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Da der Rat auf sie zurückgegriffen hatte, obwohl sie eigentlich ausgestoßen worden war, zeigte ihr, wie verzweifelt dieser sein musste. Sie war sich auch sicher, dass er etwas verschwieg. Immerhin winkte die Option, wieder in den aktiven Dienst aufgenommen zu werden. Das hatte man ihr als Belohnung angeboten. Sie hatte daraufhin bei Theobald angerufen und ihm gesagt, sie müsse noch eine Woche in Berlin bleiben. Er solle so lange die Apotheke schließen und mit Herrn Zenkmann in Clausthal telefonieren, damit er den Dienst übernahm. Theobald hatte ihr alles Gute gewünscht, aber er klang eine Spur zu glücklich am Telefon. Er wurde für ihren Geschmack in der letzten Zeit zu neugierig. Ein intelligenter Sohn einer Hexe. Sie liebte ihn zwar sehr, aber er war auch der Grund, warum sie nicht mehr ihren Dienst versah. Anna hatte damals vor Erleichterung gejubelt, als ihre Mutter ihr mitgeteilt hatte, dass eine Magieuntersuchung negativ verlaufen war. Sie selbst hatte ihn später mit dem Blick gemustert, aber er verströmte keinerlei magische Aura. Und das war gut so. Die Deaktivierung und Strafversetzung in den Harz hatte sich im Nachhinein als gar nicht so schlimm herausgestellt. Sie hatte die neu gewonnene Freiheit genießen gelernt.
Doch genau jetzt, in diesem Moment, war sie wieder ganz die Jägerin und voller Spannung und Tatendrang. Der Alarmzauber zog sich um das Haus, konnte aber leicht überwunden werden, da er eher wie ein Band gewoben war. Der Tarnzauber machte ihn erst richtig gefährlich. Viele hätten ihn nach den offensichtlichen Barrieren übersehen. Anna ließ sich in einer Mulde neben dem Weg auf den Rücken hinab und rutschte vorsichtig Zentimeter für Zentimeter unter dem Flirren hindurch. Sie wagte es nicht, Magie einzusetzen, da das Brechen des Zaubers sicher sofort bemerkt werden würde. Dass sie sich dabei schmutzig machte, war ihr egal. Sie befand sich in ihrem Element.
Sie hatte es gerade geschafft, da leuchtete vor ihrem Hexenblick der Zauber auf und ein Alarm bellte los. Anna war sich absolut sicher, den Zauber nicht berührt zu haben, aber sie kam ja nicht allein. Sie stieß einen Fluch aus, sprang auf und rannte los Richtung Hintertür, während sie hastig einen magischen Schild hochzog. Vorbei war es mit ihrem Überraschungsvorteil. Eine heftige Explosion an der Vordertür und ein schmerzerfüllter Schrei verrieten ihr, dass gerade eine ihrer Mitjägerinnen schwer erwischt worden war. Sie machte sich nicht die Mühe, die Klinke zu drücken, sondern blieb kurz stehen und schleuderte aus sicherer Entfernung ihre volle magische Kraft gegen die Tür. Sie hielt einige Augenblicke länger stand, als normales Holz es vermocht hätte, aber schließlich riss sie mit lautem Krachen aus der Zarge und flog nach innen, nicht ohne hier auch unter einem Knall ein rotleuchtendes Flammenmeer zu versprühen. Höllenfeuer, schwarze Magie! Anna duckte sich unwillkürlich, doch sie stand weit genug weg, um nicht erwischt zu werden. Die Flammen brannten schnell nieder, denn sie verzehrten nur lebende Kreaturen und deren Seelen. Ihr magischer Schild hätte ihr da wenig geholfen.
Anna rückte vor, während sie in ihrer Hand einen Betäubungsball formte. Erneut legte sie all ihre Kraft hinein. Sie schleuderte ihn ins Haus. Mit einem ohrenbetäubenden Knall ging er hoch. Die Scheiben drückte es komplett nach außen und überall flogen Splitter umher. Im letzten Moment bemerkte sie aus den Augenwinkeln einen Besen, der hinauf in den wolkenverhangenen Nachthimmel rauschte, auf ihm eine Gestalt im Nachthemd und mit einer Umhängetasche. Anna schoss noch einen Zauber hinterher, aber der Besen flog zu schnell, die Wolken verschluckten ihn schon Momente später. Ihre Gegnerin war entkommen.
