- -
- 100%
- +
Er blickte auf die Pfütze und die Splitter. Dann nahm er entschlossen sein Amulett ab und wandte den Blick nach innen, bis er seine Kraft gefunden hatte. Als er die Augen wieder öffnete, glommen sie weiß. Die Farben des Raumes um ihn herum wirkten nur als stumpfe Graustufen. Seine eigene gelblich-grüne Aura, die durch sein Leben und seine Kräfte entstand, hob sich um seine Hände und Arme gut vom Hintergrund ab, ebenso wie der Trank auf dem Boden, der in einem hellen silbrigen Blau leuchtete. Magie!
Kopfschüttelnd betrachtete er ihn ganz genau. Es gab keinen Zweifel. Verwirrter als vorher wechselte er zurück auf die normale Sicht.
Das erklärte so einiges, warf aber neue Fragen auf. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich. Wenn der Trank Magie enthielt, dann kam sie beim Brauen hinein. Wenn sie dabei hineinkam, dann musste sie jemand einbinden, der über magisches Potenzial verfügte, und das wiederum hieß, dass Frau Wollner zaubern konnte. Aber das war unmöglich! Er hatte sie des Nachts einmal betrachtet, da hatte sie nur die gewöhnliche schwache Aura eines normalen Menschen gehabt.
Das ergab alles keinen Sinn. Außerdem, wenn Elisabeth den Trank regelmäßig nahm und nicht tot umfiel, dann unterdrückte er sicher mehr als nur ein paar Allergiekrämpfe. Das Zeug brachte in kleinsten Mengen Katzen um. Moment! Wenn Elisabeths Mutter einen Tarnzauber einsetzte, so wie er einen in dem Amulett trug, dann könnte sie ihre Kräfte verbergen. Aber wie? Ebenfalls mit einem Amulett? Die waren extrem selten. Außerdem hatten Hexen es nicht nötig, ihre Aura zu verbergen. Menschen konnten Auren nicht sehen und Hexen nur, wenn sie ihren Blick aktivierten. Zwar konnte man die Aura selbst dann verbergen, aber das kostete – wie jeder Einsatz von Magie – Kraft. Was verbarg Frau Wollner? Was war sie? Und Elisabeth?
Wenn er mal annahm, dass Frau Wollner eine Schamanin oder Hexe war, dann war es wahrscheinlich, dass auch ihre Tochter die gleichen Kräfte besaß. Er hatte Elisabeths Aura noch nie betrachtet, doch dafür hatte ja er auch noch keinen Grund gehabt. Warum sollte eine Mutter ihre eigenen Kräfte verbergen und ihre Tochter systematisch vergiften? Das ergab für ihn keinen Sinn. Wie er es auch wendete, es fehlten ihm Details. Vielleicht kam er der Sache näher, wenn er den Trank nachbraute. Aber dafür brauchte er noch einige Komponenten. Er könnte vielleicht seinen Booster auch so milchig machen, wenn er etwas an den Zutaten drehte. Den Booster hatte Elisabeth vertragen. Möglicherweise brachte dies ihn der Aufdeckung des Geheimnisses näher.
Beherzt griff er nach seinen Utensilien und machte sich ans Werk. Er musste nur noch so eine Bügelflasche auftreiben, aber die gab es nur bei den Wollners. Er würde noch einmal stehlen müssen.
Spieglein, Spieglein an der Wand

In ein dickes Handtuch gewickelt trat Sabrina aus der Dusche. Sie war froh, nach dem Lauf heute endlich aus den verschwitzten Klamotten raus zu sein. Während sie das eine Handtuch um sich herumgewickelt hatte, rubbelte sie mit dem anderen ihre Haare trocken, als sie in ihr Zimmer ging. Irgendwie lief in diesem Schuljahr alles etwas anders. Sie hatte endlich eine Freundin gefunden und auch mit Theobald wurde die Freundschaft besser. Es schien gerade so, als wenn Elisabeth die ganze Zeit gefehlt hätte. Sabrina konnte sich nicht daran erinnern, jemals so viel Sport gemacht zu haben, aber es ging ihr richtig gut. Sie stellte sich vor ihren großen Ikeaspiegel und musterte sich. Man sah noch nicht, dass sie nennenswert abgenommen hätte, aber das kam sicher bald.
