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Emilia zögerte. Der Junge sah intelligent aus, konnte aber kaum älter sein als ihre große Tochter. Fünfzehn, maximal sechzehn Jahre schätzte sie ihn.
»Äh, nein, aber ich weiß genau, was ich brauche. Doch was ist mit dir? Bist du nicht ein bisschen zu jung, um als Aushilfsapotheker zu arbeiten?«
Offensichtlich hatte sie seine Ehre verletzt, denn er reckte sich zu seiner vollen Höhe auf und überragte sie damit um einen halben Kopf.
»Erlauben Sie mal, ich bin mit Abstand der Beste in Chemie und Biologie bei uns und ich helfe schon seit vielen Jahren hier aus.«
»Wie heißt du denn?«, bohrte sie weiter nach.
»Theobald, Theobald Binsenkraut. Die Apothekerin ist meine Mutter.« Er musterte sie und setze hinzu: »Ich bin bald sechzehn. Früher galt man damit als erwachsen. Und wer sind Sie?«
Der Tonfall war schon reichlich unverschämt, aber sie versuchte zu lächeln, seufzte und antwortete: »Emilia Wollner, wir sind erst vor Kurzem hierher gezogen. Ich kenne mich noch nicht aus. Die Möbelpacker sind leider erst vor einer Stunde fertiggeworden.« Dann blickte sie ihn an. Vielleicht war es gut, dass ein unwissender Junge sie bediente und kein ausgebildeter Apotheker. »Ich brauche die Sachen wirklich dringend. Also bitte, versuchen wir es.«
Auf ihren verzweifelten Blick hin beugte er sich weiter heraus. Dabei leuchtete er ihr direkt mit der Taschenlampe ins Gesicht, sodass sie wegschauen musste. Hastig entschuldigte er sich sogleich dafür, während vor ihren Augen noch Sternchen tanzten. Er öffnete die Tür so weit, dass sie hinein konnte, und machte eine einladende Geste. Emilia Wollner beeilte sich, einzutreten.
»Warten Sie kurz hier!«
Drinnen machte Theobald Licht und verschwand durch eine Tür. Der Ausgaberaum lag links und war für die Kunden nur über eine große Durchreiche einzusehen. Emilia kam nicht umhin, die beeindruckenden Deckenarbeiten zu bewundern. Kurz darauf tauchte er auf der anderen Seite auf und fuhr die Kasse hoch.
»Also, was darf es sein?«
»Ich brauche Eisenhutextrakt, Schierling, Kaliumzyanid, Eibenrinde, reinen Alkohol, Tollkirschen, Rizinusöl und vor allem Argentum nitricum in hochkonzentrierter Form, nicht das homöopathische Zeug. Den Rest habe ich noch. Ach, und ein Aufputschmittel, so was wie Taurin.«
»Sie wollen sich da selber was zusammenmischen? Das meiste davon ist giftig, wenn nicht sogar tödlich. Wollen Sie jemanden umbringen?« Theobalds Miene wurde ernst.
»Du kennst dich ja gut aus, junger Mann! Ich mische mir daraus ein Abwehrmittel gegen Blattläuse und Milben. Ein altes Hausrezept.« Emilia versuchte wieder zu lächeln.
»Vieles davon ist ohne Rezept unverkäuflich. Ich darf es Ihnen nicht herausgeben. Und hätte das nicht bis morgen Zeit? Müssen sie mich unbedingt deswegen mitten in der Nacht aus dem Bett klingeln?«
Emilia Wollner hatte so etwas befürchtet, aber nun setzte sie alles auf eine Karte. Sie brauchte die Sachen unbedingt. Mit ihrer in langen Jahren erprobten Autorität in der Stimme sagte sie scharf: »So, so, und ich bin die Kaiserin von China. Ich weiß ganz genau, was du gerade gemacht hast, ich bin schließlich nicht dumm und kann Symptome erkennen. Wenn du mir hilfst, sag ich auch nicht deiner Mutter, was du so nachts treibst.« Sie wusste, dass sie hier bluffte, denn sie hatte keine Ahnung, was er gerade getan hatte.
