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Er heckte wirklich etwas aus, nur was? Sie kamen als letztes Paar dran, Theresa und Brigitta mussten stoppen. Mit gespielt gelangweilter Haltung stand Ojan bei den Startblöcken. Doch man sah, dass auch er dämlich grinste.
»Hat dir jemand die Mundwinkel an den Ohren festgetackert?«, blaffte Sabrina ihn an, doch er grinste weiter.
Elisabeth konnte sich auch keinen Reim darauf machen, aber was sollte es. Sie kniete sich in den Startblock, als Ojan diesmal vorschriftsgemäß »Auf die Plätze!« sagte. Sabrina kauerte sich neben sie und warf ihr einen letzten leidenden Blick zu.
»Fertig!«
Sollte sie mit Sabrina mitlaufen oder voll durchziehen, um ihren Lehrer zu beeindrucken? Im letzten Moment entschied sich Elisabeth für Durchziehen.
»Los!«
Elisabeth sprang aus dem Startblock und sprintete los. Sie sah, wie Burglos den Kopf hob und den Lauf verfolgte. Sie fühlte sich gut, richtig fit, und als der Wind ihr im vollen Lauf um die Nase pfiff, jubelte ihr Unterbewusstsein auf und zog sie in einen Rausch. Laufen war einfach toll! Viel zu schnell querte sie die Ziellinie. Sie ließ erst danach das Tempo sinken und lief locker aus. Als sie sich umwandte, kämpfte Sabrina immer noch auf der Bahn. Sie gab alles und sogar Theresa und Brigitta feuerten sie an. Manfred Burglos kam in dem Moment herüber, wo Sabrina die Ziellinie passierte. Sie fiel gleich nach vorne über und schnappte wild nach Luft.
»Gut durchgehalten, Sabrina!«, erkannte Herr Burglos den Arbeitssieg an. »Und ein Supersprint Elisabeth, große Klasse! Wie waren die Zeiten?«
»Ich habe 20,9 Sekunden gestoppt!«, sagte Brigitta.
»9,40 Sekunden!«, vermeldete Theresa, die nicht glauben konnte, was sie ablas.
»Keine Bestzeit heute, aber Klassenrekord. Herzlichen Glückwunsch, Elisabeth. Das wird schon mal für das Laufen eine Eins plus.«
Die vier Mädchen gingen in die Umkleide. Als Manfred Burglos die Zeiten notiert hatte, sah er auf. Natürlich war Ojan schon verschwunden. Die Startklappe lag ganz hinten im Gras. Einen stummen Fluch murmelnd, stand er auf und lief, um sie zu holen. Als er ankam, runzelte er die Stirn. Die Startblöcke steckten nicht an der Fünfundsiebzig-Meter-Linie. Jemand hatte sie an die Hundert-Meter-Markierung verschoben. Wann war das passiert? Dann fiel ihm der Tumult in der Jungenumkleide ein. Die Jungs hatten Sabrina und Elisabeth reinlegen wollen. Aber das war nach hinten losgegangen, weil er es gemerkt hatte.
Wenn Theresa nicht komplett falsch gestoppt hatte, was beim manuellen Messen schon mal 0,5 Sekunden ausmachte, dann war da jemand gerade mindestens weiblichen Weltrekord gelaufen und wusste es nicht einmal. Der lag irgendwo bei 10,49 Sekunden auf hundert Meter, wie er noch wusste. Er musste unbedingt mit Elisabeth sprechen.