Erneut fluchend betrat Anna das Haus. Nach dem Betäubungsball war innen nicht mehr viel heil geblieben. Das Haus hatte im Wesentlichen aus einem Raum und einer kleinen Schlafkammer bestanden. Es gab auch noch ein Bad. Die Einrichtung erinnerte Anna an eine klassische Hexenhütte, eine wie aus einem alten Märchen. Es gab einen offenen Kamin mit einem Kessel, der auf der Seite lag. Kräuter lagen herum und Pflanzen aller Art. Ihre dritte Kollegin fand sie im Schlafzimmer im Türrahmen mit einem dampfenden Loch im Oberkörper, durch das Anna den blutverschmierten Fußboden sehen konnte. Ein Energieblitz, so vermutete Anna. Dagegen hätte der Schild geholfen.
Verdammte Amateure, mit denen man sie losgeschickt hatte, dachte Anna verdrossen. Ein Blick vor die geborstene Haustür genügte, um ihr zu zeigen, dass die andere Jägerin auch nicht mehr lebte. Es bot sich ein grässliches Bild einer verkohlten Leiche in unverbrannter Kleidung mit weit aufgerissenem Mund und hohlen Augenhöhlen. Larindra war ihr Name gewesen, soweit sich Anna erinnerte. Sie hatte vor einigen Minuten noch wunderschön ausgesehen. Dem Rat würde das gar nicht gefallen. Anna wandte sich um und durchsuchte die Hütte gründlich. Vieles war zerstört, doch in einem Rezeptbuch für Arzneien stieß sie auf einen Namen. Dr. med. Rawinda Borga. Anna Binsenkraut keuchte auf. Wenn es sich um die Borga handelte, dann hatte sie mehr als Glück gehabt, das eben zu überleben. Borga war eine Legende unter den Hexen. Anna überlegte eine Weile. Wann hatte Borga noch den Vorsitz des Hohen Rates innegehabt? Es muss zu Zeiten von Napoleon gewesen sein, aber man hatte sie wegen schwarzer Magie angeklagt und zum Tode verurteilt. Soweit die Geschichte der Hexen weiter berichtete, war Borga vor ihrer Hinrichtung geflohen und hatte den Rat verflucht. Was genau ihr Fluch aussagte, war nicht überliefert, aber seit dieser Zeit hatte der Rat in Berlin nicht mehr die Bedeutung in der Welt, die er zuvor hatte. Borga hier zu finden, kam einer Sensation gleich. Anna war sich bewusst, dass dies alle in Berlin aufschrecken würde. Doch damit sollte sich der Rat selbst herumschlagen. Sie hatte ihr Ziel erreicht und die Identität der gesuchten Hexe aufgedeckt. Mehr hatte man nicht von ihr verlangt.
Behutsam sammelte sie alle Beweise ein, die sie finden konnte. Nachher würde sie dann die ganze Hütte in Brand stecken. Kein Normalsterblicher durfte sehen, was sich hier befunden hatte.
