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Als Sabrina Theobald entdeckte, blickte sie ihn wütend an, aber er kam auf sie zu und sagte: »He, es tut mir wirklich schrecklich leid. Lass mich auch helfen.« Dabei sah er so jämmerlich aus, dass sie gegen ihren Willen weich wurde.
Sabrina zögerte noch einen Moment, dann entschied sie: »Gut, wir brauchen jeden, der helfen will. Frau Wollner kommt gleich mit dem Auto, meine Mutter bleibt hier und Herr Burglos läuft die Runde mit einem Kollegen nochmal ab. Der kommt in fünf Minuten her, zieht sich nur noch schnell die Laufschuhe an. Ojan ist nicht da und Vinzenz und Alim sind auch verschwunden. Ich habe den Erwachsenen gesagt, dass Ojan sich vermutlich einen Spaß erlaubt hat, aber ich wette, die anderen beiden stecken mit ihm unter einer Decke – wie immer.« Dann wandte sie sich an ihre Mutter. »Mama, Theo und ich laufen die Strecke rückwärts ab, dann geht es schneller, falls sie den Weg wiedergefunden hat und von dort kommt. Ich nehme mein Handy mit.« Ihre Mutter, die immer noch telefonierte, nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Dann liefen beide los.
Der Testlauf – Elisabeth

Elisabeth schluckte ohne nachzudenken eine erhebliche Menge des Trankes, den ihr Sabrina gerade unter der Toilettentür durchgereicht hatte, bevor sie feststellte, dass der Geschmack nicht stimmte. Er war schon immer eklig gewesen, aber diesmal hatte er sie im Nachgeschmack an den Booster von Theobald erinnert. Und prompt hatte die Wirkung eingesetzt. Theobald musste ihren Trank mit einer neuen Variante seines Boosterzeugs gemischt haben. Er war schon die ganze Zeit darauf erpicht gewesen, mehr über den Trank zu erfahren, und letztens war doch eine weitere Flasche verschwunden, obwohl Elisabeth sich sicher war, sie nicht verloren zu haben. Die Wirkung übermannte sie. Jedes Geräusch um sie herum wurde übermäßig laut, so wie das Strömen des Wassers in den Rohren. Das Kribbeln schoss aus ihrem Magen in alle Körperteile und lies sie zittern und ihre Muskeln flattern.
Mistkerl! Sie wurde in einer Art wütend, die sie vorher nicht gekannt hatte. Von draußen hörte sie kurz darauf überdeutlich die Aufrufe zum Start. Der Lauf würde bald losgehen. Sabrina wartete sicher schon auf sie. Verzweifelt grub sie die Fingernägel in die Hände. Der Schmerz half ihr, den Kopf etwas klarer zu bekommen. Sie schlug gegen die Wand, Schmerz explodierte in ihrer Hand und die Haut platzte auf. Wieder und wieder drosch sie dagegen, bis die Fliesen sprangen und von der Wand fielen, doch jetzt hatte sie fast wieder einen klaren Kopf. Sie riss die Klotür auf und schlug sie hinter sich so heftig zu, dass sie aus den Angeln brach. Sie würde laufen und dann würde jemand leiden. Theobalds Gesicht erschien in ihrem Geist und sie kanalisierte ihre Wut auf ihn, ja sie würde ihn einholen und auf dem Weg zusammenschlagen, bis er wimmerte.