Inselzuflucht

Die Sonne ging langsam über dem Horizont unter. Sie warf ein malerisches Licht in Orange, Rot und Gelb an die Wolken. Der frische Wind aus Nordwesten roch nach Salz. Ein letzter Fahrradfahrer radelte die Strecke vom Leuchtturm auf Wangerooge zurück zum Ort. Er kam an der alten Frau auf der Bank vorbei und grüßte mit einem fröhlichen »Moin!«. Die Alte nickte nur und blickte weiter hoch zu den Möwen, die sie schon die ganze Zeit beobachtete. Als der Mann schließlich vorbeifuhr, holte die Frau einen Kristall aus ihrer Tasche und fuhr vorsichtig über die leicht beschädigte Oberfläche. Sie hätte ihn im Teutoburger Wald fast verloren, aber es war nur ein kleiner Splitter abgeplatzt. Der Zauber, der die Energie ins Innere band, funktionierte immer noch einwandfrei. Seit mehreren Tagen hatte sie ihren Standort gewechselt und war nie länger als vier Stunden an einer Stelle geblieben. Sie hatte haufenweise Alarmzauber und Fallen hinterlassen. In den ersten Tagen waren die Jägerinnen ihr ständig auf der Spur gewesen, doch nie wieder war ihr jemand so nah gekommen, wie diese verfluchte Anna Binsenkraut. Aber sie befand sich nicht mehr unter den Jägern. Dafür hatte Borga schon vor langer Zeit gesorgt. Ihre Verbündete im Hohen Rat hatte sie gleich nach dem Vorfall wieder in den Harz zurückgeschickt, um sie von ihr abzulenken. Dennoch würde sie weitere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssen.
Der formschöne Kristall in ihrer Hand war fast vollkommen leer. Sie seufzte. Dieser und der zweite, den sie schon aufgebraucht hatte, waren ihre besten Stücke. Er würde sich aber schnell wieder füllen, denn die Kraftquelle, mit der ihn der Zauber verband, war ungewöhnlich stark. Doch das würde einige Stunden dauern.
Auf der Insel war sie vor den meisten Ortungszaubern auf natürliche Art und Weise geschützt. Die letzte falsche Spur, die sie gelegt hatte, führte nach Rumänien. Ein beliebter Zufluchtsort für gesuchte Kreaturen. Dort würden die Jägerinnen eine Weile lang beschäftigt sein. Doch eine Sache gab es noch zu tun. Sie nahm den Kristall in die Hand und ließ die gefangene Energie in sich strömen. Es erfrischte sie, als die magische Energie ihre eigenen Kräfte verstärkte. Dann rief sie die Möwen zu sich herunter. Der Zauber, den sie wob, war nicht einfach, aber er würde ihr Dutzende zusätzliche Augen verschaffen. Mochten die Jägerinnen sich auch noch so gut wappnen, bei so vielen kleinen Helfern würde es fast unmöglich sein, sich unbemerkt auf die Insel zu schleichen.
Als der Zauber vollendet war, testete sie ihn, indem sie die Augen schloss und in den Geist einer Möwe wechselte. Der Blickwinkel war anders als der von Menschen, doch sie kannte das breitere Sichtfeld bereits von früheren Experimenten. Dann wechselte sie die Möwen durch. Es klappte. Zufrieden mit sich legte sie den Kristall in ihre Tasche zurück, wo noch eine ganze Reihe anderer lagen. Dann erhob sie sich und ging zu dem alten unscheinbaren Schuppen, der etwas abseits des Weges stand. Er sah von außen nicht aus, als wäre hier mehr als nur etwas Gerätschaft untergebracht. Die Verfolger waren weit genug weg. Sich mit Magie wach zu halten, ging zwar, aber man regenerierte sich nicht und das merkte sie jetzt. Sie würde nach vielen Tagen endlich einmal sich hinlegen können. Schlaf! Dieser Körper brauchte endlich Schlaf!
Rund um die Okertalsperre

Das Wetter war einmal ausnehmend schön. Es hatte einige Zeit gedauert, bis Elisabeth und Sabrina wieder joggen gehen durften. Erst als Frau Schubert sich bereiterklärt hatte, sie jeweils zum Joggen zu fahren und wieder abzuholen, hatte auch Emilia Wollner endlich zugestimmt. Theobald hatte nicht so ein Glück gehabt. Seine Mutter hatte ihm haufenweise Arbeit aufgehalst, die ihn daran hinderte, mitzukommen. Aber so ganz unrecht schien es ihm nicht zu sein, denn er hatte nach dem Sprinten in der Schule immer noch Probleme mit seinen Waden.
»Richtig glücklich wirkst du gerade nicht«, bemerkte Elisabeth zu Sabrina, die langsam neben Elisabeth hertrabte und offensichtlich kämpfen musste.
