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Elisabeth bemerkte das Zögern bei ihrem Vater und er wollte etwas erwidern, doch ihre Mutter war schneller.
»Das ist alles kein Problem. Wir freuen uns sehr, dass wir aus der Stadt raus sind und etwas Natur um uns haben. Bis Dezember ist es noch hin!«
So, wie Frau Grubner daraufhin losprustete und viele Lachfältchen um die Augen ein lustiges Muster bildeten, musste man sie einfach gern haben, überlegte Elisabeth.
»Na, Sie werden es schon noch sehen, wenn Vater Harz Sie begrüßt, Kind!«
Sie meinte tatsächlich ihre Mutter, aber auf eine so liebenswürdige Art, dass man ihr dafür nicht böse sein konnte.
»Der Winter beginnt hier oft schon im Oktober, meistens wenn die Erstsemester sich eingeschrieben haben und nicht mehr zurückkönnen!« Immer noch lächelte sie in die inzwischen verwirrten Gesichter der Wollners und fischte einen dicken Schlüsselbund aus der Hosentasche. »Na, dann kommen Sie mal mit.« Doch sie blieb plötzlich stehen. »Schau mal einer an, noch ein hübsches Mädel. Willst du gar nicht aussteigen?«
Nun war ein ganz leichter sächsischer Akzent bei der Universitätsangestellten zu hören. Klara bemerkte die Aufmerksamkeit und tauchte ab.
»Ihr ist noch von der Fahrt schlecht und außerdem hat sie gerade ihr Bein in Gips!«, erläuterte Emilia Wollner.
»Ach nee, das ist aber schade. Na, denn wollen wir mal.«
Die handgeschnitzte Tür machte einen massiven Eindruck. Das Haus wirkte groß und bestand aus einem Mittelbau mit zwei Flügeln. Es gab so viel Platz, dass es ohne Probleme für zwei Familien gereicht hätte, fand Elisabeth.
Geschäftig erläuterte Emilia: »Hier kommt das Arbeitszimmer meines Mannes rein. Direkt nebenan können wir zwei Schreibtische hineinstellen, dann können die Mädchen dort ihre Hausarbeiten machen. Das Zimmer nebenan ist für Rollstühle geeignet. Bis der Gips ab ist, schläft Klara da, dann wird es das Gästezimmer.«
Elisabeth wunderte sich. Anscheinend hatte ihre Mutter schon Pläne, gerade so, als hätte sie bereits den Grundriss des Hauses wochenlang studiert und sich Gedanken gemacht. Dabei konnte die Entscheidung, hierher in den Harz zu ziehen, gerade etwas über einen Tag alt sein. Hatte da jemand nachgeholfen?
So ging es Raum für Raum durch das Haus. Im ersten Stock, dessen Boden an den meisten Stellen leicht knarrte, gab es mehrere Räume und zwei Bäder. Eins davon war ein großes Zimmer mit zwei Fenstern zum Wald hin. Es roch etwas abgestanden und muffig, aber Frau Grubner strahlte, als sie die Fenster weit öffnete und auf den Wald und die davor hinfließende Innerste zeigte.
»Na, wer wird dieses Zimmer nehmen?«
Es war eigentlich keine Frage, denn sie blickte direkt Elisabeth an, während ihre Mutter ins benachbarte Badezimmer schaute und zu ihrem Mann etwas über einen tropfenden Duschkopf sagte.
