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Emilia Wollner griff jetzt wieder zum Lenkrad, als wolle sie es zerquetschen. Sie schien der Ohnmacht nahe und war kreidebleich. Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten, vergingen, ohne dass jemand etwas sagte.
Elisabeth, die ebenfalls geschockt war, fand ihre Stimme als Erste wieder. »War das ein Wolf? Wir haben ihn angefahren. Mama, was machen wir denn jetzt?« Als diese immer noch nicht antwortete, machte Elisabeth Anstalten, auszusteigen.
Das riss ihre Mutter aus der Trance. Mit ungewöhnlich hoher Stimme kreischte sie: »Nein! Unter keinen Umständen! Bleib, wo du bist! Es ist zu gefährlich. Wir müssen hier weg.«
»Aber Mama, das Tier ist sicher schwer verletzt. Wir sollten Hilfe holen und das melden! Wölfe stehen unter Naturschutz.«
Plötzlich kehrte da eine Spur des ärgerlichen Funkelns in die Augen ihrer Mutter zurück, während sie hektisch versuchte, den Motor wieder zu starten. Ihre nächsten Worte ließen keine Zweifel zu. »Du hörst auf das, was ich sage! Wir müssen hier weg, und zwar schnell!«
Endlich sprang der Motor wieder an und Emilia Wollner fuhr los, so schnell sie konnte. Auf dem Rest der Fahrt hatte Elisabeth noch viel mehr Angst als eben. Ihre Mutter sauste waghalsig in die Abzweigung und dann ohne Rücksicht auf mögliche entgegenkommende Autos die schmale Straße an der Innerste hinunter. Sie hielt mit einer Vollbremsung vor dem Haus. Elisabeth ließ sich ins Haus scheuchen, blieb aber verdattert im Wohnzimmer stehen. Ihre Mutter schloss hastig die Tür und schob die Riegel vor. Erst als alles geschlossen war, griff sich Emilia Wollner eine Flasche Harzer Grubenlicht, die ihr Mann als Willkommensgeschenk von der Fakultät bekommen hatte, ließ sich auf die Couch fallen und nahm mehrere tiefe Schlucke. Dann brach sie in stummes Weinen aus, dass die Tränen nur so herabliefen.
Elisabeth stand immer noch hilflos keine drei Meter neben ihr und wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre Mutter hatte einen riesigen Schock und sie hatte vor etwas Angst. Der Wolf konnte es sicher nicht gewesen sein, grübelte Elisabeth, der lag vermutlich halbtot unten am Hang und starb gerade. Doch die Reaktion ihrer Mutter ließ sie vermuten, dass diese nicht davon ausging. Der Wolf war wirklich richtig groß gewesen, aber da Elisabeth noch nie Wölfe in freier Wildbahn gesehen hatte, hatte sie keinen Vergleich. Vermutlich hatte der Nebel ihnen auch einen gewaltigen Streich gespielt, in dem er die Umrisse vage und größer gezeichnet hatte. Vielleicht war jetzt die Gelegenheit, etwas mehr aus ihrer Mutter herauszubekommen. Auf jeden Fall wollte Elisabeth sie trösten. Sie ging zu ihr und berührte sie sacht am Arm.
Emilia fuhr zusammen und wischte sich die Tränen weg. »Ach, du bist ja noch da, ich … ich bin nur so fertig, weißt du. Ich habe noch nie ein Tier angefahren. Das ist schrecklich!«
»Mama, du konntest nichts dafür! Der Wolf ist uns quasi direkt vor die Motorhaube gesprungen!«
Beim Wort Wolf zuckte Frau Wollner erneut zusammen. Das kam Elisabeth komisch vor. Irgendetwas verbarg ihre Mutter vor ihr. Sie setzte sich neben sie und schlang ihre Arme um sie.
»Mama, das wird schon wieder. Ich bin ja bei dir.«
Emilia Wollner hing wie ein Häufchen Elend in ihren Armen. »Ja, du bist bei mir und ich bin an allem schuld, nur ich allein! Ich zahle jetzt für alles, was ich getan habe.« Erneut schüttelte ein heftiger Schluchzer sie durch, dann nahm sie noch einen Schluck. Die Flasche war bereits halb leer.