Über den Spiegel fiel ihr Blick erst auf das Kleid, das immer noch an ihrem Schrank hing, dann auf die Handschuhe, die auf ihrem Nachtschrank lagen. Sie hatte sie jetzt schon lange nicht mehr angelegt. Nachdem, was zuletzt passiert war, verspürte sie nicht mehr viel Lust dazu. Ein bisschen Angst hatte sie schon vor ihnen. Als sie den Blick wieder hob, fuhr sie vor Schreck zusammen. Im Spiegel stand die alte Frau vom Friedhof hinter ihr, die sie tadelnd anblickte. Sabrina wirbelte herum, doch da stand niemand. Vorsichtig drehte sie sich wieder zum Spiegel und da war sie – in demselben mitternachtsblauen Seidenkleid und mit korrekt frisierten schneeweißen Haaren. Sie deutete in ihrem Spiegelbild hinter sie und dann auf die Handschuhe.
Sabrina starrte in den Spiegel, als könnte sie ihren Augen nicht trauen. Sie wandte sich erneut um, nur um ihr Zimmer wieder leer vorzufinden. Was passierte hier mit ihr? Da lagen die Handschuhe. Wollte die Alte im Spiegel die Handschuhe zurückhaben oder dass sie diese anzog? Sabrina floh aus dem Zimmer ins Bad. Sie schloss die Tür ab und überlegte. Jemand, der nicht da war, konnte ihr hoffentlich nicht in einen anderen Raum folgen. Oder doch? Ihre Beobachtung mischte sich mit Erinnerungen aus Horrorfilmen, die sie heimlich aus dem Internet heruntergeladen und die ihr die Nackenhaare zu Berge hatten stehen lassen. Das Bad war noch immer voller Dampf vom Duschen. Aber als sie den Spiegel frei wischte, stand die Alte direkt hinter ihr. Sabrina konnte nicht anders, sie stieß einen gellenden Schrei aus und versuchte, aus dem Raum zu kommen, aber in ihrer Panik riss sie den Schlüssel aus dem Schloss und bekam ihn nicht wieder hinein. Ihre Mutter rief von unten hoch, ob alles in Ordnung sei, doch sie konnte nicht antworten. Zitternd lehnte sie den Kopf gegen die Tür.
»Ich träume das nur ... ich träume das nur ...«, sagte sie laut zu sich. Endlich bekam sie den Schlüssel wieder hinein, sperrte auf, sprang in den Flur und stieß beinahe mit ihrer Mutter zusammen.
»Kind, was machst du für einen Lärm?«, verlangte diese zu wissen.
»Ich … ich …« Sie konnte ihrer Mutter wohl kaum erzählen, dass sie Geister von Menschen im Spiegel sah. »Ich habe noch immer nicht abgenommen«, stammelte sie.
Der Blick ihrer Mutter wurde milder. »Du bist eben traditioneller gebaut, so wie ich. Das ist nichts Schlimmes. Es gibt viele Jungs, die stehen auf etwas solidere Frauen.«
Das war das Letzte, was Sabrina jetzt hören wollte. Sie zog eine Grimasse, huschte in ihr Zimmer und knallte die Tür zu. In ihrem Zimmer hielt Sabrina hinter der Tür inne. Noch einen Schritt und sie würde sich wieder im Spiegel sehen.
»Gehen Sie weg!«, sagte sie dann. Dann entsann sie sich, dass sie den gruseligen Geist mit den Handschuhen vertrieben hatte. Ohne in den Spiegel zu schauen, sprang sie bäuchlings aufs Bett und schnappte sich die Handschuhe. Als sie diese übergestreift hatte, hob sie die Hände in Karate-Kampfpose und drehte sich um.
»Das wurde auch Zeit!«, meldete sich jetzt das Spiegelbild der alten Frau hinter ihr.
Sabrina blickte sie sprachlos an.
