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»Äh ... hi!«, stammelten beide dann gleichzeitig, und schließlich mussten sie lachen.
»Du bist mir doch in Clausthal nachgelaufen«, fing die andere an.
Elisabeth nickte. »Dir ist dieses Tattoo-Magazin aus der Tasche gefallen. Ich wollte es dir hinterherbringen, aber du warst so schnell verschwunden. Ich habe es aber noch, nur gerade nicht mit. Es liegt bei mir zu Hause. Entschuldige, wie heißt du überhaupt? Ich bin Elisabeth.«
»Sabrina. Und ja, ich habe einen schnellen Fuß gemacht wegen Vinzenz und seinen Schlägern. Hab' Ärger mit denen gehabt.«
Elisabeth erinnerte sich an die Jungs, die sie kurz vor dem Mädchen beobachtet hatte. »Oh ja, ich glaube, ich habe sie auch bemerkt. Die waren ziemlich groß und kräftig.«
»Japp! Die nehmen sicher schon Steroide oder so etwas. Du scheinst ganz okay zu sein. Bock auf'n Eis? Hier ums Eck gibt es eine super Eisdiele.«
Elisabeth, die sehr neugierig auf Sabrina wurde, nickte. Sie holten sich je zwei Kugeln in der Waffel, wobei Elisabeth sich an Fruchteis hielt. Sabrina nahm Rum-Krokant und Kaffee. In der Nähe setzten sie sich auf eine Bank.
»Bist du ganz alleine in Goslar?«
»Du doch auch.«
»Nein, meine Mutter und meine Schwester sind beim Arzt und ich wollte nicht die ganze Zeit warten. Gibt es hier was anzusehen?«
»Na ja, du bist neu, ganz offensichtlich. Da wären die Touristendinge, wie Marktplatz, Bäckergildehaus, Glockenspiel, Dukatenscheißer, Kaiserpfalz, die ist sehenswert, Zwinger mit coolen Folterinstrumenten, Kunsthandwerkermarkt und noch viel mehr. Aber ich finde das inzwischen langweilig. War schon überall. Du, sag mal, kann ich mein Magazin zurückhaben? Ich habe da ein Bild ausgesucht, dass ich mir stechen lassen will.«
»Na klar. Ich glaube, das ist der Totenschädel mit den Vampirzähnen, oder? Du hast ihn eingekringelt. Erlaubt das deine Mutter denn?«
»Richtig und nein, sie ist dagegen, aber mir ist das egal. Ich mache es trotzdem. Kenne da einen Laden, der nicht fragt, ob man schon achtzehn ist.«
Sabrina blickte Elisabeth provozierend an. »Und was tust du so?«
»Äh, nicht viel. Ich mag Natur und mache etwas Sport.«
»Etwas? Du nimmst mich doch hoch. Du bist eine echte Sportskanone. Ich hatte viel Vorsprung und bin gerannt wie eine Verrückte und trotzdem hast du mich fast spielend eingeholt.«
»Du hast mich beobachtet?«
Ein etwas bedrückter Ausdruck legte sich auf Sabrinas Gesicht. »Weißt du, ich hatte mir zuerst gedacht, dass Vinzenz dich vielleicht angestiftet hat, um mich aufzustöbern. Bescheuert, ich weiß, aber ich habe vor denen echt ein bisschen Schiss. Hab' erst zu spät gemerkt, dass du mir nichts Böses wolltest.«
»Gibt es in Clausthal wirklich so viel Ärger? Ich dachte, ich hätte das seit Hannover hinter mir.«
»Du kommst aus Hannover? Geil, da gibt es voll viele Tattoo-Shops. Aber da kann ich nicht so einfach hin. Mama kauft mir immer nur die Harz-Card. Mit der komme ich nur im Harz überall hin. Wir haben nicht so viel Geld, weißt du. Wo wohnt ihr denn?«
»Es heißt Neue Mühle und liegt im Innerstetal.«
Sabrina starrte sie mit offenem Mund an. »In der Spukmühle? Megaabgefahren!«
Nun war es an Elisabeth zurück zu starren: »Spukmühle?«
»Na klar, da soll ganz früher mal irgendwo ein altes Kloster gestanden haben. Die toten Mönche sollen da heute noch rumgeistern. Völlig schräg. Ich muss dich unbedingt mal besuchen. Da soll vor ein paar Jahren mal eine Hexe gelebt haben, hat sich aber selbst erhängt. Vermutlich haben die Mönche da nachgeholfen, wenn du mich fragst.«
Elisabeth prustete los. »Du machst Scherze! Aber komm gerne vorbei. Nur erzähl meiner Mutter nichts von der Geschichte. Sie bekommt bei Spukgeschichten immer Angst und verbietet mir dann wieder irgendwas.«
Mitleid zeigte sich in Sabrinas Miene. »Scheint ja echt voll spießig zu sein, deine Ma. Meine ist ganz okay. Sie hat mir zu meinem sechzehnten Geburtstag sogar Alkohol erlaubt.« Abrupt brach sie ab, als wenn ihre Gedanken wegglitten. Sie schien mit sich zu ringen, während sie Elisabeth ganz genau musterte. »Auf welche Schule gehst du denn dann?«, wechselte sie das Thema.