»Woran bist du schuld?«, bohrte Elisabeth vorsichtig nach.
Da stellte ihre Mutter endlich die Flasche weg und nahm das Gesicht ihrer Tochter liebevoll in beide Hände.
»Du musst nur so viel wissen: Ich liebe dich über alles und ich werde dich immer beschützen. Ich habe meine Entscheidung getroffen und jetzt gibt es kein Zurück mehr. Du musst mir einfach nur vertrauen.«
Elisabeth runzelte die Stirn, nickte aber, um zu verstehen zu geben, dass sie gehört und verstanden hatte, obwohl das gerade eben mehr Fragen aufwarf, als es beantwortete. Sie bekam noch einen Kuss auf die Stirn, der ihr sagte, dass sie heute nicht mehr erfahren würde.
Verwirrt ging sie ins Bett. Sie träumte von dem Unfall in dieser Nacht, nur diesmal hielt der Wolf einen Zettel in die Scheinwerfer mit der Aufschrift: Du wirst bezahlen! Die Rache kommt!
Schweißgebadet wachte Elisabeth auf und verspürte wieder das Kribbeln in ihrem Körper. Ein neuer Anfall drohte. Vorsichtig schlich sie in die Küche und nahm einen kräftigen Schluck aus der letzten Flasche. Die Zutaten für den neuen Trank hatten sie ja erst frisch gekauft. Ein leichtes Klirren aus dem Wohnzimmer ließ sie aufschrecken. War jemand eingedrungen? Sie griff sich das Nudelholz und schlich vorsichtig ins Wohnzimmer, in dem noch Licht brannte. Ihre Mutter lag auf der Couch. Die leere Flasche war wohl gerade zu Boden gefallen und hatte das Geräusch verursacht. Besorgt nahm Elisabeth eine Decke und deckte ihre Mutter zu.
In diesem Moment fasste sie einen Entschluss. Sie würde nachsehen, ob der Wolf wirklich tot war. Wenn nicht, würde sich vielleicht ihre Mutter wieder beruhigen. Und sie hatte auch schon eine Idee, wie sie es anstellen würde. Zu fragen hatte keinen Zweck. Gleich morgen würde sie Sabrina zu einem Trainingslauf einladen.
Laufen für Fortgeschrittene

Elisabeth stöhnte auf, als nicht Sabrina, sondern Theobald ihr die Tür öffnete. Irgendwie kam sie sich übergangen vor, denn auch er trug bereits Laufklamotten.
»Hi, Sabrina hat mir Bescheid gesagt, dass wir heute Laufen üben. Finde ich cool, dass du es so ernst nimmst. Ich komme mit, da kann ich bestimmt auch was von dir lernen.«
Elisabeth erwiderte den Gruß nur mit einem Nicken und schlüpfte an ihm vorbei. Doch sie konnte Sabrina nicht allein erwischen. Ihre Freundin saß auf der Treppe und kämpfte sich in alte Turnschuhe.
»Hallo Elisabeth, ich dachte mir, dass wir am besten noch jemanden mitnehmen, falls ihr mich zurücktragen müsst.« Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande, beugte sich dann aber gleich wieder zu ihren Schuhen hinunter und fluchte. »Verdammt, die haben doch mal gepasst!«
Ihre Mutter schaute aus der Küche und feixte: »Und das ist noch gar nicht so lange her, etwa vor zehn Kilo.«
»Mama!«, gab Sabrina zurück und warf einen Schuh nach ihr, verfehlte diese aber weit. Elisabeth machte einen Satz und fing ihn auf. Als sie ihn ihr zurückgab, wirkte Sabrina sehr geknickt. »Sie hat ja recht, aber es zu hören, tut weh.«
Endlich waren die Turnschuhe geschnürt und es ging vor die Haustür, Elisabeth hüpfte vorweg und machte ein paar Dehnübungen. Erst nach einigen Momenten wunderte sie sich, wo die anderen beiden blieben. Sie kamen nach kurzen Augenblicken zwischen den Häusern aus einer Nische heraus. Elisabeth hob eine Augenbraue. Da stimmte etwas nicht. Und richtig, sie sah noch im letzten Moment, wie Theobald eine kleine Flasche wegsteckte. Fast so eine, wie sie in ihrer Notfalltasche hatte, die sie immer bei sich trug.