Mit gedämpfter Stimme setzte Frau Grubner hinzu: »Es liegt am weitesten vom Elternschlafzimmer entfernt und es gibt eine Art Feuerleiter an der Seite, über die eine sportliche junge Frau unbemerkt nach unten gelangen kann, wenn sie ihren Freund besuchen will«, flüsterte sie Elisabeth zu und knuffte sie wie eine alte Freundin in die Seite. So viel Vertrautheit verblüffte Elisabeth, doch Frau Grubner setzte noch einen drauf. »Immerhin bleibt euch hier oben außer Schule, Sport und Freunden nicht viel! Und die Eltern müssen ja nicht alles mitbekommen, was ihr so anstellt, oder?«
Elisabeth wurde rot bis über beide Ohren. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Frau Grubner wandte sich bereits mit einem Gluckser wieder ab und ging zu ihren Eltern. So blieb Elisabeth allein in dem Zimmer zurück. Es gefiel ihr, vor allem wegen der freiliegenden Dachbalken aus altem Holz. Mit der frischen Luft von draußen roch es auch gleich nicht mehr muffig. Sie blickte aus dem Fenster. Tatsächlich befanden sich dort in der Wand Eisengriffe, die man gut erreichen konnte. Sie überlegte kurz, dann fasste sie sich ein Herz und kletterte nach unten. Die Griffe saßen fest und machten kein Geräusch. Elisabeth kam sich wie eine Ausbrecherin vor. Kurz darauf stand sie hinter dem Haus auf einer verwilderten Wiese. Ein Trampelpfad führte zu einer Feuerstelle. Es war wildromantisch. Sie lief los und schaute sich alles an. Es wirkte gar nicht langweilig auf sie. Lose Steine rahmten die Feuerstelle ein und es lag einiges an Holz in der Nähe. Zwei quer liegende Baumstämme dienten als Sitzbänke. Nachdem sie diese begutachtet hatte, stieg sie ein paar Schritte zur Innerste hinab und steckte die Hände ins eiskalte Wasser, sodass ihre Finger schnell taub wurden. Sie setzte sich auf einen Stein am Rand und blickte in den Wald, der sich auf der anderen Seite erhob. Genau in diesem Moment schob sich eine Wolke weiter und die Sonne schien warm herab. Plötzlich konnte sie den Harz spüren. Die Hände auf dem Stein hielt sie den Atem an, denn eine Präsenz sickerte wie Sirup von unten in ihren Körper. Es war ein schweres, tiefes Gefühl, wie eine Kraft, die sie über die Schwerkraft hinweg auf den Boden zog und ausfüllte. Es kribbelte etwas unterhalb ihrer Haut. Wie war das möglich? Es fühlte sich so gut an. Sie blieb sitzen und ließ sich ganz ausfüllen von dem Kribbeln.
Als Frau Grubner eine Stunde später gegangen war, hörte sie ihren Vater rufen. Elisabeth lief zurück und strahlte ihn so überglücklich an, dass ihr Vater, der bis eben noch ein miesepetriges Gesicht gemacht hatte, unvermittelt lachen musste.
»Na, dann haben wir ja wenigstens eine Person hier glücklich gemacht!« Er legte den Arm um seine große Tochter und ging mit ihr zum Auto. »Hier soll es einen guten Asiaten geben. Lust auf Tofu mit Nudeln?«
Elisabeth nickte eifrig.
Emilia Wollner saß bereits im Wagen und redete auf Klara ein. Diese hatte das Auto nicht verlassen. Als Elisabeth mit ihrem Vater zustieg, herrschte ihre Mutter sie an.
»Wo warst du? Wir suchen dich schon ewig!«
»Ich saß hinten am Fluss, nicht weit weg. Es ist herrlich hier, Mama. Kannst du das auch spüren, dieses schwere Kribbeln?«
»Nein, ich spüre nichts!«
Der Blick, den sie erntete, verschlug ihr abrupt die Sprache, denn die Augen ihrer Mutter wurden wieder stechend und hart und die Stimme so kalt, dass Elisabeth kein Bedürfnis mehr hatte, mit ihr zu sprechen. Aber sie sah noch mehr und fühlte es. Ihre Mutter log sie direkt an.
Ein anderes Mädchen

Die ersten Tage im Hotel Krone fühlten sich fast wie Urlaub an. Clausthal-Zellerfeld bestand aus zwei zusammengewachsenen Bergarbeiterstädten, und es gab viel zu entdecken. Michael Wollner verschwand frühmorgens gleich zu seiner neuen Arbeitsstätte, nachdem sie das Wochenende noch gemeinsam verbracht hatten. Der Universitätscampus erstreckte sich in südöstlicher Richtung, aber die alten Fakultäten standen direkt in der Stadt. So lag das Hauptgebäude an der Adolph-Roemer-Straße schräg gegenüber vom Oberbergamt und auf der gleichen Seite wie die größte Holzkirche Europas.