»Ich soll die zehnte Klasse des Gymnasiums in Clausthal besuchen.«
»Cool, ich hoffe, du kommst in meine Klasse. Was ist dein Lieblingsfach?«
»Oh!« Elisabeth schwieg betreten.
»Na komm, irgendein Lieblingsfach hat doch jeder.«, drängelte Sabrina.
»Na ja, ich mag Sport ganz gerne, aber das ist auch schon alles.« Fast schon entschuldigend lächelte Elisabeth Sabrina an.
»Dann kannst du all das, was ich nicht kann.«
Sabrina strahlte so, dass Elisabeth schließlich lachen musste. Der Satz klang für sie komisch, gar nicht nach Angeberei, obwohl es das vielleicht doch war. Aber so, wie Sabrina es formulierte, konnte Elisabeth gar nicht böse sein.
»Weißt du, wenn du mir da helfen könntest, dann helfe ich dir in den anderen Fächern. Es gibt da etwas, weswegen ich unbedingt Sport treiben muss, aber der innere Schweinehund, du weißt schon.« Sie deutete auf ihre runden Hüften und den Bauchansatz.
Elisabeth bekam große Augen und dann nickte sie. Sie hatte vielleicht eine Freundin gefunden.
Die Mädchen machten sich auf und Sabrina führte Elisabeth überall herum, bis ihnen die Füße wehtaten. Es war herrlich, durch die schmalen Gassen zu gehen, wo die Häuser sich fast berührten, oder den Zwinger, einen alten Turm aus der Stadtmauer, zu sehen. Die Folterausstellung im Inneren sparten sie aber aus. Nicht dass sie es nicht gewollt hätten, aber irgendwann brummte Elisabeths Handy. Es war Klara, die inzwischen mit der Behandlung fertig war und ungeduldig auf ihre Schwester wartete. Also verabschiedeten sich Elisabeth und Sabrina, nicht aber, ohne vorher noch Handynummern zu tauschen.
Es gärt gewaltig

Die Ferien waren wie im Flug vergangen, so kam der Schulanfang einfach zu schnell. In der folgenden Woche Mittwoch sollte es losgehen, obwohl sie sich noch nicht ganz eingelebt hatten, weil sie einfach keine wirkliche Ruhe fanden. Wie so oft in letzter Zeit kamen die drei Wollner-Frauen aus Goslar zurück.
Klara saß schmollend auf dem Rücksitz. Sie war es leid, ständig zum Arzt zu müssen. In Hannover hatte man ihre Knochenbrüche einfach ganz normal behandelt. Aber dieser neue Hausarzt ängstigte sie mit seiner Experimentierfreudigkeit und der übermäßigen Neugier, die er ihr schenkte. Sie fand Dr. Teufels schmierig und ekelig. Außerdem hatte er so unnatürlich kalte Hände, dass Klara jedes Mal zusammenzuckte, wenn er sie anfasste. Wenn ihre Mutter nicht ständig über ihr gewacht hätte, wäre sie schon längst schreiend aus der Praxis gelaufen. Heute hatte sie wieder mehrere Behandlungen über sich ergehen lassen müssen, aber am meisten störten sie die ewigen Spritzen. Dementsprechend war sie schlecht gelaunt, schweigsam und rieb sich die schmerzende Stelle, wo sie diesmal eine Vitaminspritze bekommen hatte. Elisabeth war wieder einmal mitgefahren und hatte sich die ganze Zeit in der Stadt herumtreiben können, was Klara schlichtweg unfair fand.