»Was habt ihr da gemacht?«, wollte sie wissen.
Sabrina schwieg betreten, doch Theobald strahlte sie an.
»Egal, du kannst es ruhig wissen. Ich kenne mich doch mit Kräutern und so aus und meine Mutter arbeitet in der Apotheke. Da habe ich ein paar kräftigende Sachen zusammengerührt – als Stärkung, damit wir mit dir mithalten können.«
»Ihr habt euch gedopt?« Elisabeth konnte es nicht fassen. »Ich meine, ihr habt doch noch nicht mal angefangen.«
»Lass gut sein, Elle!«, wehrte Sabrina ab. »Ich bin mir völlig im Klaren, dass ich hier schummle, aber ohne trau ich mich einfach nicht. Theo hat das Zeug auf dem Weg hierher schon ausprobiert. Wenn jemand zuerst blau anläuft und umkippt, dann er. Lass uns loslaufen, sonst verpufft die Wirkung wieder.« Und damit trabte sie den Zellbach hoch an einer immer noch erstaunten Elisabeth vorbei, Theobald folgte ihr und grinste dabei siegessicher.
Das legte in Elisabeth einen Schalter um. Sie joggte hinterher, musste jedoch schnell feststellen, dass die beiden trotz ihrer Unsportlichkeit ein hohes Tempo vorlegten, doch sie holte locker zu ihnen auf. Sabrina und Theobald liefen nicht über den Kronenplatz, sondern runter zur Robert-Koch-Straße und von dort über die Erzstraße durch das Unigelände, wo sich Elisabeth nach vorne setzte und die Führung übernahm.
Einige Studenten gingen gerade mit Heftern unter dem Arm zu einem Hörsaalgebäude, unter ihnen auch zwei Typen mit Bergstiefeln, einer davon mit einem Lederhut. Als die drei vorbeiliefen, pfiff ihnen der andere hinterher.
»Das galt dir«, schnaufte Sabrina sie an und sah sich kurz um. Elisabeth schnaubte nur und steigerte das Tempo, dass die anderen beiden kaum noch folgen konnten. Erst oben am Schlagbaum, als sie auf den Weg entlang der Bundesstraße einschwenkten, wurde sie etwas langsamer.
Sabrina schloss auf und versuchte zu erklären: »Ich habe Theo gesagt, dass du die Stelle untersuchen willst, wo ihr den Wolf gerammt habt. Ich hoffe, du verzeihst mir das.«
»Na ja, irgendwie schon. Ich finde gut, dass ihr mitkommt, obwohl ich das Dopen immer noch unfair finde.«
Nun meldete sich Theobald zu Wort. »Unfair? Ich bin an meiner Leistungsgrenze und das mit dem Booster. Und du keuchst noch nicht mal. Bist du so ein Laufwunderkind?«
Unwillkürlich musste Elisabeth lachen. »Nein, ich bin schon immer gerne gelaufen. Ich brauche das einfach, dann geht es mir gut.«
»Ich frage mich, wie schnell du wärst, wenn ich dir auch was von meinem Kräuterbooster gäbe?« Auf ihren scharfen Blick hin setzte er schnell hinzu: »Der ist rein bio! Nur beste Zutaten.«
Er machte dazu ein zwar etwas gerötetes aber unschuldiges Gesicht, dennoch war Elisabeth skeptisch. »Ich weiß nicht, ob sich das mit meiner Medizin verträgt.«.
»Ist die in der kleinen Flasche, von der du manchmal nach dem Sport nippst?«
»Woher weißt du das?« Elisabeth fühlte sich ertappt.
»Ich habe Augen im Kopf und ich bin der Sohn der Apothekerin. Außerdem hat deine Mutter einmal nachts bei uns Zutaten eingekauft und mir eine dicke Lügengeschichte aufgetischt, von wegen eigenes Blattläusemittel. Wenn sie ein anderer Typ wäre, hätte ich aufgrund der Zutaten getippt, dass sie eine ganze Mannschaft damit umbringen will.«
Jetzt blieb Elisabeth abrupt stehen und blickte Theobald völlig entgeistert an. »Was? Du musst dich irren!«
Sabrina, die ein paar Meter zurückgefallen war, hatte das Gespräch nicht mit angehört, kam jetzt aber auch heran.