»Ich habe dir doch das Kleid gezeigt, in das ich einmal hineinpassen will. Es ist so wunderschön, aber der Riss geht tief. So gut kann ich nicht nähen und du auch sicher nicht. Ich habe die Reparaturkosten gestern bei der Änderungsschneiderei Gerster schätzen lassen. Das werden so hundertachtzig bis zweihundert Euro. Dafür muss ich lange sparen.«
»Sie es mal so: Jetzt hast du gleich zwei Gründe, um abzunehmen. Kein Geld mehr für Süßigkeiten ausgeben und mit mir laufen. Die AG bei Herrn Burglos ist diese Woche ja ausgefallen, genauso wie sein Unterricht.«
Sabrina nickte. »Die Schramm sagte, er müsse schon wieder zu einem Seminar nach Bonn und es gäbe keinen Vertretungslehrer. Wenigstens konnten wir so deiner Ma das Lauftraining als Ersatzunterricht verkaufen.«
»Deine Mutter ist eine echte Verbündete! Ich glaube, ohne sie hätten wir das nicht geschafft«, warf Elisabeth ein. »Dass ich dafür mit dir Mathe und die anderen Fächer pauken muss, ist ein hoher Preis. Du bist eine gute Lehrerin, Brina, und ich eine schlechte Schülerin.«
»Finde ich gar nicht. Wir haben in wenigen Tagen zwei Monate an Schulstoff aufgearbeitet. Mir hilft das Wiederholen ja auch. Das wird schon mit dir. Beim Laufen werden wir auch immer besser und ich halte jedes Mal ein Stück weiter durch.«
»Du hast den Weg um die Okertalsperre nur ausgesucht, weil der fast komplett flach verläuft. Außerdem sind mir hier zu viele Jogger unterwegs.«
Sie liefen eine Weile schweigend weiter und genossen den Ausblick. Martha Schubert hatte sie früh abgeholt. Sie wollte dann zu einer Tante weiterfahren, die irgendwo bei Wernigerode lebte.
Die Talsperre war erstaunlich leer. Man konnte noch gut erkennen, wie hoch früher das Wasser gestanden hatte. Aber einerseits regnete es nicht mehr so viel wie früher und es wurde auch viel Wasser abgelassen für die Kajakfahrer, die unterhalb der Talsperre auf der Oker trainierten. Eine Verschwendung von gutem Trinkwasser, befand Sabrinas Mutter, und mit dieser Meinung blieb sie in der Gemeinde nicht allein. Dass es schon lange nicht mehr viel Wasser im Stausee gab, konnte man auch daran erkennen, dass die freigelegten Flächen wieder voll begrünt waren. An einigen Stellen begannen schon Sträucher zu wachsen.
»Wollen wir wirklich am Harzlauf teilnehmen? Ich meine, das ist einmal komplett quer über den Harz und vor allem bis rauf auf den Brocken und wieder herunter«, durchbrach Sabrina schließlich wieder das Schweigen.
»Warum nicht? Sicher, das ist nicht ohne, aber der Lauf ist ja erst im nächsten Juni. Bis dahin fließt noch viel Wasser die Innerste herunter. So sagt man hier doch, oder?«, gab Elisabeth zur Antwort.
»Letztes Jahr hat ein Junge aus Wolfshagen gewonnen. Ist so in unserem Alter, denke ich. Albert Wolfsherr. Der Vorname ist ein wenig angestaubt, aber den Nachnamen finde ich cool«, resümierte Sabrina weiter. »Ich habe ihn gesehen, wie er durch Clausthal durchlief. Genauso ein schneller Läufer wie du, sieht aber wie ein Zehnkämpfer aus und ist richtig sexy.«
Elisabeth zwinkerte ihr zu. »Der hat es dir angetan, was?«
»Schon irgendwie, aber so einen kriege ich nicht ab. Ich finde, der sieht noch besser aus als Herr Burglos. Aber er ist nicht auf der regulären Schule, sondern er soll auf so ein elitäres Privatinternat gehen und ist bestimmt völlig eingebildet. Aber sein Körper ist einfach himmlisch. Ich würde mich von dem sofort flachlegen lassen.«
Elisabeth rollte nur mit den Augen. Sabrina redete für ihren Geschmack manchmal etwas vulgär und hatte offenbar keine Skrupel, ihre Gedanken auszusprechen, auch die, die Elisabeth nie preisgegeben hätte.