Beim Durchsehen der Dinge im Hauptraum fand sie noch etwas Merkwürdiges. Es schien ein Splitter eines Kristalls zu sein. Da es durch die Phiolen und anderen Glasdinge abertausende Splitter gab, war es ein Wunder, dass sie diesen überhaupt fand. Er stammte von einem Bergkristall, so viel konnte sie erkennen. Seltsamerweise hatte er sich nachtschwarz verfärbt. Ein Blick in die magische Dimension enthüllte, dass er fast komplett ausgebrannt war. Als sie ihn berührte, flackerte kurz ein schwaches Bild in ihrem Geist von einem kleinen Baby auf. Ein Kribbeln jagte ihren Arm hinauf, aber das Bild verschwand sofort wieder, doch das Kribbeln blieb länger und machte ihren Arm fast taub. Das war in der Tat merkwürdig. Anna konnte sich keinen Reim darauf machen, wickelte den Kristallsplitter vorsichtig in ein Taschentuch und steckte ihn in ihre Hosentasche. In der Küche fand sie einen Kanister mit Petroleum. Sie verschüttete ihn in dem Haus. Als sie ihr Werk schließlich vollendet hatte, ging sie hinaus und zog die Jägerin, die draußen lag, auch hinein. Sie suchte die Taschen ab und fand den Autoschlüssel des Dienstwagens, der auf dem Parkplatz wartete, und nahm ihn an sich. Dann steckte sie das Haus in Brand. Ohne zurückzublicken, lief sie über den Weg zurück. In Berlin würde man große Augen machen.Das
Schulanfang

Sabrina hatte vor dem Schulgebäude, einem roten Backsteinbau, auf Elisabeth gewartet. Dankbar, dass ihre Mutter nicht mitkam, weil sie Klara begleitete, war Elisabeth auf ihre neue Freundin zugelaufen. Die Schüler strömten in kleinen Gruppen ins Gebäude. Die meisten kamen zu Fuß. Der Schulbus hielt am Busbahnhof etwa dreihundert Meter den Berg hinunter, dort wo der alte Bahnhof einst gelegen hatte. Die Schienen hatte man vor vielen Jahren entfernt. Es muss spannend gewesen sein, dachte Elisabeth bei sich, früher mit einer schnaufenden Dampflokomotive hier hinaufzufahren. Es gab im Ostharz noch einige von den Harzer Schmalspurbahnen. Die bekannteste davon schlängelte sich von Wernigerode über Schierke bis zum Brocken hinauf, aber hier in Clausthal gab es keine Schienen mehr. Schade eigentlich. Sabrina lächelte sie an.
»Bereit für deinen ersten Tag? Meine Ma hat schon mit deiner Mutter telefoniert. Du bist nach der Schule zum Spaghetti-Essen eingeladen! Vegan natürlich.« Sabrina rollte mit den Augen. »Auch wenn ich eigentlich die Thunfisch-Weißweinsoße lieber mag!«, setzte sie hinzu. »Aber Ma hat mir vorgerechnet, wie viel Kalorien weniger das sind, und ich will ja abnehmen.«
Elisabeth musterte Sabrina. Ihre Figur wirkte zugegebenermaßen recht kräftig. Sie hatte eine zerschnittene Jeans an und ein Top, das eher aussah wie ein schwarzes Spinnennetz, allerdings verschleierte es etwas Sabrinas Ausmaße. Passend dazu hatte sie schwarzen Lidschatten und dunkelroten Lippenstift aufgetragen. Elisabeth fand das Outfit cool, vielleicht deswegen, weil ihre Mutter ihr nie so etwas erlaubt hätte. Sabrina hakte sie unter und sie betraten das Gebäude. Es war viel kleiner als die Schule in Hannover mit ihren Plastikwänden und riesigen Gängen. Hier wirkte alles beschaulich. Von der zehnten Klasse gab es nur eine A und eine B. Sabrina steuerte zielsicher auf das Klassenzimmer der B zu. Einige Schüler saßen schon im Raum. Sabrina zog Elisabeth mit und setzte sich, ohne jemanden zu fragen, in die erste Reihe. Elisabeth zögerte.
»Sei nicht so schüchtern, setz dich!«
»Nun ja, ich habe noch nie in der ersten Reihe gesessen. Ich verdrücke mich meistens nach hinten!«, gab diese zu.
»Damit ist jetzt Schluss! Ich habe dir versprochen, dass ich dir helfe, und das tue ich auch. Hier vorne bekommt man alles mit und du kommst auch häufiger dran!«
Mit einem leicht verängstigten Blick setzte Elisabeth sich dann doch hin.
»Schau mal, die Grabschlampe hat eine Freundin gefunden! Heißes Gestell, wenn auch etwas dürre.« Vinzenz und seine zwei Schatten, Alim und Ojan, standen in der Tür.