Dunkle Bäume rauschten vorbei und mit jedem Schild, dass die Höhenmarkierung über dem Meeresspiegel angab, sank die Temperatur draußen weiter und weiter. Sie fröstelte und zog ihre Jacke bis zum Hals zu. Ihre Mutter fuhr heute auffallend aggressiv. Erst dachte Klara noch, dass sie sich ebenfalls über den dämlichen Arzt ärgerte, der heute wieder einmal sie für die schlechte körperliche Verfassung Klaras verantwortlich gemacht hatte. Doch dann hörte sie dem Gespräch auf den Vordersitzen genauer zu, denn da braute sich etwas ganz anderes zusammen.
»Nun sag schon. Was hast du eigentlich die ganze Zeit in der Stadt gemacht, als Klara beim Arzt war?«, verlangte Emilia von Elisabeth zu wissen.
»Ach, gar nichts«, gab diese deutlich genervt zurück.
»Für gar nichts bist du aber reichlich spät wieder auf dem Parkplatz gewesen. Hast du etwa jemanden getroffen?«
»Das geht dich überhaupt nichts an!«, blaffte Elisabeth so heftig zurück, dass ihre Mutter ihr einen schockierten Blick zuwarf.
»Aber bitte erlaube mal! Was ist denn das für ein Tonfall? Ich bin deine Mutter!«
»Na und? Ich kann mich treffen, mit wem ich will! Du musst mich nicht dauernd kontrollieren. Ich bin keine Zwölf mehr.«
»Ich kontrolliere dich doch nicht dauernd.«
»Ach nein? Jedes Mal, wenn ich von der vielen Hausarbeit, die du mir ständig aufhalst, mal eine Pause mache, willst du dann immer sofort wissen, wo ich war und was ich gemacht habe. Das geht mir so was von auf die Nerven.«
»Ich mache mir nur Sorgen.«
»Warum? Ich schufte mir den Buckel krumm, während Papa dauernd ins Institut verschwindet und Klara, die doofe Zicke, die ganze Zeit an ihrem Rechner herumhängt und nicht mal abzuwaschen braucht.«
Es traf Klara hart, wie ihre Schwester von ihr redete, und sie lief knallrot an. Wütend holte sie Luft, um sich in die Diskussion einzumischen, doch Elisabeth redete sich bereits weiter in Rage.
»Warum hältst du mich absichtlich dauernd auf Trab? Ich habe auch ein Recht zu leben.«
»Ach, Betsy, es gibt noch so viel zu tun und du bist nun mal die Einzige, die gerade verfügbar ist. Immerhin trägt Klara doch noch den Gips. Schau mal, ich arbeite doch auch ununterbrochen. Und du verdrückst dich schon reichlich oft. Warum finde ich dich eigentlich ständig bei dem Stein an der Innersten?«
»Der gefällt mir halt und ich dachte, er liegt weit genug weg vom Haus, um ein bisschen Ruhe zu haben, aber offensichtlich muss ich mir ein neues Versteck suchen. Ich habe keinen Bock mehr, jeden Abend todmüde ins Bett zu fallen. Und besuchen darf mich auch niemand.«
»Wer soll dich denn hier besuchen?«, bohrte Emilia nach, während sie endlich vor dem Haus hielt.
»Das ist meine Sache!«, fauchte Elisabeth zurück, sprang als Erste aus dem Wagen und rannte ins Haus.
Klara starrte ihr mit einer Mischung aus Wut und Fassungslosigkeit nach. So kannte sie ihre Schwester gar nicht. Sicherlich hatte Elisabeth schon immer mehr Ärger mit ihrer Mutter gehabt als sie selbst, doch heute schien da noch mehr zu gären. Gab es da eventuell einen Jungen?
»Ich denke, das werden wir klären müssen. Deck bitte du heute den Tisch, Klara«, wandte sich ihre Mutter an sie und stieg aus.