Genau in dem Moment holte sie ein anderer Jogger ein, der im Gegensatz zu ihnen schnell unterwegs war.
»Na die Damen, das freut mich aber, dass ich so begehrt bin, aber mit so schrecklich müffelnden Mädchen würde ich mich sicher nicht einlassen. Außerdem seid ihr echte Schnecken. Einen schönen Tag noch!«
Sabrina wurde knallrot und blieb abrupt stehen. »Scheiße, das war er. Was macht der denn hier?«
Elisabeth hielt nun auch an, schaute aber nicht zu ihrer Freundin. Sie blickte dem wirklich sehr gut aussehenden Läufer hinterher, der sich schnell entfernte. Ein herber Moschusgeruch hing in der Luft und kitzelte sie in der Nase.
»Mann, der hat uns erst belauscht und dann voll beleidigt. Und das, wo ich heute bis hier durchgehalten habe.« Sabrina keuchte schwer. »Das dürfen wir uns nicht bieten lassen. Los Elle, hol dir den Angeber!«
Elisabeth warf einen kurzen Blick zu ihrer Freundin, die mit der Hand in die Richtung zeigte, in die der Junge verschwunden war.
»Nun mach schon! Für unsere Ehre!«
Elisabeth lief los. Der Junge hatte inzwischen einen erheblichen Vorsprung, also begann sie mit einem forschen Tempo. Auch sie hatte durch das sehr regelmäßige Laufen gemerkt, dass sie besser wurde. Es tat ihr gut und sie brauchte in letzter Zeit auch weniger von ihrem Notfalltrank. Als sie um die Kurve bog, sah sie ihn, wie er gerade zwei Spaziergänger überholte.
Mann, ist der schnell unterwegs!, dachte sie bei sich und steigerte ihr eigenes Tempo weiter. Sabrina war ihre Freundin und er hatte sie beide beleidigt. Sie und müffeln? Niemals! Die Spaziergänger hatte sie schnell überholt. Ein Ehepaar im mittleren Alter, das sie sogar anfeuerte.
»Los, junge Dame, ihr Freund ist schon vorbei!«
Elisabeth schnaubte. Ihr Freund war er nicht, aber das konnten die Leute nicht wissen. Sie würde es diesem Schönling schon zeigen und ging bis an ihre Grenzen. Ein Gefühl inneren Glücks brandete in ihr hoch, als ihre Beine nur so über den Weg flogen und der Wind an ihren Haaren zog. Der Moschusgeruch tauchte wieder vor ihr auf. Als sie die nächste Biegung umrundete, sah sie ihn vor sich. Er überholte schon wieder jemanden, diesmal einen anderen Jogger, der vor einigen Minuten noch an Sabrina und ihr vorbeigelaufen war. An einer schmalen Stelle, wo eine mehrere Meter lange Pfütze den Weg einengte, wich der Mann vor dem schnelleren Läufer unbeholfen aus und trat voll ins Wasser, das sich als tiefer entpuppte, als es zunächst den Anschein hatte. Er schimpfte wild hinter Albert her, der sich genau in diesem Moment umblickte und Elisabeth entdeckte, die inzwischen immer schneller aufholte. Er machte ein verwundertes Gesicht und beschleunigte nun seinerseits.
Der andere Läufer stieg umständlich aus dem Wasser und band seinen Schuh auf. Elisabeth setzte mit einem gewaltigen Sprung über die Pfütze hinweg und rannte weiter, um nun ebenfalls als »Verrückte Spinnerin!« beschimpft zu werden, aber sie hörte nicht hin. Ihr Ziel lag vor ihr und sie hatte das Jagdfieber gepackt. Auch wenn sie es nicht mehr für möglich gehalten hatte, konnte sie nochmals etwas weiter beschleunigen, doch mit dem Beschleunigen schoss ein Kribbeln in ihre Beine.