»Hör mal, ich helfe schon seit Jahren in der Apotheke immer wieder aus. Sie hat Unmengen an Silbernitrat, Eisenhut und anderen Zutaten gekauft. Bei einigen davon würde schon eine Messerspitze reichen, um ein Pferd zu töten. Eigentlich dürfte ich dir das ja gar nicht sagen, aber da wir Freunde sind …«, rechtfertigte sich Theobald.
Sabrina blickte die anderen beiden an. »Was macht ihr denn mit den Dingen, die deine Mutter gekauft hat?«
Als Elisabeth zwischen beiden hin und her starrte, sah sie in zwei neugierige Gesichter. Es drängte sie, ehrlich zu sein, doch alleine wollte sie sich auch nicht öffnen. Sie hatte hier in Clausthal schnell zwei Freunde gefunden und wollte diese nicht gleich wieder verlieren.
»Ihr müsst mir schwören, dass ihr ein Geheimnis bewahren könnt! Und als Pfand will ich, dass ihr mir auch von euch ein Geheimnis verratet.«
Plötzlich wirkten beide seltsam betreten.
Schließlich meinte Theobald: »Okay, das ist nur fair, aber ich gebe nur ein gleichwertiges Geheimnis preis. Ist das akzeptabel für dich?«
Elisabeth überlegte noch, als Sabrina ihn verwundert ansah und von ihm wissen wollte, wie viele Geheimnisse er denn so habe. Schließlich gaben sich alle zusammen die Hand. Sabrina bestand sogar darauf, dass sie vorher noch hinein spuckten. Auch wenn sie das eklig fand, stimmte Elisabeth zu. Ihre Übereinkunft hatte fast schon etwas von einem Geheimbund.
»Ok, ich fang wohl an!«, sagte Elisabeth dann. »Ich leide an einer seltenen Krankheit, bei der schwere Krämpfe meinen Körper überfallen, ein bisschen so wie Epilepsie, aber es kommt immer, wenn ich mich zu sehr aufrege oder tierisches Eiweiß esse. Deswegen bin ich ja Veganerin. Ich bekomme dagegen eine Medizin, die früher unsere Hausärztin hergestellt hat und jetzt meine Mutter. Da ist dieses Silberdings und der andere Kram drin, aber nur so viel, dass es die Krämpfe löst. Ich muss ständig eine Flasche bei mir haben, sonst könnte ich sterben. So, nun ist es raus.« Zum Beweis holte sie ihre Flasche hervor und zeigte sie den anderen.
Sabrina war sprachlos.
Theobald pfiff durch die Zähne. »Voll abgefahren!«
Sabrina seufzte. Dann sagte sie: »Ich weiß nicht, ob das gleichwertig ist, aber ich habe von einer alten Dame die Handschuhe auf dem Friedhof ... äh ... gefunden und mitgenommen. Und als die drei Deppen mich an dem Tag eingeholt hatten, als du …«, sie fixierte Theobald, »so schnell abgehauen bist, haben sie mich umgeschubst, und ich habe dann Vinzenz und Ojan in die Klöten getreten, dass es geknackt hat. Aber Alim habe ich nur mit den Handschuhen am Kopf berührt und er hat geschrien wie am Spieß. So bin ich denen entkommen.«
Elisabeth blickte sie halb bewundernd, halb irritiert an. »Vielleicht hatte er schon Zahnschmerzen und du hast den wunden Punkt erwischt.«
»Nein, es war, als hätte er plötzlich Todesangst. Ich habe die Handschuhe zu Hause. Ich kann sie euch zeigen, wenn ich zurück bin.«
Theobald überlegte lange. Die Mädchen wurden schon beide ungeduldig, dann seufzte er schwer.