Sabrina wurde vor Wut rot, was sich bei ihrer hellen Haut in tiefem Rosa zeigte. Elisabeth tat lieber so, als hätte sie es nicht gehört und suchte etwas in ihrer Tasche. Sie wusste nicht, was sie auf den Spruch erwidern sollte, und war dankbar, dass in dem Moment ein blonder Junge mit Sommersprossen sich an den Dreien vorbeischob und ebenfalls in die erste Reihe setzte, direkt neben Elisabeth auf die andere Seite des Mittelganges.
»Na, da ist ja der andere Streber! Kannst schnell laufen, Theo.« Mit höhnischem Gelächter gingen die drei zur letzten Reihe und fläzten sich hin. Alle anderen in der Klasse machten ihnen eiligst Platz.
»Hi Theo!«
»Hi Brina! Du musst die Tochter von den Wollners sein, richtig?«, Theobald sah Elisabeth erwartungsvoll an.
Elisabeth gaffte mit offenem Mund zurück und vergaß ganz, zu antworten. Sabrina sprang für sie ein.
»Ja und sie hat auch einen Namen, sie heißt Elisabeth!«
»Klar! Deine Mutter habe ich schon kennengelernt. Du hast noch eine Schwester, richtig?« Als Elisabeth immer noch nicht antwortete, ergänzte er, »Dies ist eine kleine Bergstadt. Hier bekommt man vieles mit. Dein Vater hat im Matheinstitut angefangen, oder? Bist du auch ein Mathefreak?«
Elisabeth schüttelte mit traurigem Blick den Kopf. »Genau da bin ich eine Vollniete«, räumte sie ein. Sie fand Theobald gar nicht aufdringlich. So, wie er das betonte, war es eine simple sachliche Feststellung, nicht mehr. »Aber Sabrina will mir helfen!«, verriet sie ihm gleich.
»Wenn du Fragen hast, kein Ding. Kannst mich auch immer fragen!«
»Soso, willst du etwa etwas wiedergutmachen, indem du jetzt deine Hilfe anbietest?«, funkelte Sabrina Theobald böse an.
Elisabeth wusste zwar nicht, worauf ihre Freundin anspielte, aber jetzt wurde Theobald rot und drehte sich von ihnen weg. Sabrina warf ihr einen wissenden Blick zu, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu erklären, denn jetzt betrat eine ältere Frau mit Nickelbrille und strengem Anzugskostüm das Klassenzimmer. Zu Elisabeths Verwunderung setzte schlagartig ein Gescharre von Stühlen ein, als alle Schüler gleichzeitig aufsprangen, sogar die drei in der letzten Reihe. Also tat Elisabeth es ihnen gleich.
»Guten Morgen, Frau Schramm!«, dröhnte es durch die Klasse.
Die sehr korpulente Frau stelzte auf hohen Absätzen in den Raum und stellte mit einem wohlwollenden, aber irgendwie strengen Lächeln ihre Tasche auf dem Pult direkt vor Elisabeth ab, welche erstaunt auf ihre Klassenlehrerin hinabblickte. Diese war mit Absätzen gut und gerne anderthalb Köpfe kleiner als sie und maß nur knapp über einen Meter fünfzig. Aber das täuschte über ihre wahre Größe hinweg, denn die Klasse spurte sofort. Mit dieser Frau war sicher nicht gut Kirschen essen, wenn man ihr in die Quere kam, vermutete Elisabeth.
»Guten Morgen, neue Zehn B!«, trällerte es der Klasse in einer tiefen Altstimme entgegen. »Wie ich sehe, haben alle die schulfreie Zeit gut überstanden und auch diejenigen, die hart um die Versetzung in den nächsten Jahrgang kämpfen mussten, haben den Klassenraum ebenfalls wiedergefunden!«
Dabei stach ihr Blick, der nun kaum noch etwas von dem Lächeln zeigte, an allen anderen Schülern vorbei direkt auf die letzte Reihe. Dann wandte sie sich wieder nach vorn.