Sicher ein drohender Krampf!, dachte sie zuerst, doch als es immer höher kroch, merkte sie, dass es das Zittern war. Bis zum Parkplatz war es nun nicht mehr weit und sie hielt sich gut – keine zwanzig Meter mehr hinter Albert. Sie konnte jetzt nicht aufgeben. Also biss sie die Zähne aufeinander und zwang sich, weiterzulaufen. Albert hatte sich erneut umgeblickt, inzwischen mit einem äußerst irritierten Blick. Und dann schockierte er seinerseits Elisabeth, indem er noch schneller wurde. Das war unmöglich, sie sprintete schon und er zog jetzt wieder davon. Das Kribbeln breitete sich inzwischen bis zur Hüfte aus. Sie würde doch abreißen lassen müssen. Da kam der Parkplatz in Sicht. Sie sah, wie Albert schlitternd abbremste und in einen wartenden, roten Porsche sprang, der gleich darauf mit durchdrehenden Reifen anfuhr und Steine sowie Dreck aufschleuderte. Der Wagen kam ihr irgendwie bekannt vor, doch sie konnte ihn momentan nicht einordnen.
Ein altes Ehepaar mit einem kleinen Schoßhund wich gerade noch aus, um nicht über den Haufen gefahren zu werden. Die Rentner schimpften wild, als der kläffende Hund sich losriss und von dem Auto weg auf den Weg zulief. Elisabeth konnte nicht mehr, sie stolperte die letzten Schritte mit wackligen Beinen vorwärts, als der Porsche schon längst auf der Straße verschwunden war. Schweiß stand ihr auf der Stirn und lief ihr in die Augen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und sie pumpte wild nach Luft. Die Farben verschwammen vor ihren Augen und das Zittern stieg höher und höher.
Nein, nein! Sie konzentrierte sich auf das Atmen, doch jeder Zug stach in ihrer Lunge. Die Welt um sie herum schwankte, als sie sich auf die Knie fallen lies und mit den Händen abfing. Der kleine Hund kam näher und bellte sie jetzt wild an. Sie verfluchte ihn in ihrem Kopf. Das Gekläffe machte sie immer wütender. Die Schmach, den Jungen nicht geschlagen zu haben, brannte lodernd in ihr. Der kleine Hund machte sie jetzt schier rasend. Sie wollte ihn wegscheuchen, doch als sie ihn anblickte und den Mund öffnete, kam nur ein grollendes Knurren aus ihrer Kehle. Der kleine Yorkshire Terrier stellte abrupt das Kläffen ein, steckte den Schwanz zwischen die Beine und rannte winselnd den Weg entlang, während seine Leine wild hinter ihm her tanzte. Die beiden Rentner eilten ihm nach, nicht ohne in Elisabeths Richtung einige Verwünschungen loszulassen.
Elisabeth konnte nicht mehr klar denken. Mit einer Hand öffnete sie umständlich ihre Bauchtasche und nestelte mit zitternden Fingern die Flasche heraus. Sie brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um den Bügelverschluss aufzudrücken. Als er dann endlich aufsprang, nahm sie gierig ein paar große Schlucke. Als das Brennen schließlich nachließ und sich ihr Blick klärte, lehnte sie sich gegen einen Stein am Wegesrand, der als Parkplatzbegrenzung diente. Sie schloss die Augen.
Einige Minuten später kam der Jogger mit dem nassen Schuh kopfschüttelnd vorbei, kurz darauf Sabrina.
»Elle, oh mein Gott. Du siehst völlig fertig aus. Was ist passiert? Hast du ihn erwischt?«
Elisabeth antwortete nicht, sondern nahm noch einen Schluck, bis das Brennen in ihrem Körper ganz verschwand.
»Ich habe gerade einen kleinen Hund eingefangen, der den Weg entlang gerannt kam. Hat zwei älteren Leuten gehört. Die haben vielleicht geschimpft und mir von völlig irren Halbstarken berichtet, die ihren Hund verjagt hätten. Kann es sein, dass sie unter anderem dich meinten?«
Elisabeth nickte schwach.