»Okay, wir haben es geschworen, also dann komme jetzt ich. Ich klaue manchmal Dinge aus der Apotheke, um selbst zu experimentieren. Will später auch mal so etwas machen. Aber damit meine Ma das nicht mitbekommt, habe ich die Kellerwand zum baufälligen Nachbarhaus aufgestemmt und mir dort ein geheimes Versuchslabor eingerichtet.«
Die Mädchen starrten Theobald gleichermaßen verblüfft an.
Sabrina knuffte ihn verschwörerisch in die Seite. »Dass du irgendwie herumexperimentierst, habe ich mir schon lange gedacht, weil deine Versuchsbeschreibungen in Chemie immer so klingen, als wenn du sie nicht abgelesen, sondern selbst erlebt hast. Aber das mit dem Keller ist wirklich die Wucht. Cool. Dürfen wir das mal sehen?«
Theobald schien jetzt doch nervös.
»Komm, meinen Trank habe ich dir auch gezeigt!«, setzte Elisabeth hinzu.
Widerstrebend antwortete Theobald: »Worauf habe ich mich hier nur eingelassen? Okay, aber ich brauche Vorbereitung und meine Ma darf nicht da sein!«
»Mann, bin ich erleichtert«, sprach Elisabeth aus, was anscheinend auch die anderen dachten. »Ich dachte, ich bin der einzige Freak, aber jetzt habe ich zwei Freunde, die mindestens genau solche Freaks wie ich sind!«
Zusammen gingen sie schweigend weiter, jeder in sich gekehrt. Es begann zu regnen, aber das störte sie nicht. Es war nun nicht mehr weit zum Negersprung. Sabrina verkündete, sie sei inzwischen doch zu kaputt, um den Abhang mit hinunterzuklettern. Sie setzte sich oben auf einen abgesägten Baumstumpf und fragte bei Theobald um Nachschub an, doch der lehnte ab wegen der Gefahr der Überdosierung, wie er sich ausdrückte. Mit Elisabeth stieg er den Hang hinab.
Der Mann hielt reglos inne. Er hatte alle Spuren beseitigt, und er war gut darin. Nichts entging seinen scharfen Augen und der feinen Nase. Ein paar junge Büsche musste er sogar ganz ausreißen und den Boden festdrücken, damit man nicht erkannte, dass jemand hineingekracht war. Das Fell an der oberen Leitplanke hatte er bis aufs letzte Haar entfernt und sie wieder gerade gebogen. Doch jetzt tauchten diese Jugendlichen auf. Zwei von ihnen kamen nun auch noch den Hang hinunter, genau auf die letzte Stelle zu, wo er das Blut noch nicht beseitigt hatte. Verdammte Giulia. Sie machte immer nur Schwierigkeiten und er musste sich um die Beseitigung kümmern. Schlimm genug, dass sie Wild und Schafe riss, aber sich auf der Straße anfahren zu lassen, machte riesige Probleme. Der Wagen hatte sicher ordentliche Dellen. Er hoffte nur, dass der Fahrer im Nebel nicht genug erkannt hatte. Wenn man keine Haare oder Spuren fand, würde die Versicherung zwar nicht zahlen, aber das war egal. Ohne Beweise würde die Presse es nicht drucken und nur darauf kam es an.
»Genau hier muss er hinuntergerollt sein. Hier müssten Äste abgeknickt sein und so, aber ich finde nichts«, hörte er das gertenschlanke, fast schon dürre Mädchen sagen. Sie blieb stehen, während der Junge langsam aufschloss.
»Wie sah der Wolf denn genau aus?«, fragte dieser.
»Es war nebelig, aber ich glaube, er hatte fast ausschließlich graues Fell. Und riesig ist er mir erschienen, fast wie ein Pony. Es hat auch richtig heftig gekracht, als unser Passat ihn gerammt hat. Mama war völlig fertig.«
Der Mann zog die Luft durch die Zähne. Verdammt! Eine Fahrerin und eine Beifahrerin. Zwei Zeugen! So etwas durfte nicht passieren. Ein einsamer Fahrer in der Nacht ließ sich leichter dementieren als zwei Frauen. Und dieses Mädchen hatte genau beobachtet, sie war sogar hergekommen, um nach dem Wolf zu suchen. Er musste sich etwas einfallen lassen.
Elisabeth starrte in das Dickicht unter ihr.