Das Mathematikinstitut befand sich direkt hinter der Post am Kronenplatz, wo auch gleich das kleine, aber nette Hotel Krone stand. Nach einigem Hin und Her hatte Emilia Wollner darauf bestanden, dass Klara und sie das eine Hotelzimmer bezogen und Elisabeth und ihr Vater das andere. Da ihr Vater kaum da war, hatte sie das Zimmer bis auf die Nacht für sich alleine. Das ging in Ordnung. In der nächsten Woche sollte der Möbelwagen kommen und Emilia Wollner fuhr für den ganzen Tag mit dem Auto weg, um alles vorzubereiten.
Merkwürdigerweise lehnte sie Elisabeths bereitwilliges Angebot zu helfen energisch ab. Stattdessen drückte sie ihr hundert Euro in die Hand und sagte: »Habt etwas Spaß heute, geht ins Kino und kauft euch ein Eissorbet. Aber vor allem, vertragt euch! Ich fahre kurz zum Haus, um die Maler einzuweisen, und dann muss ich noch etwas für deine Medizin einkaufen. Sie ist fast alle.«
Also ging Elisabeth zusammen mit ihrer Schwester, die an Krücken lief, nach Downtown Clausthal. So viele Geschäfte gab es in direkter Nähe zum Hotel Krone nicht. Nach Zellerfeld konnten sie nicht, das war mit Krücken zu weit. Dafür hätten sie den Berg hinunter und auf der anderen Seite die Goslarsche Straße wieder hochlaufen müssen. Aber das störte sie nicht, denn dort war noch weniger los als in Clausthal. Sie setzten sich also auf Drängen Klaras in die Grosse'sche Buchhandlung und lasen. Klara wurde sofort ein bequemer Sessel angeboten, doch Elisabeth musste sich auf den Boden davor setzen. Es gab schrecklich viele Bücher über technische Studienfächer und ein großer Anteil davon beschäftigte sich mit Mathematik. Es dauerte dann auch keine zehn Minuten, bis Elisabeth aufsprang und vorschlug, dass sie sich etwas umsehen und Klara später wieder abholen könne. Der war das nur recht. Also machte sich Elisabeth auf den Weg. Sie lief die Adolf-Roemer-Straße runter und wieder rauf. Kein Vergleich mit Hannover, aber irgendwie gab es alles Nötige. Das Kino schien nur einen Saal zu haben und war etwas zurückgesetzt durch einen Gang erreichbar. Den ausgestellten Fotos nach zu urteilen, wurde es von Studenten betrieben. Es lag sogar eine Liste für Wunschfilme aus. Hier konnten sich Interessenten mit einem Vorschlag eintragen und wer genug Stimmen bekam, dessen Film wurde gezeigt. Neben den aktuell angesagten Filmen standen ganz merkwürdige Titel da, die Elisabeth noch nie gehört hatte. Aber es schien zu funktionieren. Eine echt coole Idee, dachte sie. Dann erblickte sie einen Vorschlag: Ronja Räubertochter.