»Wie dem auch sei, zunächst muss ich dir danken. Du hast mein Geschenk angenommen. Ich hatte schon so meine Zweifel.«
»Aber … aber …« Sabrinas Verstand wollte einfach nicht richtig arbeiten. Dann sagte sie das Einzige, was ihr einfiel, weil es bei dem Geist auch schon funktioniert hatte. Dazu reckte sie ihre Brust vor und sprach mit leicht bebender Stimme: »Ich befehle Ihnen, gehen Sie weg!«
Das amüsierte die alte Frau sichtlich, denn sie hob vornehm die Hand und kicherte leicht, doch dann wurde sie wieder ernst und räusperte sich.
»Sehr nett, ich sehe, du hast schon die Grundzüge des Vertreibens verstanden, aber bei mir funktioniert das nicht. Ich bin nicht wirklich hinter dir!«
Sabrina überlegte fieberhaft. Sie hatte so viele Geschichten gelesen und gesehen, dass ihr jetzt mehrere Möglichkeiten einfielen, was hier gerade geschah. Schließlich überlegte sie laut: »Dann visualisiere ich Sie nur hinter mir? Sie stecken in den Handschuhen, richtig?«
Die Dame schien milde beeindruckt. »Ja und nein. Die Handschuhe erleichtern gewisse Dinge, auch die Kommunikation mit dir, da du noch so wenig weißt. Später wirst du sie dafür nicht mehr brauchen. Hast du eine Ahnung, wer ich bin?«
Sabrina brauchte gar nicht lange zu überlegen. »Sophie Wilhelmine Steiger! Sie sind am selben Tag gestorben, an dem ich geboren bin.«
»Richtig, meine Liebe. Und ich bin jetzt ein Teil von dir.«
»Was?«
»Es heißt Wie bitte. Aber im Wesentlichen hast du recht. Als ich starb, erwählte ich dich als meine nächste Inkarnation und du hast mich vor ein paar Wochen akzeptiert.«
»Moment mal. Ich habe niemals gesagt, dass ich Sie wäre.« In dem Augenblick, als sie es sagte, wurde ihr klar, dass das nicht stimmte. Sie hatte genau diese Worte bei dem Geist verwendet. Sie hatte es ihm ins Gesicht geschrien und ihn dann geboxt.
Offenbar las die Alte ihre Erkenntnis aus ihrer Miene ab. »Aha, du erinnerst dich also doch. Braves Mädchen. Bei all den Gruselgeschichten in deinem Leben wundert es mich ehrlich gesagt, warum du nicht schon früher darauf gekommen bist. Ironischerweise ist das doch dein größter Traum, oder?«
Die alte Frau machte eine Geste zu all den Büchern und wies zuletzt auf das Poster, wo sie das Bild von Bis(s) zum Morgengrauen manipuliert hatte.
Sabrina schluckte. »Aber das ist eine romantische Vampirgeschichte!«
»Ich werde dir einmal etwas über Vampire sagen. Es sind abgrundtief böse, blutsaugende und lebensverachtende Mistkerle. Den schmalztriefenden Schund, den ich mit dir habe anschauen müssen, hätte mir die Galle hochgetrieben, hätte ich noch meinen Körper gehabt. Oh, du musst noch so viel lernen.« Sie beugte sich etwas vor. »Vampire werden DICH fürchten!«, sagte sie mit einem Blick grimmiger Entschlossenheit.
Beide Frauen starrten sich über den Spiegel an. »Seit wann genau stecken Sie in mir?«, verlangte Sabrina zu wissen. »Sie sind doch nicht während meiner …«
»Genau!«, fiel die Frau ihr ins Wort. »Seit deiner Geburt. Seit diesem schönen Tage hast du zwei Seelen in deinem Körper. Na ja, genug Platz ist ja hier drin.«
»Was erlauben Sie sich? Raus aus meinem Körper!«
»So einfach ist das nicht. Das braucht Übung. Ich habe dich ganze sechzehn Jahre beobachtet und mich nun entschlossen, dich endlich auszubilden.«
»Zu was? Ich bin keine Hexe.«
»Nein, nein, keine Hexe. Mädchen, du wirst etwas Besseres, eine Nekromantin, genauso wie ich eine war.«
Zwinkerte die alte Frau etwa? Sabrina gaffte zurück.