»Ich verstehe das nicht. Er kann nur hier irgendwo hinuntergerollt sein. Es sollte doch irgendwelche Spuren geben.«
Theobald hatte sie endlich eingeholt. »Möglicherweise ist er dort ganz ins Dickicht hineingerutscht. Spuren sehe ich aber auch keine. Vielleicht ginge es schneller, wenn wir nicht mit angezogener Handbremse suchten.«
Elisabeth schaute ihn fragend an.
»Nun, mein kleiner Helfer aktiviert deine volle Leistungsfähigkeit. Auf einen Versuch käme es an.« Er zog seine Flasche aus der Tasche und nahm einen Schluck und hielt sie Elisabeth hin. »Bei dem Zeug, was du sonst in dich hineinschüttest, ist das noch harmlos!«
Erst zögerte sie kurz, dann nahm sie einen Schluck. Zunächst passierte nichts, dann hatte sie das Gefühl, als wenn alle Sinne in ihrem Kopf explodierten. Sie keuchte auf.
»Was zur Hölle ist da alles drin?«, stieß sie durch die Zähne.
Theobald, der seine Flasche hastig weggesteckt hatte, entgegnete eilig, dass es rein bio sei, und entschuldigte sich eilig. Doch er zuckte die Schultern, als Elisabeth nur so dastand, ohne auf ihn zu achten, und ging resigniert den Hang wieder hoch.
Elisabeths Sinne schärften sich schlagartig. Sie hörte die Regentropfen, ihren eigenen Puls, Theobalds Puls, seinen Atmen, seine Schritte, ein Kaninchen in seinem Bau links von ihr, den Schrei eines Vogels. Sie roch den Wald, das Moos, den Hamburger, der mal in der leeren McDonalds-Verpackung gesteckt hatte. Und dann, ganz plötzlich, hörte sie das leise Atmen eines anderen großen Lebewesens hinter den Bäumen weiter unten, auf die Theobald vorhin gedeutet hatte. Was auch in dem Trank war, er hatte irgendetwas in ihr ausgelöst, denn das Kribbeln stieg in ihr auf. Während sie im Unterbewusstsein bereits ihren Trank zog und einen Schluck nahm, hörte sie, wie das Etwas sich bewegte.
Der Mann erstarrte. Als der Junge die Flasche zog, freute er sich schon, dass sie Alkohol trinken würden, der die Sinne benebelte. Aber jetzt war er alarmiert, denn das Mädchen lauschte und sie schien zu schnuppern. Gott sei Dank kam der Wind aus Westen, so konnten weder er noch sie jeweils voneinander die Witterung aufnehmen. Allerdings hatte er vorhin oben am Hang Spuren beseitigt, doch so gut waren Menschennasen nicht. Oder doch? Er konnte das Risiko nicht eingehen, von ihr entdeckt zu werden, denn sie starrte jetzt genau auf sein Versteck. Er musste sie vertreiben.
So rief er tief in sich hinein und sein Partner antwortete sofort, das Heulen stieg in seiner Kehle auf und er ließ es frei. Dazu rüttelte er an den beiden Fichten, die ihm am Nächsten standen. Es verfehlte seine Wirkung nicht, zumindest bei den anderen beiden wirkte es sofort. Eine urwüchsige Angst brach bei ihnen durch. Das Mädchen oben an der Straße lief sofort weg, der Junge, der bereits die Leitplanke wieder überstieg, folgte ihr in wildem Lauf. Doch die große Schlanke runzelte die Stirn und zuckte, als wenn sie Krämpfe hätte. Noch einmal ließ er sein Heulen hören und legte seine ganze Macht hinein. Das Mädchen schien immer noch verwirrt, doch es bemerkte jetzt, dass es alleine war, und rannte ebenfalls den Hang hoch. Erstaunt beobachtete der Mann, wie sie in atemberaubendem Tempo die Kante erreichte und ohne Zögern die Leitplanke mit einem Satz übersprang. Was auch immer sie getrunken hatte, es musste so eine Art Zaubertrank sein, der ihr übermenschliche Kräfte verlieh. Er würde sie im Auge behalten müssen. Als er sich sicher war, alle Spuren beseitigt zu haben, verschwand er ebenfalls.