Sie schmunzelte, griff nach dem Kugelschreiber, der an einem Band befestigt war, und machte hinter dem Titel einen weiteren Strich. An einer Eisdiele hielt sie schließlich an und genehmigte sich ein Wassereis. Sie setzte sich an einen der kleinen Metalltische und leckte genüsslich. Für eine so kleine Stadt war doch recht viel los. Viele Studenten liefen zumeist in Gruppen vorbei, doch ihr fiel vor allem ein etwas untersetztes Mädchen in ihrem Alter mit schwarzen, kurz geschnittenen Haaren auf, das aus einer Seitenstraße trat. Es war komplett in Schwarz gekleidet. Elisabeth, der auch recht warm war, wunderte sich über den Aufzug. Das andere Mädchen musste sicher gewaltig schwitzen. Elisabeth selbst trug nur ein leichtes T-Shirt und Shorts. Das Mädchen blickte sich zunächst sehr aufmerksam um, übersah aber, dass Elisabeth sie beobachtete. Urplötzlich verschwand es wieder. Als Elisabeth sich umblickte, bemerkte sie drei kräftige Jungen auf der anderen Straßenseite, die in Richtung Kronenplatz gingen. Sie schienen sehr ausgelassen und amüsierten sich anscheinend damit, Touristen zu ärgern. Kaum dass sie gut zwanzig Meter vorbei waren, rannte die Schwarzhaarige über die Straße und verschwand zwischen dem Hauptgebäude und einem Markt in der Graupenstraße. Dabei fiel ihr etwas aus der Tasche. Elisabeth sprang auf, lief darauf zu und hob es vom Boden hoch. Es handelte sich um ein Musterkatalog für Tattoos. Elisabeth wunderte sich nicht, da die andere doch schon sehr nach Gothic aussah. Sie folgte dem Mädchen, um ihm die Zeitschrift zurückzugeben. Doch als sie um die Ecke bog, war es nirgends zu sehen. Es musste entweder durch irgendeine Tür verschwunden oder weitergerannt sein. All das kam ihr immer merkwürdiger vor. Sie lief die Straße entlang und kam auf die Burgstätter Straße, die den Berg hinunterführte. In einiger Entfernung konnte sie einen schwarzen Haarschopf ausmachen, der gleich darauf nach rechts verschwand. Elisabeth sprintete los. Rennen tat ihr gut und sie lief schnell auf die Stelle zu, wo sie eben noch das schwarzhaarige Mädchen ausgemacht hatte. Warum flüchtete es nur? Hinter dem Haus führte ein schmaler, unbefestigter Weg zu einer Pforte, dahinter lag offensichtlich der Friedhof. Betreten blieb Elisabeth stehen. Auf den Friedhof wollte sie ihr nicht folgen, das wäre irgendwie nicht richtig. Sie blickte nochmal auf das Magazin, aber es klebte keine Adresse darauf. Elisabeth zuckte mit den Schultern und steckte es in ihre Hosentasche. Dann orientierte sie sich kurz. Sie hatte sich den Stadtplan leicht eingeprägt, denn die Bergstadt war mit ihren sechzehntausend Einwohnern viel kleiner als Hannover. Weiter unten musste die Erzstraße sein, die wieder zum Kronenplatz führte. Kurzerhand lief Elisabeth weiter und kehrte dann zurück zu Klara, die immer noch an derselben Stelle saß wie eine Stunde zuvor, als Elisabeth sie hier zurückgelassen hatte.
Wieder einmal schwitzte Sabrina wie verrückt und bekam fast keine Luft mehr. Sie lehnte kurz vor dem Friedhofstor hinter einem Schuppen an der Wand und kämpfte darum, wieder zu Atem zu kommen. Sie war einfach nicht fürs Laufen geschaffen. Zunächst wäre sie um ein Haar auf die drei Deppen getroffen, doch am meisten hatte sie das hochgewachsene fremde Mädchen irritiert. Es hatte sie beobachtet. Das hatte sie aus den Augenwinkeln gesehen und so getan, als wenn sie es nicht bemerkt hätte. Zunächst hatte sie die Fremde für eine Touristin gehalten, aber dann war sie aufgesprungen, um ihr zu folgen, als Sabrina um die Ecke der Graupenstraße gebogen war und noch einmal zurückgeblickt hatte. Sabrina war daraufhin in Panik losgerannt, so schnell sie konnte. Warum, das wusste sie nicht, aber vielleicht war die Fremde eine Bekannte von Vinzenz und als Späherin eingesetzt worden.
»Mich überrascht ihr nicht«, sagte sie zu sich selbst, kramte ihren kleinen Taschenspiegel hervor und schaute damit um die Ecke. Tatsächlich, nur wenige Sekunden später tauchte das Mädchen auf. Es blickte den Weg hinunter, den Sabrina gerade genommen hatte, zuckte dann aber mit den Schultern und blickte auf eine Zeitschrift in ihrer Hand. Es steckte sie weg und lief weiter. Aus ihrem Versteck heraus konnte Sabrina sehen, dass es leichtfüßig und schnell wie eine Gazelle lief. Und die Zeitschrift kam ihr erstaunlich bekannt vor. Als sie danach tastete, bemerkte sie, dass ihre fehlte.