Zu ihrer Genugtuung erschrak Theobald heftiger, als sie es erwartet hatte. Eine Pause entstand, in der sich verschiedene Gefühle auf seinem Gesicht spiegelten. Dann schien er, sich entschieden zu haben, und kramte unter seinem Pullover herum, als suche er etwas.
»Wenn ich das tue, will ich, dass Sie bei Ihrer Ehre schwören, dass Sie nichts sagen.«
Ganz schön forsch trat er auf, aber sie hatte ihn. »Gut, ich schwöre, dass ich deiner Mutter nichts …«
»Nie!«, unterbrach er sie.
Sie begann nochmal: »Also, ich schwöre, dass ich deiner Mutter nie sagen werde, was du in der Nacht so treibst.«
Theobald wirkte zufrieden. »Das reicht mir. Dann brauchen wir die Kasse auch nicht, ich nehme das Geld bar von Ihnen.«
Emilia nickte und suchte ihr Portemonnaie heraus, während Theobald verschwand. Erneut verblüffte er sie damit, dass er erstaunlich schnell wieder auftauchte und alle Zutaten gleich mit dabei hatte. Offensichtlich hatte sie ihn total unterschätzt. Beim Verhandeln um die Menge, die er bereit war, schwarz herauszugeben, musste sie nochmal nachhelfen, aber schließlich hatte sie alles beisammen. Es wurde teuer, aber das war ihr egal. Sie gab ihm noch etwas mehr als Schweigegeld und wurde dann von ihm freundlich vor die Tür eskortiert. Sie stieg ein und fuhr zurück zur Neuen Mühle. Sie hatte noch viel vor.
Theobald blickte ihr vom Fenster aus noch lange nach. Wer war diese Frau? Die Zutaten, der Zeitpunkt, die Mengen – alles verdächtig. Sie beherrschte den gleichen autoritären Tonfall wie seine Mutter. Er hatte sie beim Anleuchten magisch gescannt, aber sie hatte eine ganz normale menschliche Aura gehabt. Inzwischen war er sich sicher, dass sie sich etwas ganz anderes bei der Behauptung, sie wisse, was er nachts tat, gedacht hatte. Immerhin hätte sie die Jodflecken an seiner linken Hand bemerken oder die Dämpfe an seiner Kleidung riechen können. Das hatte sie nicht, aber als sie vor ihm stand, hatte er es mit der Angst zu tun bekommen und lieber eingelenkt. Nun würde er die Bücher fälschen müssen, damit die vorrätigen Mengen wieder stimmten. Das Silbernitrat war jetzt fast alle. Aber die Frau hatte so verzweifelt auf ihn gewirkt, dass er nicht anders gekonnt hatte, als ihr zu helfen. Er hatte ihr keine Sekunde geglaubt, dass sie die Zutaten für ein Blattläusemittel brauchte. Dafür reichte ein Teebaumöl-Wasser-Gemisch mit etwas Spülmittel. Was hatte die Frau nur vor? Er zuckte die Schultern, als er die Haupttür verriegelte und sich wieder Richtung Keller wandte. Für heute würde er aufhören. Übermorgen früh kam seine Mutter wieder aus Berlin. Sie hatte zu seiner großen Freude noch einige Tage dranhängen müssen. Er hatte sein Glück gar nicht fassen können, aber jetzt war er froh, dass sie bald wiederkam. Etwas Merkwürdiges ging in Clausthal vor. Erst diese Ausbrüche unkontrollierter Magie und dann diese Frau mit ihrem Nachteinkauf. In der Zeitung stand, dass in der letzten Woche wieder Schafe gerissen worden waren. Da war es gut, seine Mutter wieder hier zu wissen. Sie würde mit Bedrohungen aller Art mühelos fertig werden.
Nachdem er alles wieder aufgeräumt, den Weg zum Nachbarkeller wieder versperrt und die Bücher manipuliert hatte, ging er endlich ins Bett. Die Dämmerung hatte schon lange eingesetzt.