»Nun ja, da gäbe es noch eins zu tun. Dein unvollständiges Ritual hat mich nur so weit gestärkt, dass ich jetzt über dein Spiegelbild mit dir reden kann, wenn du die Handschuhe trägst. Aber wenn du bereit wärst, mich endlich zu akzeptieren, dann könnten wir mit der Ausbildung beginnen.«
»Und warum sollte ich das wollen?«
»Nun, du hast dem Geist an den Kopf geschleudert, du seist ich. Und Geister, musst du wissen, sind zuweilen fürchterliche Tratschtanten. Sicherlich hast du mitbekommen, dass Inga einen Bannfluch auf mein Grab gelegt hat, dass ich nicht mehr raus kann. Sie muss also schon gepetzt haben. Ich habe mir in meiner Zeit nicht nur Freunde gemacht. Willst du nicht vorbereitet sein, wenn man dich findet?«
Sabrina wurde bleich. »Was? Wird der Geist etwa wiederkommen?«
»Oh nein, dieser Spezielle nicht. Er hat sicher viel zu viel Angst, dass du ihn auslöschst, sollte er deinen direkten Befehl ignorieren und hier nochmal aufkreuzen. Aber andere könnten und werden kommen. Du hast dich als mich ausgegeben und damit einen Teil des Bundes gesprochen. Ich werde jetzt meinen Teil versprechen und dann werden wir wahrhaftig eins sein.«
Die Alte kam näher. Sabrina zitterte jetzt am ganzen Körper.
»Damit du dich mit mir leichter tust, trete ich nur in Erscheinung, wenn du mich rufst. Aber ich werde stets bei dir sein – wie schon immer.«
Als die Alte direkt neben ihr stand, stammelte Sabrina, die merkte, dass etwas Unausweichliches passieren würde: »Wird es weh tun?«
»Nein, das hat es bei deiner Geburt. Dies wird eher eine Befreiung für dich.« Dann richtete die Alte sich zu ihrer vollen Größe auf, dass sie fast genauso groß wie Sabrina war, und sprach: »Ich bin Sabrina Wilhelmine Schubert! Ich bin sie und sie ist ich.« Dann von einem Augenblick auf den anderen trat sie in Sabrinas Körper.
Sabrina erschauerte kurz, weil die Berührung eiskalt war. Zu ihrem Erstaunen fühlte sie jetzt die andere Präsenz. Eine Stimme klang in ihrem Kopf.
Eine Kleinigkeit wäre da noch. Lass mich nur machen.
Mit aufgerissenen Augen sah Sabrina, wie sich ihre Hände bewegten. Sie konnte gar nichts tun. Die Hände zogen die Handschuhe aus und öffneten die Kommodenschublade. Sabrina sah sich selbst einen Cutter entnehmen, den sie sonst zum Schneiden von Papier verwendete. Sie schnitt sich dann in beide Hände. Es tat höllisch weh und das Blut tropfte auf den Boden. Eilig zogen die Hände die Handschuhe wieder an. Während das Blut in die Handschuhe sickerte, spürte Sabrina plötzlich, wie eine kalte Macht von ihnen ausging. Sie waren jetzt wirklich wie Haut.
Sie gehören jetzt ganz und gar dir, Sabrina!, klang die Stimme in ihrem Kopf. Du kannst damit jeden körperlosen Geist fangen, festhalten und abwehren. Aber sie könnten noch viel mehr. Sie werden dir helfen, bis du so mächtig geworden bist, dass du sie nicht mehr brauchst. Und damit genug für heute. Ruf mich immer im Spiegel und nenne mich Wilhelmine. Sollte dir leicht fallen, den Namen nicht zu vergessen.
Plötzlich war ihre Präsenz nicht mehr spürbar. Sabrina stand immer noch vor dem Spiegel. Das Handtuch war heruntergerutscht, doch sie merkte es nicht. Was war sie da eben eingegangen? Hatte sie eine Wahl gehabt?
Dann ging die Tür auf und ihre Mutter blickte herein. Sabrina quietschte erschrocken, hob eilig das Handtuch auf und scheuchte sie raus. Oh, was dachte ihre Mutter bloß von ihr? Sie kam immer im unpassendsten Moment herein und schon wieder trug sie diese Handschuhe.