»Sabrina, meine Liebe, ich sehe, dass dein Kleidungsgeschmack sich nicht gebessert hat, was ich sehr bedauere. Wir haben auch einen Neuzugang aus Hannover, Elisabeth Wollner! Willkommen! Ich sehe, dass du ordentlich Nachholbedarf hast.« Sie warf kurz einen Blick in eine Mappe, die sie mit einer flüssigen Bewegung aus ihrer Tasche gezogen hatte, »Aber ich stelle fest, dass du dich verbessern willst. Dafür hast du dich genau an die richtige Stelle gesetzt. Wenn du fleißig bist, werden wir das schon hinbekommen! Ach, ein Lichtblick in Sport sehe ich. Nun, das ist nicht mein Fach, aber irgendeine Schwäche hat vermutlich jeder. Auf jeden Fall sind wir mit dir wieder zwanzig Schüler, nachdem Peter Jannes uns leider verlassen hat.« Zur Klasse gewandt ergänzte sie noch: »Dieses Jahr haben wir auch einen neuen Lehrer an der Schule. Ihr werdet ihn in Geschichte und Sport haben. Herr Burglos ist viel herumgereist und wird sicherlich mit einer ganzen Reihe von interessanten Begebenheiten den Unterricht auflockern können.« Es klang, als wäre das etwas Schlechtes. Frau Schramms Abneigung gegen den neuen Lehrer triefte förmlich aus ihren Sätzen.
»Ihr sollt euch wegen der AGs bis zur sechsten Stunde vor dem Sekretariat in die Listen eintragen. Jeder muss mindestens zwei AGs wählen. Nun denn, lasst uns anfangen! Der neue Stundenplan ...« Sie öffnete die Tafel und alle setzten sich hastig, um ihn abzuschreiben.
Elisabeth merkte schnell, dass die Klasse Frau Schramm nur ein Theater braver Schüler vorspielte. Unter den Bankreihen wurden Zettel getauscht und hinter ihrem Rücken wilde Grimassen geschnitten. Sabrina und Theobald machten eifrig im Englischunterricht mit und Elisabeth erkannte, dass es durchaus ein Vorteil war, wenn die Klasse einem nicht direkt ins Gesicht schauen konnte. Beeinflusst von beiden meldete sie sich auch einmal mit und kam prompt dran. Als ihre Antwort Frau Schramm zufrieden stellte, knuffte ihr Sabrina aufmunternd in die Seite. So schlecht fing es doch gar nicht an.
In der Pause nach der zweiten Stunde strömten die Schüler in die Aula. Am Schwarzen Brett vor dem Sekretariat hingen die AG-Listen aus. Viele hatten sich schon eingetragen.
»Du sollst doch abnehmen, hat deine Mama gesagt«, fing Elisabeth an, als sie eine Liste sah, in der erst wenige Einträge standen und über welcher der Titel Fit in allen Belangen prangte.
»Ja schon«, sagte Sabrina, »aber ich will weiter die Astronomie belegen bei Grobber. Da lernt man viel über Sterne.«
»Gut, dann trag mich auch da mit ein, aber es sieht schon voll aus.«
Sabrina zog einen Kugelschreiber aus der Tasche und trug sich und Elisabeth in die Liste für Astronomie mit ein, obwohl die Plätze bereits voll waren.
Das blanke Entsetzen spiegelte sich in ihrem Gesicht, als Elisabeth dies auch für die Sport AG tat.
»He, was soll das denn? Ich habe uns doch gerade in Astronomie eingetragen«, meuterte Sabrina.
Elisabeth grinste. »Ja schon, aber wir müssen immer zwei Kurse angeben, oder? Und in diesem Kurs sind erst sechs andere Leute drin. Ich wette, der wird es. Du willst doch fit werden, oder?«
Nun sah Sabrina auch hin. »Bist du völlig übergeschnappt? Da stehen unsere drei Schuldeppen auch drin. Ich mach doch keinen Kurs mit denen.«
»Komm schon«, animierte Elisabeth sie. »Du hilfst mir, schlau zu werden, und ich helfe dir, fit zu werden.«
Bevor Sabrina, die inzwischen sauer wurde, sich an Elisabeth vorbeidrängeln konnte, um ihren Namen durchzustreichen, schob sich jemand anderes vor und trug sich ebenfalls ein.