In die Neue Mühle

Elisabeth blinzelte. Die Sonne ging gerade auf. Ihr Vater schnarchte leicht neben ihr. Er war am Vortag früher von der Arbeit gekommen, wobei er als Begründung angegeben hatte, ihre Mutter habe ihm aufgetragen, Elisabeth die Medizin zu verabreichen. Dafür hatte Emilia ihn sogar aus einer wichtigen Besprechung geholt. Obwohl Elisabeth beteuerte, dies selbst zu können, hatte er ihr wieder einen ganzen Esslöffel davon eingeflößt.
Nun war die letzte Flasche leer. Was kam dann? Doch als sie sich umdrehte, stand neben ihrem Bett eine neue volle Flasche mit einem Zettel daran.
Bitte wieder einen ganzen Esslöffel nehmen und Flasche einstecken. Verliere sie nicht wieder! Bin schon unterwegs wegen des Klempners. Hole euch zum Mittagessen ab. Seid dann bitte fertig. Mama.
Elisabeth setzte sich schlaftrunken auf und musterte die Flasche. Hatte sie etwa Hoffnung gehabt, irgendwann die Medizin nicht mehr nehmen zu müssen? Am besten sie brachte es gleich hinter sich. Sie nahm die Flasche und den bereitliegenden Löffel und ging ins Bad. Dort füllte sie sich etwas ab und stellte die Flasche wieder weg. Die Farbe sah dunkler aus als sonst. Sie holte tief Luft, schob sich den Löffel in den Mund und schluckte. Das Brennen setzte sofort ein, diesmal in einer solchen Intensität, dass sie unwillkürlich aufkeuchte. Der Löffel entfiel ihrer Hand und sie musste sich mit beiden Händen am Waschbecken festhalten, um nicht umzufallen. Die Wandhalterung knackte bedrohlich. Das Brennen fraß sich bis in ihren Magen und von dort weiter in den ganzen Körper, bis in die Füße und von dort wieder hoch bis in die Fingerspitzen. Sie beugte sich weit nach vorne, spuckte ins Waschbecken und würgte, aber es half nichts. Die Wirkung konnte sie nicht mehr aufhalten. Ihr entfuhr ein langgezogenes Stöhnen, während sie krampfhaft versuchte, nicht ohnmächtig zu werden.
»Hölle, das Zeug ist um einiges stärker als die Medizin von Dr. Borga!« Ihr Puls ging hoch und das Herz schlug ihr bis zum Hals, trieb Schweißperlen auf ihre Stirn. Sie fühlte sich fiebrig. Zu ihrer Verwunderung hörte das Brennen nach ein paar Augenblicken komplett auf. Ihr Körper beruhigte sich wieder.
Elisabeth richtete sich auf und betrachtete sich im Spiegel. Das gleiche Gesicht mit den verwuschelten Haaren blickte sie an. Irgendetwas war anders. Sie warf sich in Pose, schob die Haare etwas hoch und musterte sich und fand sich richtig attraktiv, irgendwie verwegen reizvoll. Ihr Magen knurrte und teilte so vernehmlich mit, dass sie dringend etwas essen sollte.
Sie zog sich eilig an und schlich aus dem Zimmer, in dem ihr Vater immer noch im Bett schnarchte. Sie war schon fast aus der Tür, da fiel ihr die Flasche ein und sie ging zurück ins Bad. Sie wog sie in der Hand und steckte sie nach einigem Zögern in die Ledertasche an ihrem Gürtel. Wegen der Dosierung würde sie mit ihrer Mutter reden müssen.
Für sie als Veganerin gab es am Frühstücksbuffet nicht viel, das sie ohne Bedenken essen konnte. Zu ihrer großen Freude fand sie bei ihrer Ankunft Sojamilch und veganen Brotaufstrich vor. Es gab auch Früchte, also stürzte sie sich aufs Essen. Als schließlich ihr Vater mit Klara endlich nach unten kam, hatte sie Bauchschmerzen.
»Gute Güte, Betsy, was hast du gemacht? Du siehst aus, als würde es dir nicht gut gehen.«
Ihr Vater setzte gleich eine sorgenvolle Miene auf. Die Bedienung, die wegen Elisabeth schon mehrfach hatte loslaufen müssen, um Nachschub zu holen, schüttelte nur den Kopf, als sie mit der Kaffeekanne zu Herrn Wollner trat.