Der Testlauf – Sabrina

Es waren zwei weitere Wochen ins Land gegangen und der Oktober zeigte sich von seiner schönen Seite. Sabrina hatte keine ungebetenen Besuche mehr gehabt, weder mit noch ohne Spiegel, und war dankbar dafür.
Manfred Burglos war wieder zurückgekehrt. In Geschichte war er richtig witzig, fand Sabrina. Er wusste so viele Anekdoten zu den Ereignissen zu berichten, dass sie im Unterricht richtig mitfieberte. Neben Theobald tat sich auch Elisabeth hervor und entwickelte sich langsam zu einer richtigen Streberin. Herr Burglos schien im Besonderen sie dranzunehmen, war Sabrina aufgefallen. Wann immer ihre Freundin sich meldete, kam sie relativ zuverlässig zu Wort. Theobald und sie konnten meist noch etwas ergänzen, aber es schien, als wenn der Lernknoten bei Elisabeth langsam platzte.
Dagegen wurden die drei Jungs in der letzten Reihe immer stiller. Vinzenz schien noch abwesender als sonst. Er hatte dicke Ringe unter den Augen und nickte oft ein. Zumindest war das im Unterricht so, doch auf dem Pausenhof ließen er und die Zwillinge die Coolen heraushängen. Sie rauchten heimlich und terrorisierten ihre Mitschüler mehr denn je. Ojan hatte Sabrina nach den Sprints versucht aufzuziehen, aber diese tat das nur mit einer Handbewegung ab. Ihr war Sport sowieso egal, behauptete sie, nur um sich die Woche darauf selbst zu widerlegen.
Im Sportunterricht kamen Ballwurf und Kugelstoßen dran. Endlich eine Disziplin, bei der Sabrina wirklich glänzen konnte. Sie schaffte auf Anhieb die zweitgrößte Weite der Mädchen, ganz knapp hinter Elisabeth, die in allem ein Naturtalent zu sein schien, was Sport hieß. Sehr zum Leidwesen ihrer Widersacher bekam sie in der Klasse dafür viel Anerkennung.
An diesem Tag stand der Testlauf an, den Manfred Burglos nicht nur für die AG, sondern für den gesamten Jahrgang und die Oberstufe angesetzt hatte. Fast alle Schüler und einige Lehrer machten mit. Insgesamt gingen an die zweihundert Läufer und Läuferinnen an den Start. Burglos hatte die Devise ausgegeben: Wachst über euch hinaus!
Der Weg führte vom Gymnasium aus Richtung Zellerfeld, über den Höhenkamm nach Wildemann und im Bogen an der Langlaufloipe entlang zurück zur Schule. Herr Burglos war schon seit dem Morgengrauen auf den Beinen. Er hatte einige Nichtläufer als Helfer dabei, um die Wegweiser aufzustellen. Ojan befand sich unter ihnen.
Viele Eltern waren ebenfalls gekommen, wie Sabrina bei ihrer Ankunft feststellen musste. Emilia Wollner befand sich jedoch nicht darunter. Elisabeth hatte kürzlich eine Flasche verloren und sich, wie Sabrina wusste, kräftige Schelte eingefangen. Sabrinas eigene Mutter war aber da und Anna Binsenkraut brachte mehrere Paletten mit Sportdrinks vorbei, verschwand aber gleich wieder in die Apotheke.
Ihre beste Freundin war aufgeregt, noch aufgeregter als sonst. Burglos hatte alles noch schlimmer gemacht, als er Sabrina und Elisabeth vor der Umkleide abgefangen und gesagt hatte, dass er mit einem Start-Ziel-Sieg von Elisabeth rechnete. Sicher, sie lief schnell, aber unter diesem Druck hibbelte sie hin und her und verschwand schließlich auf die Toilette, obwohl es bald losgehen sollte.
Zuerst sollten die Jungen starten, später die Mädchen. Sabrina wanderte umher, doch nach einer Weile ging sie wieder hinein, um Elisabeth dort zu suchen. An der Tür der Mädchenumkleide prallte sie mit Theobald zusammen. Er lief rot an und versuchte, sich schnell an Sabrina vorbeizudrücken.