»Ich Idiotin, ich werde langsam paranoid! Die wollte mir nur helfen.« Sie ließ den Spiegel sinken und steckte ihn seufzend wieder ein. Die Zeitschrift hatte viel gekostet.
Sie schlüpfte durch die Pforte auf den Friedhof. Vorsichtig, fast schon ehrfürchtig nahm sie die Handschuhe heraus und ging auf den Grabstein zu, auf dem sie diese gefunden hatte. Sie hatte sich vorgenommen, sie einfach dort abzulegen, aber daraus wurde nichts. Eine junge Frau stand vor dem Grab. Sie war für den Harz zu vornehm gekleidet. Ein modischer Hosenanzug in einem Fliederton, eine schicke Bluse und teure italienische Stilettos. Sabrina blieb in einiger Entfernung stehen und verbarg sich hinter einem Baum. Die Frau hatte einen Regenschirm dabei, mit dem sie auf dem Boden herum kratzte. Das kam Sabrina sehr merkwürdig vor. Noch merkwürdiger war, dass Sabrina ein Kribbeln spürte, während sie die Frau beobachtete, die nun das Grab umrundete und dabei achtlos auf andere Gräber trat. Sabrina blickte sich um, aber alle anderen auf dem Friedhof – zwei Seniorinnen und ein alter Mann, die am Wasserhahn standen und sich unterhielten, eine Mutter mit Kinderwagen und einem Kleinkind auf einer Bank, eine Frau mit einer Harke drei Reihen weiter, die Unkraut jätete – waren abgelenkt. Niemand außer ihr beachtete die Fremde.
Als die seltsame Frau schließlich wieder vor dem Grab stand, öffnete sie ihre Handtasche und entnahm einen kleinen Gegenstand. Sabrina sog scharf die Luft ein, als sie sah, dass es eine Art Messer war, mit dem sich die Frau ohne zu zögern in die Hand schnitt und mit einer energischen Bewegung Blut auf das Grab spritzte. Sabrinas Nackenhaare begannen sich aufzustellen und sie spürte, wie die Handschuhe, die sie immer noch hielt, eiskalt wurden. Die Frau wiederholte die Geste noch mehrfach, dann steckte sie das Messer wieder weg und wickelte ein Taschentuch um ihre Hand. Sie schien zufrieden mit sich selbst zu sein, drehte sich elegant um und stelzte in großen Schritten auf den Haupteingang zu. Die anderen Friedhofsbesucher schenkten ihr immer noch keine Beachtung.
Kaum dass sie aus Sabrinas Blickfeld verschwunden war, rannte diese zu dem Grab. Als sie es erreichte, stand dort auf dem Grabstein ein anderer Name:
Theresa Kuhnert
* 12.03.1956 † 24.01.2010
»Das gibt‘s doch gar nicht!« Irritiert schaute Sabrina in die nächste Reihe und dann in die davor. Nein, sie stand in der richtigen Grabreihe, nur das Grab war weg. Vorsichtig streckte sie die Finger aus, um den Stein zu berühren, doch sie zuckte zurück, als ein brennender Schmerz sich auf ihrer Hand auszubreiten begann, noch bevor sie den Stein berührte. Sie keuchte auf.
Dann zog sie kurzerhand die Handschuhe an, die sich immer noch eiskalt anfühlten, und streckte die Finger vor. Diesmal konnte sie den Stein anfassen. Ein leises Knistern erklang und ein Netz aus leuchtenden Linien breitete sich von dem Punkt aus, wo sie den Grabstein berührte. Symbole um das Grab erglühten. Als sie die Augen zukniff, offenbarte sich für einen kurzen Moment die alte Inschrift, die sie vor ein paar Tagen gesehen hatte. Aber dann wurden auch die Handschuhe heiß, Schwefelgeruch verbreitete sich. Mit einem dumpfen Knall wurde Sabrina zurückgeschleudert und krachte unsanft mit dem Rücken gegen einen anderen Grabstein, fiel darüber und landete in einem Blumengesteck. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an.