»Wenn Sie mich fragen, bräuchte die junge Dame mal etwas Gescheites zwischen die Zähne, von all dem Grünzeug wird man ja nicht richtig satt.«
Michael Wollner blickte gequält zurück. »Nun, wenn man auf alle tierischen Produkte allergisch ist, bleibt einem nicht viel anderes übrig.« Und zu Klara gewandt: »Nimm du ruhig den Rest von dem Aufstrich, ich muss mich ja nicht an eure Diät halten.« Er stand auf und bediente sich reichlich am Wurstbuffet. Klara und Elisabeth wechselten Blicke.
»Mama wird das nicht gutheißen, dass du dich hier mit totem Tier vollstopfst«, warf ihm Klara vor.
Doch er grinste nur zurück. »Nun, Mama ist momentan mit anderen Dingen beschäftigt. Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß. Wenn du mich nicht verpetzt, dann verrate ich Mama auch nicht, dass du gestern Abend noch den Spätfilm geschaut hast.«
»Woher …?« Doch Klara schluckte die anderen Worte runter. Ihr Vater hatte sie erwischt. Sie nickte nur stumm.
»Dann ist ja alles geklärt«, lachte Michael Wollner und biss herzhaft in ein Brötchen mit einer dicken Schicht Hackepeter mit Zwiebeln. Bei Elisabeth machte sich nun der Darm bemerkbar. Sie entschuldigte sich und eilte auf die Toilette.
Am späten Vormittag packten beide Mädchen die Sachen, nachdem ihr Vater schon lange zur Arbeit gegangen war. Elisabeth schleppte die schweren Koffer alleine nach unten. Die Zimmer mussten heute verlassen werden, also warteten sie am Empfang mit dem Gepäck, bis ihre Mutter auftauchte. Elisabeth wollte gleich mit ihr wegen der neuen Medizin sprechen, aber als sie sie sah und bemerkte, wie völlig fertig diese aussah, verschob sie es auf später.
Erst als sie bei der Neuen Mühle ankamen, ergab sich eine Gelegenheit, weil Klara gleich auf die Toilette musste. Am Auto beim Ausladen der Koffer kam ihre Mutter ihr zuvor.
»Hast du deine Medizin genommen? Wie hat sie gewirkt?«, Frau Wollner nahm ihre Tochter am Arm und blickte sie aufmerksam an.
Elisabeth schaute zurück. Die tiefen Ringe unter den Augen ihrer Mutter waren noch tiefer geworden. Das bestürzte sie. Noch mehr Sorgen wollte sie ihr nicht bereiten.
»Ganz gut«, log sie. »Du siehst fertig aus, Mama. Warum lässt du nicht mich die Koffer reinbringen und du legst dich erst einmal auf die Couch? Ich finde es nicht gut, dass Papa dich die ganze Umzugsarbeit machen lässt, während er nur im Institut abhängt.«
»Dein Vater hängt nicht ab, er arbeitet. Aber ich könnte wirklich eine Mütze voll Schlaf gebrauchen. Diese Nacht hat mir fast den Rest gegeben. In Ordnung, trag nur die Koffer rein. Du weißt ja schon, wo sie hingehören. Ich lege mich hin.«
Ihre Mutter drückte ihr den Autoschlüssel in die Hand und ging ins Haus. Elisabeth trug das Gepäck hinein. Das Haus war nicht wiederzuerkennen und das nach so wenigen Tagen. Mit den vertrauten Möbeln und komplett neu gestrichen sah es richtig gut aus, auch wenn hier und da noch etwas Dekoration fehlte. Fast wie Zauberei, staunte Elisabeth.
Sie verteilte die Koffer und ging dann in ihr eigenes neues Zimmer, wo sie erst einmal die Fenster öffnete, um den Farbgeruch hinaus zu lassen. Danach machte sie sich ans Auspacken. Klara kam spät von der Toilette und rief nach ihr. Sie konnte sie gut hören, obwohl Klaras Zimmer momentan im unteren Stockwerk lag. Sie überlegte kurz und kletterte dann schnell aus dem Fenster an der Feuerleiter nach unten. Sollte Klara doch selber sehen, wie sie ihren Koffer ausräumte.