Klara nickte. Das erschien heute sinnvoll. Sie humpelte ebenfalls hinein. Ihre Mutter folgte, nachdem diese das Auto zugesperrt hatte. Doch kaum, dass sie die Küche betreten hatten, ging es weiter.
»Hör auf, die Vorräte zu plündern!«, tadelte ihre Mutter Elisabeth, die bereits die Kühlschranktür aufgerissen hatte und sich etwas in den Mund stopfte.
Klara drückte sich vorbei, um aus der Schusslinie zu sein, und versuchte, den Küchentisch zu decken.
»Ach, auf einmal kannst du auch den Tisch decken. Wo hast du das denn so schnell gelernt?«, fuhr Elisabeth sie daraufhin an.
»Lass deine Schwester in Ruhe und leg die Karotte weg! Wir essen gleich alle zusammen!«
»Jetzt darf ich nicht mal etwas essen! Kriege ich gleich noch Stubenarrest? Mach doch! Dann kann ich wenigstens nicht mehr Rasen mähen oder Holz hacken!«
»So war das nicht gemeint.«
»Hast du einen Freund?«, warf Klara jetzt ihre Vermutung dazwischen, was ihr einen wütenden Blick ihrer Schwester eintrug.
»Stimmt das?«, hakte Emilia sofort mit schneidendem Tonfall und stechendem Blick nach.
Elisabeth rollte mit den Augen. »Ihr spinnt ja beide. Ich habe mich mit Sabrina getroffen, wenn ihr es unbedingt wissen wollt.«
»Etwa dieser Gothictante, von der du schon mal erzählt hast? Das hatte ich dir doch verboten. Das ist kein Umgang für dich«, ereiferte sich ihre Mutter sofort.
Klara runzelte die Stirn. Von der hatte sie noch nichts gehört. Das wurde ja immer interessanter.
»Mir bleibt ja nichts anderes übrig! Dann treffe ich Sabrina halt woanders! Nach Hause einladen darf ich sie ja nicht, weil meine Frau Mutter sie für asozial hält!«
»Unterstellung! Das habe ich nie gesagt!«, rief Emilia, die jetzt genauso wie Elisabeth knallrot anlief.
»Aber gedacht hast du es! Du kennst sie doch gar nicht richtig. Sie ist total nett. Nur weil sie auf Fantasy- und Vampirgeschichten steht ...«
Emilia baute sich vor ihrer großen Tochter auf und drohte mit dem erhobenen Zeigefinger. »Genau vor solchen Spinnereien versuche ich dich zu beschützen.«
»Das ist kein Beschützen, das ist der blanke Terror, was du mit mir machst!«
»Elisabeth Wollner, mäßige sofort deinen Ton!«, schrie Emilia.
»Den Teufel werde ich!«, brüllte Elisabeth noch lauter. »Du benimmst dich wie ein trotziges Kleinkind!«
»Ich bin kein Kleinkind mehr! Die da ist eins!« Dabei überschlug sich Elisabeths Stimme und sie pfefferte das Glas, das sie eben noch hatte auf den Tisch stellen wollen, gegen die Wand, sodass ein Schauer aus Splittern auf Klara niederregnete. Die bekam es jetzt doch mit der Angst zu tun und tauchte unter den Küchentisch ab. Sie erkannte ihre Schwester gar nicht wieder und ihre Mutter auch nicht. Tränen kullerten ihre Wangen hinab und sie begann in ihrer Verzweiflung, dazwischen zu schreien, dass Elisabeth und ihre Mutter aufhören sollten. Doch die beiden hörten nicht auf sie. Über dem Tisch ging es heftig weiter. Noch einige Minuten lang flogen wütend Sätze hin und her, dann erzitterte der Küchentisch, als Elisabeth mit einem Wutschrei dagegen trat, sodass Essen und Geschirr rings um Klara zu Boden fielen. Emilia sprang herbei, um sie aufzuhalten, doch Elisabeth stieß ihre Mutter grob zu Boden und stürmte hinaus auf ihr Zimmer.