»Hast du ihn denn nun erwischt?«
»Fast!«, sie machte eine Pause, dann konnte sie endlich weitersprechen. »Ich habe alles gegeben, aber dann hat er sich umgeblickt und auch beschleunigt. Wir haben uns ein Rennen bis hierher geliefert. Ich meine, ich bin so schnell gelaufen wie noch nie in meinem Leben, und er ist mir dann immer noch davongerannt. Der Albert ist wirklich überirdisch schnell.«
Sabrina sah sie bekümmert an. »Das ist alles meine Schuld, dass du jetzt so kaputt bist. Aber ich war so wütend!«
Plötzlich grinste Elisabeth Sabrina an. »Aber er hat richtig Schiss bekommen, als ich näher kam. Ich habe ihn total verunsichert. So schnell vergisst der mich nicht.« Dann roch sie an ihrem T-Shirt und fragte ihre Freundin: »Findest du, dass ich müffle?«
Sabrina musste daraufhin lachen, was ansteckend wirkte.
Als Martha Schubert wenig später zur verabredeten Zeit auf den Parkplatz fuhr, ging es Elisabeth wieder so gut, dass sie entspannt atmen konnte. Sie stiegen ein.
»Na, diesmal seid ihr ja richtig schnell gewesen«, kommentierte Sabrinas Mutter. »Wenn ihr noch schneller werdet, dann schaffe ich es nicht mehr nach Wernigerode und zurück, oder ihr müsst nächstes Mal zwei Runden laufen.« »Nein, für heute haben wir genug«, antwortete Sabrina. »Jetzt brauchen wir ganz dringend eine Dusche.«
Tränkebrauer

Seine Mutter musste wieder nach Berlin fahren. Auch wenn Theobald inzwischen wusste, dass Lylly, die Freundin seiner Mutter, tot war, verstand er nicht, warum der Rat plötzlich so viel von ihr wissen wollte. Andererseits verschaffte ihm das eine der für ihn viel zu seltenen Gelegenheiten, im Nachbarkeller zu experimentieren. Die Arbeiten, die sie ihm aufgetragen hatte, damit er nicht auf dumme Gedanken kam, erledigte er in großer Eile und war schon nach ein paar Stunden fertig.
Dann begab er sich durch den Bastelkeller und den Gang, den er geschaffen hatte, bis er in seinem Versteck im Nachbarhaus ankam. Dort entzündete er einige Taschenlampen, denn der Strom war hier abgestellt. Er hatte sich nicht getraut, aus dem eigenen Keller bis hierhin ein Kabel zu legen. Schließlich stellte er den mitgebrachten Käfig mit der Katze auf einen Tisch und holte die kleine Bügelflasche hervor. Er musterte sie erst von außen und hielt sie gegen das Licht. Die Flüssigkeit sah trübe und milchig aus. Er hatte sich einiges einfallen lassen müssen, um an diese Probe von Elisabeths Trank zu kommen. Sicher hätte er sie fragen können, aber irgendein inneres Gefühl hatte ihm gesagt, dass es keine gute Idee gewesen wäre. Nun würde er erst in aller Ruhe das Gebräu untersuchen und dann seine Ergebnisse präsentieren.
Um an Elisabeths Trank zu gelangen, hatte er sich dafür während der Pause im Kartenschrank versteckt, nachdem er das Schloss des Klassenzimmers mit einer Büroklammer so blockiert hatte, dass man nicht mehr absperren konnte. Als Frau Schramm es schließlich bemerkt hatte, hatte er den Namen Vinzenz gehört. Offenbar hatte die Klassenlehrerin ihm das Unheil zugeordnet. Als sie losgegangen war, um den Hausmeister zu holen, war Theobald aus seinem Versteck getreten, hatte Elisabeths Tasche geöffnet und den Trank herausgeholt. Kaum hatte er die Flasche eingesteckt, da hatte er auch schon Schritte vernommen. Es war ihm keine Zeit mehr geblieben, zum Schrank zurückzugelangen. Also hatte er sich hinter die Tafel gequetscht. Doch er hörte nur ein kurzes Gemurmel und ein Ruckeln an der Tür. Dann wurde er eingeschlossen. Als die nächste Stunde begann, war er im allgemeinen Tumult hinter der Tafel hervorgetreten und hatte seinen Lateinlehrer ganz unschuldig angeblickt und behauptet, er hätte Tafeldienst gehabt. Der verwirrte ältere Lehrer hatte nur genickt und sich wieder auf seine Aktentasche konzentriert. Schweißgebadet war er dann an seinen Platz zurückgegangen und hatte sich die ganze Stunde nicht richtig konzentrieren können. Doch sein Coup hatte sich gelohnt.