Elisabeth lief zu der Senke an der Innerste, an der sie schon Tage zuvor gesessen hatte. Sie legte sich diesmal sogar auf den großen Stein, entspannte sich und ließ die Schwere des Harzes wieder in ihren Körper sickern. Es fühlte sich jetzt schon an wie zu Hause und dabei hatte sie noch nicht eine einzige Nacht in dem neuen Haus geschlafen.
Spät erst erhob sie sich und wanderte wieder zurück zum Haus. Die Hintertür stand offen, von drinnen kam Klaras Lieblingsmusik – Vivaldi! Ihre Schwester saß in einem Sessel mit ihrem Laptop auf dem Schoß. Sie blickte nicht einmal auf, als Elisabeth eintrat. Ihre Mutter lag auf der Couch wie tot. Sie störte sich weder an der lauten Musik noch an dem Luftzug, sondern schlief tief und fest.
Die Küche wirkte alt, schien aber gut in Schuss zu sein. Elisabeth stöberte nach etwas Essbarem. Der Kühlschrank war randvoll mit Dingen, die sie auch essen durfte. Sie bediente sich reichlich und setzte sich auf einen der Küchenhocker.
»Kennst du schon das WLAN-Passwort?«, rief ihr Klara über die Musik hinweg zu und nahm dabei keinerlei Rücksicht auf ihre Mutter, die sich aber nicht rührte. Elisabeth schüttelte nur den Kopf.
»Es ist Algorithmus3, hab's eben gerade geknackt. Das war ein Kinderspiel. Papa ist ja so einfallslos. In Hannover hatten wir Algorithmus2.« Klara wartete nicht einmal eine Reaktion ab und loggte sich ein. »Aber die Geschwindigkeit ist lausig. Wir haben nur eine alte ISDN-Leitung. Das müssen wir noch ändern.«
Klara war oft online. Sie besuchte regelmäßig mehrere Chatgroups und einige Wissenschaftsforen. Es war nicht Elisabeths Welt. Sie ging nach oben und räumte ihr Zimmer fertig ein. Dann warf sie sich aufs Bett und blickte an die Decke.
Sie musste irgendwann eingeschlafen sein, denn es war dunkler und kühler geworden, als sie sich aufsetzte. Unten konnte sie jemanden in der Küche werkeln hören und der Duft von Keimbratlingen kitzelte ihr in der Nase. Sie stand auf und schloss die Fenster. Die Sonne stand inzwischen tief. So viel hatte Elisabeth schon lange nicht mehr geschlafen. Vielleicht machte die Luftveränderung so müde und hungrig. Sie folgte dem Duft nach unten zum ersten gemeinsamen Essen im neuen Haus.
Kaiserstadt

Ihre Mutter fluchte nicht zum ersten Mal. »Gibt es denn hier überhaupt keine freien Parkplätze? Wir sind in der tiefsten Provinz und es gibt nicht einen freien Stellplatz. Das ist ja schlimmer als in Hannover.«
Sie setzte den Blinker und fuhr zum dritten Mal in eine kleine Seitenstraße in Goslar, von der Elisabeth das Namensschild nicht lesen konnte, weil es komplett mit Efeu überwuchert war. Elisabeth registrierte es nur beiläufig, sie fand die alten Häuser mit ihren vielen Mustern von Schieferschindeln und dem Fachwerk hübsch. Die alte Kaiserstadt war wunderschön, fand sie. Klara nervte schon wieder, diesmal allerdings nicht mit Wissen, sondern weil sie auf die Toilette musste.
Emilia Wollner hatte vor ein paar Tagen für die Behandlung von Klara eine Empfehlung bekommen. Da sie nicht mehr zu Dr. Borga gehen konnten, mussten sie wohl oder übel zu einem herkömmlichen Arzt. Woher ihre Mutter die Adresse hatte, wusste Elisabeth nicht, aber er musste gut sein, wenn ihre Mutter ihn ernsthaft an ihre Tochter heranließ. Dazu hatte sie viel herumtelefoniert. Klara quengelte nun so heftig, dass ihre Mutter schließlich entnervt in eine Hofeinfahrt setzte und dort hielt.