Klara beobachtete wimmernd, wie ihre Mutter sich fluchend wie ein Kesselflicker wieder hochrappelte und die Tür der Hausapotheke aufriss. Sie griff sich mehrere Flaschen und rannte Elisabeth hinterher. Dabei knallte die Küchentür so heftig zu, dass eine weitere Flasche umkippte und herausrollte. Sie fiel und zerbrach auf dem Steinboden. Klara starrte die Medizin an, die sich auf dem Boden verteilte und mit dem Essen vermischte. Auf der Treppe polterte jemand nach oben, eine weitere Tür knallte und wurde wieder aufgerissen. Es erklang ein wütender Schrei, dann ein langgezogenes »Nein!«, das in einem gurgelnden Geräusch abbrach. Danach wurde es still, sehr still. Klara hörte auf zu schluchzen. Furcht überkam sie, eine Furcht, die tief in ihr saß. Was war nur los? Dann erklangen Schritte von draußen und jemand öffnete die Hintertür. Ihr Vater kam herein und blieb wie angewurzelt stehen.
Überdosis

»Was, um alles in der Welt, ist passiert?«, stieß Michael Wollner verwirrt hervor, als sein Blick auf das Chaos vor ihm fiel. Eine kreidebleiche Klara, die ihre Stimme noch nicht wiedergefunden hatte, zeigte nur stumm auf die Tür zum Flur. »Du rührst dich nicht von der Stelle!«, wies er sie an, aber diese hätte eh weder Kraft noch den Mut gehabt, jetzt etwas anderes zu tun, als dort sitzen zu bleiben, wo sie war. Mit wenigen Sätzen durchquerte er den Raum und verschwand in den Flur. Er eilte die Treppe nach oben, wo sich ihm ein grauenhaftes Bild bot. Elisabeth lag rücklings auf dem Boden und wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt, die Augen wild verdreht und mit schwarzgrauem Schaum vor dem Mund. Sein Blick erfasste daneben mehrere leere Medizinflaschen.
Emilia saß zusammengekauert im Türrahmen und wimmerte immer wieder: »Ich habe sie umgebracht! Ich habe sie umgebracht!«
Einige Sekunden zögerte er, dann eilte er zu seiner Tochter und beugte sich über sie. Sie nahm ihn nicht wahr. Ihr Atem kam stoßweise durch die Nase, während der eklige Schaum ihr über die Wangen lief und herabtropfte.
»Oh, mein Gott! Emilia, wie viel hast du ihr eingeflößt?«, fuhr er erst seine Frau an, dann beugte er sich über seine Tochter. »Elisabeth, komm schon, spuck das Zeug aus!«, schrie er auf sie ein, während er versuchte, sie auf die Seite zu drehen, doch das gestaltete sich schwieriger, als er gedacht hatte. Er packte heftiger zu und schüttelte Elisabeth grob, wodurch er hoffte, sie so wieder zur Besinnung zu bekommen. Endlich erreichte er eine Reaktion, doch es war nicht die, auf die er gehofft hatte.
Ein blutunterlaufenes Auge öffnete sich, fixierte ihn kurz. Eine Hand stieß blitzartig vor und traf ihn hart vor die Brust, sodass es ihn hochhob und heftig von ihr wegschleuderte. Er krachte gegen die Wand und fiel um.
Schockiert, nach Luft röchelnd und stöhnend vor Schmerz rappelte er sich wieder auf, traute sich aber zunächst nicht noch einmal näher. Er hatte gehört, dass Epileptiker während ihrer Krämpfe sehr viel Kraft freimachten, aber diese Stärke, die er soeben bei seiner Tochter erlebt hatte, war zu verstörend. Hilflos musste er mit ansehen, wie Elisabeth sich nochmals aufbäumte und zusammenbrach, dann bewegte sie sich nicht mehr. Angst erfüllte ihn. Er krabbelte auf allen vieren näher. Von der Tür kam immer noch die wirre Stimme seiner Frau.
»Ich habe sie umgebracht!«, jammerte Emilia stetig vor sich hin.
Michael beugte sich voller Angst über Elisabeth. Zunächst konnte er nichts feststellen, weil sein eigenes Herz so hämmerte. Kein Puls, kein Atem. Ihre Adern traten stark hervor, als das Gebräu darin sich schwarz verfärbte. Starb seine Tochter wirklich gerade? Mit tränenerfüllten Augen verfolgte er, wie sich die Schwärze, einem Wurzelgeflecht gleich, immer mehr verteilte.