Hauser ging schnell zurück zu seinem Jeep. Sein Besuch bei Jennifer war aus mehrerlei Sicht schockierend gewesen. Das Haus verfiel zusehends, sie war sichtlich gealtert und trank viel. Er hatte es gerochen, als sie ihm die Tür aufgemacht hatte. Ihr Schock, ihn wiederzusehen, hatte prompt zu einem Kreislaufzusammenbruch geführt. Er hatte sie aufgefangen und hineingetragen. Dann hatten sie doch versucht zu reden. Aber am meisten hatte ihn getroffen, als sie ihm eröffnete, dass er ein Kind hatte. Er und Vater? Sie hatte es ihm nie geschrieben. Als er nicht so reagierte, wie sie es wohl gehofft hatte, hatte sie ihn nur noch beleidigt und angeschrien, wo er all die Jahre gewesen war. Vorsichtig hatte er versucht, ihr zu erklären, dass er jetzt ungewöhnlichen Geschichten nachjagte und darüber Artikel schrieb. Doch sie hatte das als Spinnerei abgetan. Er hatte von ihr nicht einmal erfahren, wie das Kind hieß. All das hatte er in der Folgezeit recherchiert. Diese Spur hatte ihn hierher geführt, an diese Schule. Sein Kind nahm an diesem Lauf teil und es erfüllte ihn mit Vaterstolz, zu sehen, dass es so sportlich war. Bis eben hatte er darüber nachgedacht, bis die Mädchengruppe losgelaufen war. Der Start des großen, blonden Mädchens, die als Letzte zu den Läuferinnen getreten war, hatte ihn in seinen Bann gezogen. Er würde an eine andere Stelle fahren und von dort nochmal beobachten.
Wie im Rausch rannte Elisabeth im Sturmlauf über den Parcours und nahm links und rechts nur vage Gestalten wahr. Sie hatte eine Beute und würde sie jagen. Als sie in den Wald kam, verlief das Absperrband nach rechts. Ojan stand einsam mit einer Art Lotsenkelle da und wies sie weiter. Dass er höhnisch grinste, registrierte sie nicht.
Ein Beobachter im Schatten der Bäume hatte gesehen, wie der Junge das Trassierband gelöst und mitten über den Laufweg gespannt hatte, nachdem die letzten beiden Jungen vorbeigelaufen waren. Der eine hatte ihm zugerufen, dass sie die Letzten seien, aber er sich beeilen solle. Jetzt kam eine einsame Läuferin näher. Es war sie. Sie lief schnell und elegant. Der Junge wies sie auf den falschen Weg und sie bog ab. Er führte nach Wildemann ins Tal und war viel länger als der andere Weg, den er selbst vorher inspiziert hatte. Was hatte das zu bedeuten?
Kaum war das schlanke Mädchen außer Sicht, da band der Junge das Trassierband wieder ab und brachte es in die alte Position. Sie isolierten sie. Der Beobachter erhob sich und lief ihr hinterher, allerdings durch den Wald und das Unterholz, doch das kümmerte ihn nicht. Er war schnell genug.
Elisabeth lief und lief. Während sie durch den Wald rannte, ging es ihr immer besser und die übermäßige Wut verebbte langsam. Sie schnappte während des Laufens Gerüche auf, die so intensiv auf sie wirkten, wie sie es vorher noch nie gerochen hatte. Geräusche drangen an ihre Ohren. Und da ein Knacken. Jemand lief oberhalb von ihr durch den Wald. Sie reduzierte ihr Tempo etwas, um besser hören zu können, doch schon war es wieder weg. Vielleicht ein Reh. Sie lief weiter und wunderte sich, dass sie die Jungengruppe immer noch nicht eingeholt hatte.
Als sie an die nächste Kreuzung kam, stand bereits jemand dort. Ein Mann, etwas über dreißig, so wie ihre Mutter. Er sah extrem gut aus, aber das irritierte Elisabeth viel weniger, als dass er bis auf eine Art Tüte, die er sich vor seine Hüften hielt, nackt da stand. Ein Verrückter? Sie stoppte verwirrt, denn er versperrte ihr den Weg.
»Äh ... alles in Ordnung?«, rief sie ihm zu.
»Ja, schon, ich war nur im See schwimmen und ich habe meine Klamotten am Ufer nicht mehr gefunden!«, erklärte er lächelnd.
Es sollte wohl unschuldig aussehen, doch dafür schien er es zu sehr zu genießen. Sein Blick hatte etwas Verwegenes. Das irritierte sie noch mehr.