»So, springt raus, ich versuche es auf dem großen Parkplatz an der Kaiserpfalz. Dann kann Klara wenigstens schon mal aufs Klo.«
Als beide Mädchen ausgestiegen waren, brauste sie los. Es brauchte nur wenige Schritte zur Arztpraxis, die in einer Seitengasse lag. Ein aufgemotzter knallroter Porsche stand direkt davor auf einem privaten Parkplatz.
»Der Protzkopf steht hier falsch. Den könnten wir anzeigen, der ist ja aus Italien. Scheiß Touris!« Klara klang schon wie eine Harzerin, aber sie hatte recht. Das italienische Nummernschild musste zu einem Touristen gehören und der Parkplatz war eindeutig für das Nummernschild GS-DR-666 reserviert. Sie blieben kurz stehen.
»Was für ein cooles Kennzeichen! Dr. Teufels scheint Humor zu haben«, kommentierte Klara.
Die Anspielung hatte Elisabeth natürlich auch verstanden und musste ebenfalls grinsen. Die Praxis war innen hochmodern eingerichtet. In solchen Praxen verkehrten die Wollners normalerweise nicht. Hinter einem Tresen aus Eisen und Glas saß eine aufgedonnerte Sprechstundenhilfe und telefonierte. Sie hatte lackierte Fingernägel, gezupfte Augenbrauen und viel zu viel Make-up, registrierte Elisabeth gleich. Sie entschied sich spontan, sie nicht zu mögen.
»Natürlich können Sie heute Abend noch kommen, Nicolai. Der Doktor macht für Sie immer eine Ausnahme«, flötete diese gerade mit einer hohen Piepsstimme in den Hörer, während sie dazu geringschätzig mit den Augen rollte und dann die beiden Wollner-Kinder musterte. »Ja, selbstverständlich bin ich dann auch noch da. Immer zu Diensten. Bis dann!« Sie warf den Hörer auf die Gabel. »Was kann ich für euch tun, ihr Süßen?«
»Mein Bein ist gebrochen gewesen, sieht man das nicht?«
Klaras Tonfall klang trotzig. Sie mochte die Sprechstundenhilfe offensichtlich auch nicht. Doch Elisabeth hielt es für besser zu vermitteln.
»Sie hat noch Schmerzen. Ihr Name ist Klara Wollner, wir haben einen Termin. Unsere Mutter kommt gleich. Sie sucht noch einen Parkplatz.«
Ein geringschätziger Blick auf das Gipsbein und die Krücken, dann reichte sie ein Schreibbrett über den Tresen mit einem Blatt darauf.
»Das hier müsst ihr ausfüllen. Ihr könnt euch dazu in den Warteraum setzen.«
Offensichtlich schien sie zu glauben, dass beide wussten, wo der Warteraum lag. Elisabeth griff sich das Brett und einen Stift und ging auf die einzige Tür zu, die noch im Empfang zu sehen war. Dahinter befand sich ein Flur mit weiteren Türen. Das Erste, was sie bemerkte, war ein beißender Geruch nach Reiniger und Essig. Er stach in die Nase und betäubte die Geruchsnerven auf unangenehme Weise. Sie blieb für einem Moment stehen und schüttelte den Kopf, sodass Klara von hinten zu drücken begann.
»Nun geh schon weiter, du doofe Nuss, ich muss Pipi.«
Klara drängelte sich an ihr vorbei und nahm die erste Tür links, auf der deutlich WC stand.