Nun, im Keller, überlegte Theobald, was er schon wusste. Elisabeth hatte ihm gesagt, dass dieser Trank ihre Krämpfe linderte, wenn sie sich aufregte und auch mal aus Versehen tierisches Eiweiß abbekam. Das sprach für eine neurologische Erkrankung, aber auch gleichzeitig für eine schwere Allergie. Beide Wirkungen in einem Gebräu? Vielleicht löste tierisches Eiweiß auch die gleichen Krämpfe aus, und der Trank blockierte dann das Immunsystem. Da er durch ihre Mutter einige der Zutaten kannte, weil diese sie bei ihm nachts gegen Bargeld gekauft hatte, war er zuversichtlich, mehr herauszubekommen. Es wollte ihm immer noch nicht in den Kopf, dass alle diese hochgiftigen Stoffe Krämpfe lindern sollten. Sicherlich waren viele Gifte in minimaler Dosis auch Heilmittel, aber die Mengen, die Frau Wollner eingekauft hatte, hätten dann für Jahre reichen müssen.
Er machte einige einfache Nachweise und konnte die Bestandteile, die ihm geläufig waren, bestätigen. Leider konnte er mit seinem kleinen Labor keine quantitativen Bestimmungen durchführen. Für einen Praxistest hatte er sich die Katze besorgt. Auf dem einen Bauernhof in Zellerfeld gab es viele davon und sie vermehrten sich so stark, dass es nicht auffallen sollte, wenn eine fehlte. Es war leicht gewesen, sie anzulocken und in den Käfig zu stecken. Nun wollte er sehen, wie der Trank sich auf das Tier auswirkte.
Er nahm einen kleinen Holzspatel und tupfte ihn vorsichtig in den winzigen letzten Rest des Tranks, gerade so tief, dass er leicht feucht wurde. Dann holte er die Katze heraus. Sie wollte ihm entwischen, aber er packte sie am Nackenfell und setzte sie auf seinen Schoß. Als er sie streichelte, beruhigte sie sich schnell wieder und schnurrte. Er redete beruhigend auf sie ein und nahm den Spatel. Als er vor ihrem Gesicht damit auf und ab wedelte, schlug sie erst mit der Pfote danach, dann schnappte sie zu und kaute etwas auf dem Spatel herum. Genau darauf hatte er gehofft. Er beobachtete sie weiter. Dann erschrak er, als die Katze plötzlich zu würgen begann und sich wild aufbäumte. Bei dem Versuch, sie festzuhalten, riss er die Trankflasche vom Tisch. Sie zerbrach auf dem Fußboden. Vom einen auf den anderen Moment fiel die Katze zuckend in sich zusammen. Daraufhin regte sie sich nicht mehr. Er stupste sie an, aber sie war zu seinem großen Entsetzen tot.
Voller Kummer über das Resultat begutachtete er das Tier. Das hätte nicht passieren dürfen, nicht mit einer Katze. Die Tiere waren zäh und er hatte weniger als einen Tropfen verwendet. Die Wirkung war also viel stärker gewesen, als er gedacht hatte. Aber das würde heißen, dass die Konzentration des Trankes extrem hoch war und auch, dass Elisabeth schon viele Male hätte tot umfallen müssen. Was stimmte da nicht? Welche anderen Komponenten machten den Trank für Elisabeth so einzigartig? Bei personalisierten Zaubertränken nahm man gerne Teile der Zielperson, um die Wirkung zu spezialisieren, das wusste er, aber dies war doch nicht etwa …