»Ist auch nicht so wichtig, das passiert mir öfter. Du bist von dem Schullauf, richtig? Da bist du aber vom Kurs abgekommen. Die Leute haben heute den oberen Weg gesperrt, der im Bogen nach Clausthal zurückführt. Hier kommst du ins Tal nach Wildemann.«
Elisabeth blickte den Mann fassungslos an.
»An deiner Stelle würde ich mich sputen. So schnell, wie du bist, kannst du die noch einholen, aber du musst den schmalen Pfad hier direkt den Hang hochnehmen. Na los, lauf schon!«
Elisabeth warf ihm noch ein »Danke!« zu, dann bog sie ab und nahm den Pfad, der kaum mehr als ein Wildwechsel zu sein schien. Sie war ihm wirklich dankbar für diese Hilfe, auch wenn ihr das Bild seines Körpers, die Augen und diese Stimme nicht mehr aus dem Kopf wollten. Es hatte etwas magisch Anziehendes an sich gehabt. Woher wusste der Mann nur, wie schnell sie laufen konnte, überlegte sie weiter. Er hatte sie ja nur einen kurzen Moment gesehen. Aber dann schoss ihr eine andere Frage durch den Kopf: Warum war sie eigentlich vom Weg abgekommen? Dann dämmerte es ihr, dass Ojan etwas damit zu tun haben musste. In diesem Moment begriff sie, warum er so dämlich gegrinst hatte. Die Wut kochte wieder in ihr hoch und sie rannte, so schnell sie konnte.
An der Kreuzung schnüffelte der Mann. Was für ein ungewöhnlicher Geruch!, dachte er bei sich. Definitiv interessant! Hinter dem Mädchen steckte mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Sie galt es weiter im Auge zu behalten. Er sprang wieder ins Gebüsch und fiel nach vorne. Wenige Sekunden später huschte ein Schatten durch das Unterholz und folgte ihr mühelos den Pfad bergauf.
Elisabeth nahm die letzten Meter durch die Büsche und sprang wieder auf den Weg. Hier hing der Geruch von Schweiß in der Luft. Sie war wieder auf dem Rundweg. Vor ihr, keine fünfzig Meter, sah sie Vinzenz und Alim gemächlich dahinjoggen. Sie stieß einen Schrei aus und rannte ihnen hinterher. Alim drehte sich daraufhin kurz um und stolperte fast, als er sie sah. Er stieß Vinzenz an und nun schaute auch er. Sie konnten es beide nicht fassen und liefen plötzlich schneller. Elisabeth holte spielend auf.
Als sie die beiden fast erreicht hatte, höhnte Vinzenz: »Na, eine Extratour gedreht, Süße?«
»Ich bin nicht deine Süße,« kam es zurück, »und nach dem Rennen sprechen wir uns unter vier Augen, aber jetzt lasst mich vorbei!«
Die Jungs gaben sich ein Zeichen und wichen beide nach links aus, sodass rechts am Hang eine Lücke entstand. Elisabeth steuerte darauf zu, als Vinzenz Alim plötzlich mit einem übertriebenen »Uups!« stieß und dieser wiederum in Elisabeth prallte.
Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte den Hang hinunter. Panisch versuchte sie noch, Halt zu finden, doch es ging zu schnell. Sie überschlug sich mehrfach und krachte weit unten gegen einen Baum. Dann wurde alles dunkel.
Der Beobachter sah aus der Ferne die Szenerie. Die beiden Jungen hatten offenbar nicht damit gerechnet, dass das Mädchen komplett abstürzte, aber bei dieser Geschwindigkeit hatte man kaum Möglichkeiten abzubremsen. Sie war entweder schwer verletzt oder tot. Die Jungen gerieten in Panik und flohen den Weg weiter. Sie ließen sie zurück.
Was für niederträchtige Wesen, dachte der Beobachter bei sich. Er lief los und huschte schnell über den Weg, bevor die ersten Läuferinnen um die Ecke biegen konnten. Er musste nachsehen, wie es dem komisch riechenden Mädchen ging.
