist doch wiederum suchend und »weiß doch nicht, welche Ausrichtung« sie nun diesem ihrem Leben »geben soll.« Sie musste und muss die ganze Mühe und Länge der Nachkonzilszeit durchwandern und vermag immer noch nicht in allen ihren Lagern Freude zu finden an der Aufwertung des Menschen- und des Christenwertes, die durch das Zweite Vatikanum geschehen ist. Sonst müsste nicht ein Buch wie dieses geschrieben werden als ein Plädoyer für diese Freude.9
Die Frage nun nach der Christenwürde, der ich auf diesen Seiten nachgehe, bezieht sich naturgemäß zunächst auf den Raum des Christentums, den Raum der christlichen Kirchen, speziell auf den der römisch-katholischen Kirche. Doch die Würde, die Menschen in einem bestimmten Bereich, z.B. hier in Religionsgemeinschaften, gewinnen, hat Bedeutung für die wachsende Gewinnung der Menschenwürde und ihre Sicherung überhaupt. Beide haben einander etwas zu geben. Die Menschenwürde nimmt die Christenwürde unter ihren Mantel und umgekehrt: Die Erkenntnis unserer Würde als Christen durch Jesus – unsere Jesus-Würde – macht uns zugleich sensibel für unsere Würde als Menschen und für die allzu oft »anonyme«, ja oft sogar entwürdigte Würde aller Menschen in und mit ihm.
»Eine neue Gesellschaft«, so das Zitat von Basil Hume, mit dem ich dieses Kapitel begonnen habe, »ist zu errichten für das Menschengeschlecht, dem eine neue Würde und eine neue Zukunft geschenkt wurde, als der Sohn Gottes in Maria Mensch wurde und für die Sünden seines Volkes starb«. Nicht weniger als eine »neue Gesellschaft« ist angemessen, dieses Geschenk an das Menschengeschlecht, diesem zugute, aufzunehmen! Eine neue Gesellschaft, mag sie auch »nicht größer (sein) als ein Senfkorn und doch so kraftvoll und wirksam wie ein Sauerteig«. Und daran soll man sie erkennen: In ihr »behauptet jeder Mensch seinen unantastbaren Wert und seine Würde als Individuum«.
Von ihrem Beginn an ist die Kirche diese »Neue Gesellschaft«. Und doch sind das Worte, die uns ein wenig den Atem nehmen. Ist es wirklich möglich, dass da von ihr, der Kirche, die Rede sein will? Das Christentum hat von allem Anfang an aus der Dynamik Jesu von Nazareth die Erkenntnis und die Praxis der Menschenwürde, des Wertes und Rechtes eines jeden Menschen mit vorangetrieben. Viel zu langsam und mit viel zu vielen grausamen Verirrungen, sagen wir heute im Rückblick. Jede einzelne dieser Verirrungen ist zu viel. Und doch hat das Christentum, streckenweise auch hinter sich selbst zurückbleibend, Erkenntnis und Praxis der Menschenwürde mit vorangebracht. Ich kann das in diesem Rahmen nicht genauer belegen. Es wäre ein eigenes Thema. Die für uns jetzt wichtigste Frage ist, ob, wie und wie bald die Kirche sich den gegenwärtigen Herausforderungen, was Wert und Würde des Menschen betrifft, gewachsen zeigt. Wir haben es jüngst erlebt, wie sehr in ihr und durch sie auch die Würde von Menschen verletzt werden kann.
Wenn einfache Christen, die ja immer noch und nicht selten unter ihrem Wert und ihrer Würde gesehen und behandelt werden, den »Geist der Verzagtheit« (2 Tim 1,7) überwinden und ihren unantastbaren Wert und ihre Würde, als Individuum und in Gemeinschaft, bewusster und deutlicher zu erkennen und zu behaupten beginnen, wenn sie also dazu zu stehen beginnen – tun sie damit recht, oder müssen sie dann hören: »Ihr nehmt euch zu viel heraus«? (Num 16,7) Möchten doch alle im gesamten Volk Gottes ihren unantastbaren Wert und ihre Würde als Individuum behaupten können! »Wenn nur das ganze Volk des Herrn zu Propheten würde, wenn nur der Herr seinen Geist auf sie alle legte« (Num 11,29). Zugleich ist, um Missverständnissen vorzubeugen, klar und deutlich zu sagen: Es geht keineswegs um eine Konkurrenz zum – unerlässlichen! – Presbyteramt. Es geht um viel mehr. Es geht darum, dass die Glocken gut angeschlagen werden und nicht die eine oder andere unbeachtet immer übersprungen wird. Es geht für uns alle um das Glück und den hohen Auftrag des Christseins, um das leise Anschlagen unserer königlich priesterlichen und prophetischen Würde und Kompetenz mit Christus, wie sie uns allen persönlich und gemeinsam in der Taufe geschenkt und in der Salbung mit dem Chrisam als Zeichen der Würde der Christusgemeinschaft zugesprochen und zugeeignet ist.