»Theo, was machst du denn hier drin? Du hast hier nichts verloren.«
Ganz untypisch für ihn stammelte er nur, er habe sich in der Tür geirrt, weil er noch auf die Toilette müsse. Sie sah ihm kopfschüttelnd nach, wie er eine Tür weiter in die Jungenumkleide ging.
In diesem Moment wurde sie abgelenkt, als eine Lehrerin auftauchte, die schnell noch einen Tisch für die Kaffeetafel holen wollte. Da die Jungen fast alle am Start standen, packte Sabrina mit an und brachte den Tisch nach draußen.
Dort vor dem Schulgebäude waren mit Trassierband eine Startlinie und ein Zieleinlauf aufgebaut. Die Läufer wurden gerade aufgefordert, sich bereit zu machen. Vinzenz und Alim standen mit in der Startgruppe. Theobald kam erst im allerletzten Moment aus dem Gebäude und stellte sich zu der Läufergruppe dazu. Sabrina zeigte ihm den gehobenen Daumen zum Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Er grinste verschämt, wurde rot und blickte weg. Einen Moment später erklang der Startschuss. Die Eltern und einige Geschwister feuerten die Läufer an, aber schon bald waren auch die letzten davon um die Ecke verschwunden.
»Start der Mädchengruppe in fünf Minuten!«, verkündete Manfred Burglos laut.
Wo blieb Elisabeth nur? Als Sabrina sich überall umsah, fiel ihr ein Mann auf, der abseits von allen anderen Eltern etwas erhöht stand und der Laufgruppe der Jungs mit einem Feldstecher nachsah. Es gab schon merkwürdige Typen hier im Harz, dachte sie noch bei sich, bevor sie zurück in die Umkleide zu den Toiletten lief.
»Elle, wo bist du? Wir sind gleich dran.«
»Hier hinten!«, kam es hinter einer Tür hervor. »Kannst du mir meinen Trank bringen, ich bin so schrecklich nervös. Er ist in meinem Rucksack in der kleinen Bauchtasche, die ich sonst immer mit mir trage.«
»Ist gut, ich weiß schon!« Sabrina lief zu den Taschen und fand die Bauchtasche sogleich. Sie lag oben auf und stand offen. Die Flasche schaute schon heraus. Mit ihr lief sie zurück und reichte sie unter der Tür hindurch.
»Danke! Du bist eine echte Freundin, Brina! Ich weiß, ich kann das, aber jetzt spinnen meine Nerven. Ich komme gleich, geh schon mal vor.«
So ging Sabrina wieder zum Start zurück. Sie hatte Elisabeth genug beobachtet und ahmte jetzt ihre Aufwärmübungen nach, doch immer wieder schaute sie zum Eingang der Schule zurück. Der merkwürdige Typ stand noch da und schien jetzt die Mädchen zu beobachten. Sabrina richtete sich auf und runzelte die Stirn. Sie hatte ihn noch nie hier gesehen. Was wollte der hier?
Schließlich, als alle anderen schon aufgefordert wurden, sich bereitzumachen, kam Elisabeth aus der Schule gejoggt. Sie hatte den Kopf gesenkt und schien nur auf ihren Weg zu schauen.
»Was hast du noch so lange gemacht?«, wollte Sabrina wissen. Elisabeth sah sie nicht an, auch sonst niemanden. »Alles in Ordnung mit dir?« Sie berührte ihre Freundin locker am Arm, doch diese schob sie mit der Faust weg. Da sah sie, wie Elisabeth überall leicht zitterte. »Hast du deine Medizin nicht genommen?«, flüsterte sie.
»Doch!«, kam es aus gepressten Lippen und knurrend zurück, »Und nach dem Lauf bringe ich jemanden um! Und ich weiß auch schon ganz genau, wen.« Die Stimme klang so verzerrt, dass Sabrina sie nur mit Mühe verstehen konnte. Doch eine weitere Frage konnte sie nicht mehr stellen, weil der Startschuss fiel.