Elisabeth ging weiter. Irgendwo von weit hinten erklang der gellende Schrei eines Mädchens, gefolgt von einer kreischenden Stimme. »Ich will keine blöden Spritzen mehr!«
Das kann ja heiter werden, dachte Elisabeth bei sich, da ist noch jemand, der keine Ärzte mag. Auf der zweiten Tür rechts stand Warteraum. Die erste hatte keine Aufschrift getragen. Als sie die Tür öffnete, sah sie, dass niemand in dem irritierend hell erleuchteten Zimmer saß. Es schmerzte in den Augen. Unschlüssig, was sie machen sollte, wartete sie auf Klara. Diese tauchte nach einer Weile deutlich entspannter auf. Sie gingen hinein und schlossen die Tür. Klara machte sich eifrig ans Ausfüllen. Sie liebte Formulare, während Elisabeth, die dafür ihrerseits nichts übrig hatte, sich mit zusammengekniffenen Augen umschaute. Alles wirkte modern und extrem sauber. Die Zeitschriften lagen in Reih und Glied sortiert, sodass man sich nicht traute etwas anzufassen. Der Raum gefiel ihr nicht, aber wenigstens ließ hier der beißende Geruch nach.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ihre Mutter auftauchte und berichtete, dass sie im Parkhaus von Karstadt stehe, wo auch immer das nun wieder war. Einige Dinge konnte Klara nicht ausfüllen, was nun Emilia Wollner tat und danach unterschrieb. Die Tür ging auf und die Sprechstundenhilfe schaute mit einem genervten Gesichtsausdruck herein. Offenbar überrascht, dass das Formular schon fertig war, kam sie herüber und nahm es an sich.
Beim Rausgehen konnte man von ihr in einem schnoddrigen Ton vernehmen: »Behandlungsraum zwei. Aber es darf nur eine Person mit und es wird dauern. Der Doktor hat gerade einen schlimmen Notfall.« Und schon war niemand mehr zu sehen.
»Mama, wenn das dauert, dann würde ich mich gerne in der Stadt umsehen. Ich habe mein Handy ja dabei. Ihr könnt mich anrufen, wenn ihr hier fertig seid.«
»Gut, aber gib nicht gleich dein ganzes Taschengeld aus.«
»Mama, ich bin schon groß.«
»Aber du bist eine lausige Rechnerin«, warf Klara ein, was ihr einen wütenden Blick eintrug.
Vor der Praxis orientierte sich Elisabeth und lief dann nach rechts, wo die nächste Straße An der Abzucht hieß, an der ein Bach entlang floss. Sie folgte dieser nach rechts, bis sie auf ein Schild stieß, welches in die Innenstadt wies. Der Marktplatz war schön. Alte Gebäude mit Schnitzereien umringten einen markanten Brunnen in der Mitte, der von einem Kaiseradler gekrönt wurde. Viele Leute, die meisten davon Touristen, blieben stehen und knipsten in einem fort. An der Ecke eines Hauses befand sich auf Höhe des ersten Stocks ein kleines eingeschnitztes Männchen, das offensichtlich sein Geschäft verrichtete, aber es kamen ihm aus dem Hintern nur goldene Münzen. Die Leute scharten sich darunter, deuteten darauf und lachten. Als ein Glockenklang ertönte, reckten sich alle Köpfe nach oben zum Glockenspiel, das dort tagsüber alle drei Stunden zu sehen und vor allem zu hören war, mit Figuren, die Geschichten aus dem Bergbau erzählten. Elisabeth sah auf die Armbanduhr. Es war fünfzehn Uhr. Sie schmunzelte etwas. In diesem Moment konnte man ganz unzweifelhaft erkennen, wer Tourist war und wer nicht. Die Einheimischen gingen einfach weiter, hoben zuweilen nicht einmal mehr den Kopf, wohingegen die Touristen andächtig stehenblieben. Einige versuchten sogar, die Bergmannslieder mitzusingen. Elisabeth entschied sich, ebenfalls weiterzulaufen. Sie querte den Platz und kam auf der anderen Seite in eine enge Gasse, in der viele Geschäfte lagen. Schon von weitem drang ihr der Duft nach Kräutern und Tee in die Nase. Gott sei Dank, sie konnte wieder etwas Angenehmes riechen. Den Gerüchen folgend rannte sie an der Ecke direkt in eine andere Person, die wohl recht zügig unterwegs gewesen war. Noch während Elisabeth sich reflexartig entschuldigen wollte, erkannte sie das Gothic-Mädchen, das sie schon einmal oben in Clausthal gesehen hatte und dem das Magazin aus der Tasche gefallen war. Im selben Moment schien diese das auch zu registrieren. Einige schier endlose Sekunden vergingen, in denen beide ihre Gedanken ordneten.