In den letzten Jahren wird von dem noch jungen 21. Jh. als von einem »Jahrhundert der Laien«10 gesprochen.11 Die Grundlage für eine solche begrüßenswerte Perspektive kann nicht nur der Mangel an Presbytern sein, sosehr dieser nach bisher nur schwer in den Blick zu bekommenden Lösungen ruft. Zweifellos ist in dem Wort von einem solchen Jahrhundert auch nicht an einen »Handstreich« des christlichen Volkes gegenüber seinen Amtsträgern gedacht, sondern vielmehr an einen Aufbruch der ganzen Kirche. Die Perspektive eines solchen Jahrhunderts ist nur möglich auf der Basis eines Bewusstseinswandels des ganzen Volkes Gottes, auf der Basis also eines Einverständnisses aller im Bezug auf das, was allen gemeinsam ist. Mit Freude wäre einem Jahrhundert entgegenzusehen, in dem alle Getauften bewusster aus dem einen ihnen allen gemeinsamen Priestertum lebten, mit entsprechendem Lebensraum dafür. Die Perspektive einer solchen Epoche betrifft also – und das darf nicht übersehen werden – nicht nur die »Laien«, sondern ganz ebenso die mit einem Amt in der Kirche / in den Gemeinden Betrauten. Denn Volk, griech. λαός – laós, und damit »Laien« in der Schule Gottes sind wir ja alle gemeinsam.
Ein wichtiger Hinweis auf diese Zusammengehörigkeit findet sich schon ganz am Anfang unseres Glaubens: Dort stehen weder hier Priester/Leitung noch dort Volk/Gemeinde. Vielmehr stehen da Menschen, die Jesus in seine Nachfolge, seinen Dienst und seine Gemeinschaft gerufen hat. Diese Menschen – nicht nur »die Zwölf« hervorgehobenen und Apostel genannten, sondern auch weitere Jünger und Jüngerinnen – sind in den Evangelien sowohl als glaubendes, hörendes und liebendes, in die Schule und Erziehung Jesu genommenes Volk als auch in verschiedener Weise als Offenbarungszeugen und -zeuginnen, als Beauftragte, Bevollmächtigte, zukünftige Leitungsverantwortliche angesprochen. Sie sind mit allen ihren Stärken und Schwächen, die auch die unseren sind, auf dem Weg mit Jesus, hinter ihm her. Sie sind kein »Klerus«! Das ganze Volk Gottes, das in ihnen mit Jesus auf dem Weg ist, ist Anteil (κλ

Das Zweite Vatikanum hat das Bild einer Communio-Kirche, einer Kirche des einen »Volkes Gottes« entworfen, in fundamentaler Gleichheit aller, das Bild jener »neuen Gesellschaft«, wie sie von Anfang an war, in der ein Kirchenbild mit einer Gliederung wie z.B. in eine »lehrende« (Klerus) und eine »hörende« (Laien) Kirche keinen Platz mehr hat. Hörende Kirche sollten vielmehr alle sein und werden! Und ebenso lehrende im Sinne des Lebens und Weitertragens der Botschaft.
»Eines ist also das auserwählte Volk Gottes: ›Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe‹ (Eph 4,5); gemeinsam die Würde der Glieder aus ihrer Wiedergeburt in Christus, gemeinsam die Gnade der Kindschaft, gemeinsam die Berufung zur Vollkommenheit … und ungeteilt die Liebe … Es ist also in Christus keine Ungleichheit aufgrund von Rasse und Volkszugehörigkeit, sozialer Stellung oder Geschlecht; denn ›es gilt nicht mehr Jude und Grieche, nicht Sklave und Freier, nicht Mann und Frau; denn alle seid ihr einer in Christus Jesus‹ (Gal 3,28; vgl. Kol 3,11) … alle (sind) zur Heiligkeit berufen … Wenn auch einige nach Gottes Willen als … Hirten für die anderen bestellt sind, so waltet doch unter allen eine wahre Gleichheit in der allen Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum Aufbau des Leibes Christi« (LG 32). Das sind Konzilsworte, die noch verbreitet in der Kirche bis hinein in manche Seelsorgepraxis nicht wirklich Boden gewonnen haben. Allein schon atmosphärisch wäre sonst vieles anders.
»Kreative, gleichrangige, wechselseitig wertschätzende Verhältnisse« müssen entstehen, damit das Geschenk des Selbstverständnisses der Kirche als das eine »Volk Gottes« bewusst werden kann. Das ist Auftrag der Kirche und ergeht in erster Linie an das Leitungsamt selbst, also an diejenigen, die im Dienstamt des Presbyters stehen. Denn sie haben die größere Möglichkeit und Mächtigkeit des Gestaltens. Das vorliegende Buch möchte ein Impuls und Beitrag dazu sein, diese Verantwortung wahrzunehmen. Denn ich bin auch überzeugt, dass mit der wirksamen Entdeckung und Wahrnehmung des gemeinsamen Priestertums aller Glaubenden zugleich »die spirituelle Notwendigkeit und das geistliche Geschenk, das im Amtspriestertum steckt«, wieder deutlicher erkennbar wird.12
Unsere gemeinsame Hoffnung verleiht uns ein »stolzes Bewusstsein«, so übersetzt die Einheitsübersetzung in Hebr 3,6. Das ist ein Kennzeichen dieser neuen Gesellschaft. Es verbindet uns alle, ob Amtsträger oder nicht, auf unseren Herrn gestellt in gleicher Weise.
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