Elisabeth sprintete allen weg. Sabrina rannte mit sorgenvoller Miene hinterher, wusste aber, dass sie froh sein konnte, überhaupt durchzulaufen. Doch nach einer Weile merkte sie, dass sie sich gar nicht schlecht schlug. Sie konnte sich im Mittelfeld halten, was aber jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte.
Als Sabrina, schnaufend wie eine Dampflok, am Waldrand ankam, grinste dort ihr Klassenkamerad Ojan sie gehässig an.
»Diesmal gibt es keine Lorbeeren für deine Zickenfreundin!«, rief er ihr zu.
Zunächst konnte sie sich keinen Reim darauf machen, aber er brachte sie aus dem Tritt. Nach weiteren fünfhundert Metern bekam sie Seitenstechen und musste gehen. Während sie durchschnaufte, um das Stechen loszuwerden, arbeitete ihr Verstand fieberhaft. Warum hatte Ojan an der Abzweigung gestanden? Es war doch klar, wo der Weg langging. Das Trassierband war auch überflüssig. Sie kam nicht drauf, und als eine weitere Läuferin sich ihr näherte, nahm sie wieder Laufschritt auf. Sie wollte nicht die Letzte werden.
Auf dem letzten Anstieg zurück zum Gymnasium gab Sabrina noch einmal alles. Den ganzen Weg über hatte sie die Sorge um Elisabeth angetrieben, die eindeutig nicht sie selbst gewesen war. Sie konnte sich noch immer keinen Reim auf Ojan machen.
Auf die Zielgerade lief sie bei Weitem nicht als Letzte ein. Sie sah verbissen nach vorne, als sie die vielen Menschen erblickte. Ihre Mutter winkte direkt vorm Ziel, schrie und feuerte sie auf ihren letzten Metern an. Theobald stand neben ihr und rief auch, aber er sah irgendwie bekümmert aus, ja er schaute an Sabrina vorbei, ganz so, als erwarte er jemand anderen. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Er war in der Mädchenumkleide gewesen. Der Trank! Er hatte vermutlich irgendwas daran gedreht. Als sie über die Ziellinie lief, hielt sie nicht an. Sie rannte an den ausgestreckten Armen ihrer Mutter vorbei, packte Theobald und schob ihn durch die Menge.
»Was hast du mit Elle gemacht?«, herrschte sie ihn an, während sie ihn hinter eine Hausecke schob. Theobald bekam so einen riesigen Schreck, als Sabrina wie eine Furie auf ihn eindrang, dass er erst kein Wort hervorbringen konnte. Sabrina ohrfeigte ihn, gleich dreimal hintereinander, bis er in Tränen ausbrach.
»Ja, ja, ich ergebe mich, hör auf. Ich mache mir doch auch schreckliche Sorgen.«
»Gib das mit dem Trank zu! Du warst in der Umkleide.« Energisch stemmte Sabrina ihre Hände in die Hüften. Der Schweiß rann ihr in Sturzbächen hinab, aber sie merkte es nicht, weil sie nur noch wütend war.
»Ja, doch, ich gestehe! Aber ich kann mir nicht erklären, was passiert ist. Ich habe doch alles mehrfach durchgerechnet und eine neue Variante meines Boosters mit Elles Trank gemischt. Es hätte wirken und sie kontrolliert stärken sollen. Sie hätte schon längst da sein müssen. Sie ist nicht angekommen, meine ich.«
Jetzt schwante Sabrina, was das blöde Grinsen vorhin von Ojan bedeutet hatte. Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
»Ich bin so blöd. Die haben sie auf den Waldweg nach Wildemann geschickt, diese Schweine. Ich muss zu Herrn Burglos. Elle läuft in die falsche Richtung und dreht vermutlich gerade durch oder bekommt einen Schock, weil sie ihren Trank nicht hat. Wenn ihr auch nur eine Kleinigkeit passiert ist, dann wirst du dafür bezahlen, Theobald Binsenkraut.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief los, um ihren Sportlehrer zu suchen. Theobald ließ sie wie ein Häufchen Elend in sich zusammengesackt an der Mauer zurück. Doch schon bald kam er ihr nach.