Ein schreckliches Ereignis

Reinhard Kreitz ging mit seinem Yorkshire Terrier ›Poggi‹ im Wald spazieren. Er war alleine in den Harz gefahren. Seine Frau hatte er in Hildesheim gelassen, weil sie sich vor ein paar Wochen an der Okertalsperre den Fuß verknackst hatte. So ganz unglücklich war er nicht darüber, denn so konnte er in Wildemann essen gehen und dabei ausgiebig dem Wein zusprechen, ohne ihre mahnenden Worte wegen der Autofahrerei ertragen zu müssen. In dem urigen Restaurant hatte er wieder einmal vorzüglich gespeist und der drallen Bedienung ein saftiges Trinkgeld gegeben.
Er schlenderte auf dem Weg zurück zu seinem Auto auf dem Waldweg entlang, der östlich von Wildemann unterhalb eines Hanges verlief, als Poggi plötzlich anschlug. Der Hund tat das oft, doch diesmal zerrte er wie wild an der Leine und strebte auf ein Fichtendickicht zu, das oberhalb lag. Kreitz versuchte erfolglos, seinen aufgebrachten Hund zu beruhigen. Als sein Herrchen in die Tasche langte, um ihn mit einem Leckerli abzulenken, was üblicherweise immer funktionierte, riss sich der Hund los und rannte ins Gestrüpp. Kreitz hörte ihn wild kläffen, doch der Hang war zu steil, um zu folgen. Er rief nach Poggi, der plötzlich zu winseln begann. Dann erklang ein Knurren, das eindeutig nicht von seinem Hund stammte. Die Fichten wackelten. Noch immer konnte Kreitz nichts sehen, doch die nächsten Geräusche ließen ihn zusammenfahren und verstummen. Ein Grollen, ein panisches Geheule von Poggi, dann ein Reißen und Schmatzen. Kreitz wurde bleich, sein Puls raste und er bekam Schweißausbrüche. Dann brach ein Schatten aus dem Unterholz und sprang vor ihm auf den Weg. Es war ein heller, fast blonder Wolf mit blutverschmiertem Maul. Er war riesig, größer noch als eine Deutsche Dogge, eher wie ein kleines Pony. Er kam direkt auf ihn zu.
Lange Jahre mit Übergewicht, intensivem Alkoholgenuss und ein sehr beschauliches Leben mit wenig Sport forderten ihren Tribut. In diesem letzten Moment blieb das Herz des Mannes stehen. Er griff sich an die Brust und rang noch einige Male um Luft, dann kippte er um und blieb reglos liegen. Der Wolf ignorierte ihn und rannte vorbei.
Eine ganze Weile später trafen sich die zwei laufenden Suchtrupps auf halbem Weg. Manfred Burglos hatte noch Herrn Stetter, den Physiklehrer, dabei. Keiner hatte etwas gesehen. Sie verschnauften gerade an einer Stelle, wo es steil den Abhang hinunter ging, als sie unten im Tal einen Krankenwagen näherkommen sahen. Der Wagen fuhr mit Blaulicht und Sirene von Langelsheim herauf. Eine weitere Sirene in der Ferne kündigte noch mehr Unterstützung an. Sabrinas Handy schrillte. Sie hatte es laut gestellt, damit sie es auch auf jeden Fall hörte. Ihre Mutter war dran.
»Sabrina, ich bin es. Wo bist du?«
»Wir und die Lehrer sind am Steilhang oberhalb von Wildemann. Auf dem Weg war sie nicht!«
»Gerate bitte nicht in Panik. Ich sitze inzwischen bei Frau Wollner im Auto und fahre nach Wildemann. Es ist ein Notruf angekommen, dass etwas passiert ist. Gib mir Herrn Burglos!«
Sabrina riss die Augen auf und gab das Telefon an den Lehrer weiter. Mittlerweile sahen sie den Krankenwagen ganz dicht an die Stelle fahren, oberhalb derer sie standen.