Minuten vergingen, in denen er mit zusammengepressten Lippen über ihr kniete. Weinend schloss er sie in die Arme und hielt sie fest. Emilia kam herübergekrabbelt und schlang schluchzend ihre Arme um sie beide. Eine Weile hockten sie so da. Das Grauen hatte sich ihrer bemächtigt.
Ein halb ersticktes Röcheln. Dann noch einmal. Ein Beben durchlief Elisabeth. Michael sah, wie von einem Moment auf den anderen die Farbe aus Elisabeths Adern verschwand.
Dann hob sich ihr Brustkorb wieder.
Er jubelte: »Sie lebt, Emilia, sie lebt!«
Nachgeschmack

Elisabeth kam erst am nächsten Morgen wieder zu sich. Ihr tat alles weh. Ihr ganzer Körper brannte. In ihrem Mund hatte sie einen faden Geschmack nach Erbrochenem. Ekelig.
Neben ihr auf der Bettkante saß ihre Mutter mit dem Rücken an die Wand gelehnt und war offensichtlich eingedöst. Sie schien viel geweint zu haben, denn ihre Augen waren tiefrot umrändert und ihr Make-up verlaufen. Was war passiert? Elisabeth konnte sich nur noch an den Streit in der Küche erinnern, der Rest war in einem undurchdringlichen Nebel verschwunden. Als sie sich aufsetzen wollte, merkte sie, dass sie die Hände nicht heben konnte. Jemand hatte sie am Bett festgebunden. Als sie sich regte, schrak ihre Mutter auf und begann gleich wieder zu weinen, diesmal vor Erleichterung.
»Mein Engel, wie gut, dass es dir wieder besser geht. Warte, ich mache dich gleich los, du hattest einen schlimmen Anfall, weißt du.«
Während Emilia eilig die Gürtel löste, die sie verwendet hatte, hörte Elisabeth die Worte, konnte sie aber nicht nachvollziehen.
»Ich erinnere mich nur, dass wir uns gezankt haben, danach ist alles weg.«
»Ich weiß, meine Liebe, ich weiß. Ein dummer und völlig unnötiger Streit.«
»Mama, warum hast du mich ans Bett gefesselt?«, verlangte Elisabeth nun zu wissen.
»Ich habe mir so große Sorgen gemacht, dass du dich verletzen könntest. Du hast um dich geschlagen und gekrampft. Aber das ist ja nun vorbei.«
Einen Moment blickte Elisabeth ihre Mutter geistesabwesend an. Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern, was sonst noch passiert war. Schließlich schüttelte sie den Kopf. Es wollte ihr einfach nicht einfallen.
Ihre Mutter wechselte das Thema: »Erzähl mir doch von dieser Sabrina.«
Also berichtete Elisabeth von ihr und Emilias Miene hellte sich etwas auf. Dann ließ sie ihre Tochter im Bett zurück, um bei Sabrinas Mutter anzurufen. Eine Weile später, als Elisabeth schon fast wieder eingedöst war, kam sie zurück.
Sie wirkte deutlich erleichtert, als sie berichtete: »Ich hatte ein erstaunliches Gespräch mit Frau Schubert. Ich muss mich bei dir entschuldigen. Sabrina soll in der Schule wirklich exzellente Noten haben. Und ihre Mutter hält große Stücke auf sie und bezeichnet diesen Gothiclook ihrer Tochter als eine temporäre pubertäre Phase. Ich schlage vor, du lädst sie einmal hierher ein, wenn es dir wieder besser geht.«
Damit ging sie nach unten, um Elisabeth schlafen zu lassen, die ob dieses Einlenkens ein schwaches Lächeln zustande brachte. Sie hatte sich noch nie so matt gefühlt, doch sie wachte ständig wieder auf. Vielleicht lag es auch daran, dass sie davor so viel geschlafen hatte oder weil sich jedes Geräusch übersteuert und unnatürlich laut anhörte. Sie konnte sogar ihre Mutter die Karotten in der Küche schneiden hören, obwohl sie sich weit entfernt befand. Das stetige Schack-schack-schack dröhnte wie eine Dampframme in ihren Ohren. Die Gemüsebrühe, die ihr ihre Mutter später hochbrachte, ließ sie kalt werden, nachdem sie nur einmal daran genippt hatte. Sie schmeckte ihr zu fade.