Sie brauchte ein paar Sekunden, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Sie war tatsächlich gerade durch einen Zauber umgehauen worden. Ein echter Zauber! So etwas gab es doch gar nicht. Sie blickte hoch, konnte aber sehen, dass niemand sie beachtete. Irgendwie hatte keiner der anderen Menschen Notiz von ihr genommen. Dann erschrak sie bis ins Mark. Die fremde Frau tauchte wieder auf, blickte sich suchend um und kam dann mit großen Schritten auf das Grab zu. Sabrina suchte panisch nach einem Versteck. Direkt neben ihr befand sich ein frisch ausgehobenes Grab. Sabrina überlegte gar nicht lange und glitt hinein. Unten zog sie eilig die Handschuhe aus und steckte sie weg, dann presste sie sich gegen die eine Wand des Grabes. Es war eng, kalt und feucht, aber davon spürte sie nicht viel. Eine Menge Erde rieselte auf sie herab und begrub sie halb, doch sie wagte sich nicht mehr zu bewegen, denn nun waren die Stilettoschritte ganz nah zu hören.
Jemand schnüffelte, dann murmelte eine weibliche Stimme etwas. Wieder spürte Sabrina das Kribbeln. Sie hielt die Luft an und wiederholte in ihrem Kopf immer wieder die Worte: Du siehst mich nicht, ich bin tot! Du siehst mich nicht, ich bin tot!
Die Sekunden zogen sich wie Minuten hin, dann vernahm sie ein unterdrücktes Kichern.
Oh nein, nun hat sie mich!, dachte Sabrina. Sie schloss die Augen und wartete auf das Unvermeidliche, doch es kam anders. Eine leise Stimme meldete sich.
»Da bin ich ja noch genau im richtigen Moment gekommen, um zu verhindern, dass du erneut dein Unwesen treibst. Lass den Quatsch. Du kannst diesen Zauber nicht brechen, das solltest du eigentlich wissen. Ich werde ihn von Zeit zu Zeit erneuern, damit du schön da bleibst, wo du bist. Und nun wird niemand mehr wissen, wo du liegst, man wird dich vergessen. Ich bin jetzt die Meisterin und lass mir nicht ins Handwerk pfuschen.«
Wieder vergingen lange Sekunden, dann entfernten sich die Schritte genauso schnell, wie sie gekommen waren. Sabrina hockte komplett mit Erde bedeckt in dem offenen Grab. Das taube Gefühl war noch nicht ganz verschwunden. Kalter Angstschweiß stand ihr auf der Stirn. Sie ahnte, wie knapp sie gerade einer bösen Begegnung entgangen war. Sie wartete noch eine Weile, um ganz sicher zu sein, dann kletterte sie mühsam aus dem Grab heraus. Die ganze Erde auf ihr machte es schwieriger, als es eh schon war.
Auf allen vieren zog sie sich auf den festen Rand und richtete sich auf. Sie musste sich recken, um die Glieder wieder zu durchbluten. Die Frau war wirklich weg, aber stattdessen stand, keine fünf Meter von ihr entfernt, das Kleinkind von der Bank, wo immer noch dessen Mutter saß. Das Kind starrte Sabrina wie gelähmt mit aufgerissenen Augen an, unfähig etwas zu sagen. Es musste wirklich ein Schock sein, ohne Vorwarnung jemanden vor sich aus einem Grab klettern zu sehen. Die Tatsache, dass die Person komplett in Schwarz gekleidet und von oben bis unten voller Dreck klebte, begünstigte diesen Eindruck nur.
»Hi! Schöner Tag heute!« Sabrina fiel nichts Besseres ein und blickte zur Uhr. »Oh, so spät, nun muss ich aber los. Bis zum nächsten Mal.« Dann rannte sie in Richtung der Pforte, durch die sie den Friedhof betreten hatte. Erst jetzt löste sich das Kind aus seiner Starre und lief seinerseits schreiend zu seiner Mutter.