»Theo? Du auch?«
Der Apothekersohn drehte sich zu ihnen um. »Wenn ihr euch traut, dann ich auch. Was sagt ihr, wollen wir endlich unseren Ruf als Streber ablegen?«
Sabrina blickte Theobald mit derart verdattertem Gesicht an, dass Elisabeth losprusten musste. »Ich glaube, das liegt an mir«, stieß sie dann hervor. »Kaum da und schon bringe ich alles durcheinander. Aber wenn ihr beiden auch mitmacht, dann werden wir es denen schon zeigen.«
Negersprung im Nebel

Die Schule gefiel Elisabeth immer besser. Seit Beginn des Schuljahres hatte ihre Mutter sie endlich in Ruhe gelassen. Während sie die ersten Dehnübungen machte, die anderen in Grüppchen zusammenstanden und schwatzten, betrat Manfred Burglos die Sporthalle. Etwa einen Meter achtzig groß, sonnengebräunt und durchtrainiert wie ein Zehnkämpfer. Den Mienen ihrer Mitschülerinnen sah Elisabeth überdeutlich an, dass dieser Lehrer zum Schwarm aller Mädchen werden würde. Burglos lächelte strahlend in die Runde und Annabell aus der zweiten Reihe machte Anstalten, in Ohnmacht zu fallen. Der Sportlehrer zog das Tor zum Geräteraum auf und warf die Medizinbälle heraus.
»Werfen und Fangen! Teilt euch in Zweier- und Dreierteams auf!«, rief er in die Runde und klatschte auffordernd in die Hände.
Besonders die Mädchen kamen seiner Forderung erstaunlich fix und mit Feuereifer nach, was Elisabeth ebenso amüsiert bemerkte wie Sabrina und Theobald. Während Burglos durch die Halle ging, um hier und da Anweisungen zu geben, beobachtete Elisabeth, wie Annabell dem Sportlehrer auf den Hintern schaute. Als deren Freundin Beate ihr den Ball zuwarf, bekam Annabell ihn prompt an den Kopf und ging zu Boden.
»Ist die jetzt echt weggetreten oder wartet sie auf eine Mund-zu-Mund-Beatmung durch Burglos?«, ätzte Sabrina. Theobald und Elisabeth brachen in prustendes Gelächter aus, während Manfred Burglos Annabell auf die Beine half und sie zur Erholung nach draußen schickte. Für die anderen ging es weiter.
Sabrina, die mit Elisabeth übte, konnte schlecht werfen, war aber richtig gut im Fangen, doch sie schnaufte wie eine Dampflok und schwitzte nach kurzer Zeit überall. Elisabeth nicht. Sie tänzelte während des Werfens und Fangens immer hin und her und fing jeden Ball mit Leichtigkeit. Plötzlich klopfte ihr Manfred Burglos anerkennend auf die Schulter.
»Du bist die Neue aus Hannover? Elisabeth, richtig?«
Prompt ließ sie den Ball, den sie gerade gefangen hatte, fallen. Sie lächelte verlegen und nickte. Mehr brachte sie nicht hervor. Manfred Burglos stand direkt neben ihr, während sein muskulöser Körper sich gut unter dem knapp sitzenden Muskelshirt abzeichnete. Ihr wurde heiß. Betreten hob sie den Ball wieder auf.
»Du hast eine exzellente Beinarbeit. Spielst du Basketball oder Handball?«
»Nein, ich laufe eigentlich nur«, konnte sie schließlich antworten.
»Dann bist du ein Naturtalent. Du hast immer volle Kontrolle über deinen Schwerpunkt und extrem gute Reflexe. Ich habe gesehen, dass du in meiner AG bist. Deine Partnerin ist wohl Sabrina, die Schlauste, wenn man den anderen Lehrern glauben darf. Ich finde es toll, dass du mit ihr trainierst. Deine Freundin, hmmm? Ich freue mich schon auf den Kurs mit euch.« Dann setzte er hinzu: »Übrigens wenn du läufst ... wir wollen dieses Jahr mit dem Kurs am Harzlauf teilnehmen. Ich zähle auf dich!« Damit wandte er sich ab und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die anderen.
»Wenn du mich fragst, hat der Burglos dich gerade richtig lange in Beschlag genommen. Was wollte er?«, quatschte Sabrina sie sofort an, als er wegging.