Manfred Burglos wurde bleich und sagte nur: »Ja! Ja, selbstverständlich. Wir bringen die Kinder hinunter!« Er legte auf.
Dann rief Theobald, der die ganze Zeit den Hang hinab gespäht hatte: »Seht mal! Da unten sind einige Büsche umgeknickt und dort liegt etwas Weißes.«
Sabrina sah auf die Stelle, auf die er deutete. Das sah aus wie ein Turnschuh. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und versuchte, den Abhang hinunterzukommen.
Burglos hielt sie zurück. »Wir können nicht Hals über Kopf da hinunter springen. Dort hinten gibt es eine Abzweigung. Die können wir nehmen.«
Sabrina wurde total panisch. Sie spürte, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Die Abzweigung, die Burglos erwähnt hatte, entpuppte sich als ein steiler Trampelpfad, der in Serpentinen den Hang hinabführte. An mehreren Stellen rutschten sie und die anderen Helfer aufgrund ihrer Eile leicht weg. Als Sabrina etwa auf der Hälfte ankam, sah sie den Turnschuh wieder. Sie wartete nicht auf die Lehrer, sondern lief quer über den Hang, sich immer an den Bäumen abstützend, auf den Schuh zu. Die anderen eilten hinterher. Sie erreichte die Stelle. Es war eindeutig Elisabeths Laufschuh. Das Schlimmste befürchtend blickte sie den Hang hinunter. Zwischen ihnen und dem unteren Weg war es noch ein Stück. Ein Fichtendickicht versperrte ihnen die Sicht, doch unten auf dem Weg liefen Leute. Jetzt konnten sie zwei Sanitäter ausmachen, die mit einem Notfallkoffer den Weg entlang gerannt kamen.
»Ich gehe vor! Der Hang ist hier unten nicht mehr ganz so steil. Wir können es riskieren.« Herr Burglos begab sich an die Spitze und ging direkt auf den Tumult zu.
Den Turnschuh wie eine Puppe an die Brust gedrückt und mit den Tränen ringend, stieg Sabrina hinterher. Keine zehn Meter weiter prallte sie gegen ihren Lehrer, der abrupt stehengeblieben war und sich an einem Baum abstützte. Am Stamm der nächsten Fichte direkt oberhalb des Dickichts hing ein großer Stofffetzen eines T-Shirts, er war voller Blut. Zwei junge Fichten lagen umgeknickt da. Als sie dem Blick ihres Lehrers dahinter folgte, wurden Sabrina die Knie weich. Kleidungsfetzen und noch mehr Blut, viel Blut. Es war einfach zu viel. Theobald wurde kreidebleich und hielt sich an Stetter fest. Burglos schaute mit grimmiger Miene zwischen die Bäume, dann stieg er tiefer und bückte sich. Er fand noch den zweiten Turnschuh, aber Elisabeth selbst war nirgends zu sehen. Er ging noch ein paar Schritte hinab, dann hob er etwas auf, dass er stirnrunzelnd betrachtete. Es war eine Hundeleine mit dem Rest eines Halsbandes daran.
»Ich geh nicht weiter! Ich kann das nicht!«, stammelte Sabrina.
Manfred Burglos, der immer noch die Hundeleine in der Hand hielt, wandte sich an seinen Kollegen. »Herr Stetter, wir gehen außen herum. Sie nehmen den Jungen, ich führe das Mädchen.« Er legte behutsam eine Hand auf Sabrinas Schulter und gab ihr den zweiten Turnschuh, den sie wie einen Schatz ebenfalls an ihre Brust drückte. »Es ist ein Krankenwagen da. Sie werden versuchen, sie zu retten! Komm, deine Mutter erwartet uns sicher schon unten!« Aus irgendeinem Grund hängte er sich die Hundeleine über die Schulter.
Emilia Wollner und Martha Schubert kamen in dem Moment angelaufen, als sie auf den unteren Weg stießen. Sabrina fiel ihrer Mutter in die Arme und heulte nur noch hysterisch. Emilia Wollner ignorierte alle und rannte zu den anderen Leuten und den Sanitätern, die über eine Person gebeugt arbeiteten und sie gerade reanimierten. Sie kam aber postwendend wieder.