Wundervoll!, dachte Sabrina bei sich. Ich bin heute fast den drei Deppen in die Arme gelaufen, dann verfolgt worden, habe eine Magierin bei einem Ritual auf dem Friedhof beobachtet, bin von einem Zauber umgehauen worden, hab mich in einem Loch versteckt, bin fast entdeckt worden und nun glaubt ein Kind, dass ich ein Vampir bin, der gerade aus dem Grab geklettert ist. Außerdem renne ich schon wieder. Ich glaube, ich bin in den letzten Tagen mehr gelaufen als vorher in einem ganzen Schuljahr. Ich brauche dringend eine Dusche.
Zutaten

Emilia Wollner fühlte sich ausgelaugt und völlig fertig. Seit Tagen hatte sie nicht geschlafen, um all das nachzuholen, was man besser vorher hätte planen sollen. Die Möbelpacker waren Mittwoch spät gekommen und hatten bis tief in die Nacht gearbeitet. Sie hatte ständig zwischen den Räumen hin und her laufen müssen, damit alles an seinen richtigen Platz kam. Sie hatte es noch geschafft, einen Maler zu organisieren, der in aller Eile anrückte, um die Räume schnell noch zu streichen, bevor die Möbel hineingestellt wurden. Der Eilaufschlag, den er nahm, war unverschämt, aber es gab keine Alternative. Der Maler hielt jedoch, was er versprach. Er rückte mit drei Gesellen und zwei Lehrlingen an und holte noch einen anderen Kollegen mit einem Gesellen dazu. Und dann legten sie in Windeseile los. Sie waren gerade mit dem Erdgeschoss fertig, als der Möbelwagen eintraf, und machten dann oben weiter. Der Kollege empfahl Emilia Wollner auch noch einen Klempner für den tropfenden Wasserkopf in der Dusche. Als sie ihn anrief, wusste der schon Bescheid und versprach, gleich am Folgetag zu kommen. Die Handwerker hier im Harz schienen alle schnell zu reagieren, auch wenn Emilia sich etwas wunderte, warum das so war.
Es ging schon auf drei Uhr morgens zu, als ihr ein Zettel in die Hand fiel, den sie extra auf das Armaturenbrett geklebt hatte. Zutaten für Medizin, stand dort. Emilia fluchte so, dass es gut war, dass ihre Töchter sie nicht hören konnten. Sie fingerte ihr Handy heraus und rief die Webseite mit dem Apothekennotdienst auf. Hoffentlich hatte noch eine Apotheke Notbereitschaft. Doch sie bekam keine Webseite. Es gab hier kein Netz.
»Verdammt, Borga, was hast du mir angetan. Und das nach all dem, was ich bereit war, für dich zu geben!« Sie fuhr von ihrem Haus nach Süden Richtung Prinzenteich los und schwenkte auf die Bundestrasse ein. Endlich hatte sie Netz, nur einen Balken, aber immerhin. Hier im Harz kam es nicht selten vor, dass man keinen Empfang hatte. Sie hielt und rief die Seite auf. Es hatte nur eine Apotheke Notdienst, die Bergapotheke in Zellerfeld.
»Na, dann wollen wir mal!«, seufzte Emilia. Ihre Arbeit war noch nicht vorbei. Sie ging in Gedanken die Liste der Zutaten durch und hoffte inständig, dass sie das nötige Quäntchen Glück haben würde.
Eine Viertelstunde später parkte sie ihren Wagen vor der Apotheke. Drinnen war alles dunkel, nur eine einsame Lampe an der Vorderseite mit einem Schild wies auf die Nachtklingel hin. Sie betätigte diese. Eine ganze Weile tat sich nichts, also klingelte sie erneut, diesmal energischer. Sie hörte schließlich eine Tür heftig zuschlagen, dann wurde es wieder still. Kurz bevor sie es erneut versuchen konnte, öffnete sich die Tür und ein Junge leuchtete mit einer Taschenlampe heraus. Emilia fiel auf, dass er wie sie tiefe Ringe unter den Augen hatte und komplett angezogen war. Sie schob es auf eine Computernacht.
»Guten Abend, was kann ich für Sie tun?«
»Ich würde gern den Apotheker sprechen, ich brauche dringend ein paar Sachen.«
»Meine Mutter ist nicht da. Sie ist unterwegs. Haben sie ein Rezept?«