Endlich krabbelte sie aus ihrem Bett, setzte sich ans Fenster und öffnete es weit. Die kühle Abendluft tat gut und vertrieb den Schmerz. Die Sonne ging unter, doch es blieb immer noch hell genug, um Einzelheiten zu erkennen. Die Gerüche waren herrlich. Elisabeth lehnte eine Weile am Rahmen und sog den Harz in sich auf. Ein weitentfernter Schrei einer Eule ließ sie hochschrecken. Sie bemerkte, dass sie etwas fröstelte. Deswegen ging sie zurück in ihr Bett, lies aber das Fenster offen. Wieder eingeschlafen träumte sie vom Wald.
Hexenjagd

Die anderen zwei Jägerinnen näherten sich von der gegenüberliegenden Seite. Anna Binsenkraut zog ihren Talisman heraus und schickte ein Stoßgebet zu ihrer Göttin Freya, wie sie es früher jedes Mal getan hatte, wenn sie in den Kampf zog. Es hatte ihr immer Glück gebracht und mehr als einmal das Leben gerettet. Ein Lächeln voll wilder Vorfreude huschte über ihr Gesicht, als sich ihr Puls beschleunigte. Sie würde gleich wieder jemanden zur Strecke bringen, ganz offiziell, nachdem sie es schon so lange nicht mehr hatte tun dürfen. Anna fieberte dem Kampf entgegen. Mit einem Kuss auf die winzige Darstellung einer schwer gerüsteten Frau mit Flügeln ließ sie es wieder unter ihre Kleidung gleiten. Dann schlich sie lautlos über den schmalen Trampelpfad auf das Waldhaus zu, die Augen komplett weiß, die Hände vor sich erhoben, bereit, sofort einen Angriffszauber loszulassen. Der dichte Nebel dämpfte die Sicht erheblich. Jäh hielt sie inne, als sie vor sich ein schwaches Flackern bemerkte. Nach einer eingehenden Untersuchung musste sie der Gegenspielerin unwillkürlich Respekt zollen. Eine Alarmbarriere, getarnt vor dem magischen Blick durch einen komplizierten Tarnzauber. Man konnte sie fast nicht erkennen, doch die langjährige Tätigkeit als Jägerin hatte Anna paranoid genug werden lassen und ihre Sinne waren offensichtlich noch nicht eingerostet. Wer auch immer das getan hatte, musste nicht nur eine fähige Hexe sein, sondern kannte sich auch mit den Gepflogenheiten der Jägerinnen aus. Zwei offensichtliche Barrieren hatte sie schon umgangen, die einerseits normale Menschen abhielten und ein Einfliegen verhinderten. Wer sich hier versteckte, war eine gefährliche Gegnerin.
Die Anhörung beim Rat vor einigen Tagen war beunruhigender gewesen, als Anna sich zunächst eingestehen wollte. Es war nicht nur eine Jägerin getötet worden, sondern insgesamt vier. Die erste Tote hieß Olga, eine junge blinde Hexe mit enormem Spürsinn. Ihr blankes Skelett hatte man in der Eilenriede in Hannover gefunden. Ein Suchtrupp von drei Hexen unter der Leitung ihrer alten Partnerin Lylly Urs war daraufhin ausgesandt worden und hatte eine Fährte bis in den Teutoburger Wald verfolgt, wo sie spurlos verschwanden. Man hatte einige Zeit später drei tote Frauen aus der Weser gezogen. Die Polizei glaubte an ein Badeunglück, doch Anna und der Rat wussten es besser. Jemand hatte ein komplettes Suchteam ausgelöscht. Anna erstaunte es nicht, dass man sie um Rat fragte, denn sie hatte mit Lylly jahrelang zusammengearbeitet. Diese war es auch gewesen, die von ihrer Schwangerschaft gewusst und sie gedeckt hatte. Anna schuldete ihr etwas.