»Es ist ein Rentner mit Herzstillstand, soweit ich sehen konnte. Wo ist meine Tochter?«
Sabrina heulte immer noch hemmungslos und drückte die Schuhe an ihre Brust.
Herr Burglos rief noch ein warnendes »Nein!«, aber Theobald antwortete, ohne nachzudenken.
»Oben im Dickicht haben wir ihre Turnschuhe gefunden, zerrissene Kleidung, und bei den Bäume hangabwärts war alles voller Blut.«
Der Sportlehrer konnte noch im letzten Moment hinzuspringen, als Emilia Wollner die Beine wegzusacken drohten. Doch dann loderte ein wilder Blick in ihren Augen und sie stieß Burglos weg.
»Ich muss meine Tochter finden. Sie ist da oben und sicher verletzt. Wir müssen sie suchen. Ich muss was tun, lassen Sie mich los!«
Es brauchte beide Lehrer, um sie daran zu hindern, Hals über Kopf loszurennen. »Frau Wollner, beruhigen Sie sich, Elisabeth war nicht in dem Dickicht. Ich habe schon nachgesehen.«
Ihr Geschrei hatte die anderen Leute aufmerksam gemacht, die sich bislang nur um den Mann geschart hatten. Eine längere Pause entstand. Plötzlich ertönte ein Klingeln wie von einem alten Telefon. Als die beiden Lehrer merkten, dass sie nur an ihr Handy gehen wollte, ließen sie Elisabeths Mutter los.
»Ja? Klara, Schatz, was ist los? … Was? … Wer?« Frau Wollner fasste sich an die Stirn, dann lachte sie schrill. Es klang schräg und unnatürlich. Dazu rannen ihr dicke Tränen über die Wangen. Alle anderen gafften sie nur an. »Sie ist zu Hause? Wie?« Wieder wurde sie unterbrochen und diesmal konnte Sabrina sogar etwas von dem verstehen, was Klara förmlich in den Hörer schrie: »… nackt … alles aufgegessen …«
»Was hat sie gegessen?«
Sabrina konnte genau sehen, dass die erste Erleichterung bei Frau Wollner wieder in Panik umschlug, als Klara weiter berichtete, bis ihre Mutter sie erneut unterbrach. Sie wurde sehr ernst und die nächsten Worte klangen nach einer Warnung.
»Bleib ja, wo du bist, rühre dich nicht von der Stelle und verschließe die Tür! Ich bin gleich da.« Sie legte auf und drückte für einen Augenblick das Handy an ihre Brust, während sie die Augen schloss. Ihre Unterlippe kräuselte sich und zitterte, als ringe sie mit sich. Dann blickte sie mit Tränen in den Augen in die versammelte Menge.
»Elisabeth lebt. Sie ist zu Hause, aber ihr geht es nicht gut. Ich muss da hin, danke für eure Hilfe. Es kommt alles wieder in Ordnung.« Den letzten Satz schien sie wohl eher zu sich selbst gesagt zu haben, denn sie wandte sich bereits ab. Ihre Augen hatten eine ganz andere Sprache gesprochen. Sie rannte los.
Sabrina und Theobald sagten noch immer nichts. Sie konnten es nicht glauben, doch die Erwachsenen atmeten erleichtert auf und umarmten sich untereinander alle. Auch die Kinder wurden gedrückt. Schließlich zückte Manfred Burglos sein Handy und bestellte ein Taxi. Dann machten sie sich auf den Weg an die Straße. Die Männer gingen nun vorweg, dann folgte Martha Schubert, die jeweils einen Arm um die Kinder gelegt hatte. Sabrina und Theobald tauschten unterwegs stumme Blicke. Sie brauchten nichts zu sagen, denn sie wussten auch so, was der jeweilig andere dachte: Hier stimmte etwas gewaltig nicht!
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