Niemand sah den Mann in Outdoorkleidung, der im strömenden Regen kurz darauf aus Richtung der Kuckholzklippe den Abhang hinunterkletterte und sich wachsam umsah, bis er plötzlich innehielt. Bremsspuren zogen seine Aufmerksamkeit auf sich, die quer auf die andere Straßenseite führten und vor der Leitplanke endeten. Er bückte sich und hob etwas hoch. Es handelte sich um den Splitter eines Blinkers. Ein paar Meter weiter in der Abflussrinne lagen noch mehr. Nicht ungewöhnlich an einer Straße, doch der Mann grunzte zufrieden und steckte ihn vorsichtig ein. Er drehte sich noch einmal zu dem Hang, um die Richtung zu peilen, und überquerte dann entschlossen die Straße. An der Leitplanke entdeckte er nichts, doch auf der anderen Seite sah er niedergetretenes Gras am Abhang. Er stieg über die Leitplanke und untersuchte die frische Spur. An einer Stelle fand er das Muster von zwei verschiedenen Turnschuhen im Boden, die noch nicht durch den Regen weggewaschen waren, aber sie wiesen den Berg hinauf, also in die falsche Richtung. Wer auch immer das gewesen war, hatte vermutlich hier alles zertrampelt, und der Regen spülte den Rest weg. Die Enttäuschung war riesengroß. Er hatte die Spur verloren. Dabei war er so nah dran gewesen. Er war der ganzen Fährte vom Lerbacher Skihang bis auf die Klippe gefolgt, wo zwei Schafe gerissen worden waren. Und dann hatte er ganz deutlich das Heulen gehört, dass ihm durch Mark und Bein gegangen war. Zweimal. Hauser fluchte. Vielleicht könnte es etwas bringen, die Werkstätten abzuklappern. Er würde alle Splitter einsammeln und versuchen, herauszubekommen, was das für ein Wagen gewesen sein mochte. Aber erst einmal würde er nun eine Person besuchen, die er schon sehr lange nicht mehr gesehen hatte.
Drei Mütter und Kakao mit Schuss

Der junge VW-Mechaniker untersuchte nun schon über eine Stunde lang das Auto.
»Motorhaube, Prallbox vorne und linker Kotflügel, Blinker, Scheinwerfer, Kühler eingedrückt, Sprung in der Frontscheibe und Dach eingedellt. Das sind alles in allem acht- bis zehntausend Euro. Was genau haben sie denn angefahren, einen Elch?«
Es klang nach einem flachen Scherz, aber Emilia Wollner war nicht zum Lachen zumute. »Es war ein riesiges Tier und es ist danach weggelaufen, irgendwo in der Nähe von Torfhaus. Ist auch egal, können Sie es richten? Das Geld ist nicht das Problem! Ich möchte nur vermeiden, dass mein Mann das mitbekommt. Sie verstehen sicher.«
Der Mann in seinem fleckigen Overall kratze sich an den Bartstoppeln. Emilia konnte anhand seines mehrdeutigen Blickes, der er ihr zuwarf, denken, dass er sie versuchte abzuschätzen.
»Ich krieg das schon hin. Sagen wir neuntausend und ein Abendessen.« Er grinste sie dazu verwegen an.
Emilia Wollner hatte oft eine solche Wirkung auf Männer. Es wurde Zeit, ihm seine Grenzen aufzuzeigen. Sie fixierte ihn und sagte: »Gut! Neuntausendundfünfzig und Sie gehen alleine essen!«
Der Mann hob abwehrend die Hände. »Schon gut, Sie können mir nicht vorwerfen, es versucht zu haben. Ich mache es für die Neun, aber ich brauche ein paar Tage. Wann kommt Ihr Mann zurück?«
Emilia Wollner fiel nicht auf diesen Versuch, sie doch noch weiter auszuhorchen, herein.
»Das braucht Sie nicht zu kümmern. Sie müssen ihn sowieso neu lackieren. Ändern Sie die Farbe in Blau. Ich erzähle meinem Mann dann einfach, dass ich ihn zum Lackieren gegeben habe.«