Elisabeth blickte ihre Freundin an, dann grinste sie. »Nun, er findet, ich sei ein Naturtalent. Astronomie kannst du dieses Jahr ganz sicher vergessen. Ich wette, wir sind in seinem Kurs.«
Bei dem Gedanken daran, wie Sabrinas Gesicht ausgesehen hatte, musste Elisabeth im Auto viel später erneut breit lächeln, als sie vom Einkaufen zurückfuhren. Es war eine Mischung aus Schock und ungläubigem Staunen gewesen. Der Nebel war dick wie Suppe, als sie von Osterode nach Clausthal hochfuhren. Ihre Mutter starrte sichtlich angestrengt in die Dämmerung, während Elisabeth gelangweilt aus dem Seitenfenster schaute. Sie träumte vor sich hin.
In der letzten Nacht war etwas Komisches passiert. Elisabeth war gegen Mitternacht schlagartig wach geworden und hatte am ganzen Körper ein Brennen gespürt. Hilfesuchend war sie schließlich zu ihrer Mutter gegangen und hatte sie geweckt. Die Reaktion war ernüchternd gewesen. Ihre Mutter hatte ihr gleich drei Esslöffel voll von dem Trank gegeben und seitdem das Prozedere morgens, mittags und abends wiederholt. Das Kribbeln war zwar verschwunden, aber Elisabeth hatte stattdessen komisch geträumt. Irgendwie kam immer ein Wald darin vor und meistens lief sie.
Die höhere Dosis, die sie nun zu sich nehmen musste, hatte alle Vorräte schnell aufgebraucht. Ihre Mutter hatte Elisabeth diesen Samstag kurzerhand mitgenommen, als sie nach Osterode zur Apotheke fuhr. Der Frage, warum sie nicht in Clausthal oder Zellerfeld einkaufe, wo doch Theobalds Mutter die Apotheke führte, wie Elisabeth inzwischen wusste, war ihre Mutter ausgewichen. Es erstaunte sie, dass ihre Mutter den Trank inzwischen alleine ohne Frau Dr. Borga zubereiten konnte. Bei dem Gedanken daran kam Elisabeth das belauschte Gespräch wieder in den Sinn. Vor was waren sie nun wirklich geflohen? Immerhin hatte sich viel seit diesem denkwürdigen Tag ereignet und Elisabeth hatte das Gespräch fast vergessen. Doch nun wurde es wieder präsent. Der Apotheker hatte sichtlich die Stirn gerunzelt, als er ihrer Mutter die Bestellung aushändigte, aber er hatte keine unangenehmen Fragen gestellt. Dann hatten sie noch etwas getrunken und einen Spaziergang durch die Innenstadt gemacht.
Sie näherten sich der letzten Kurve vor der Abzweigung zur Innerste, als der Nebel noch dichter wurde. Die Kurve, so hatte Elisabeth von Theobald gehört, hieß bei den Einheimischen politisch unkorrekt Negersprung, weil angeblich vor zig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein schwarzer amerikanischer Soldat und ein paar Kameraden mit einem Armeejeep mit Vollgas direkt in den Abgrund gerast waren. Danach hatte sich dieser umgangssprachliche Ausdruck eingebürgert. Ob das stimmte, wusste sie nicht, aber es klang gefährlich.
Emilia Wollner schaltete noch einen Gang herunter und starrte angestrengt über das Lenkrad. Es war gespenstisch und der Nebel schien das Licht zu blocken. Plötzlich fiel eine große Gestalt von der Böschung direkt vor den Wagen. Elisabeth sah eine Art riesigen grauen Wolf im Scheinwerferlicht landen. Sie fuhren immer noch zu schnell. Ihre Mutter hätte bremsen müssen, doch diese stieß im Angesicht der Gestalt nur einen schrillen, angsterfüllten Schrei aus und riss die Arme vor die Augen. Das Wesen starrte in die Scheinwerfer.
Der Aufprall folgte nur Bruchteile von Sekunden später. Der riesige Wolf wurde vom Auto erfasst, über die Motorhaube sowie das Dach geschleudert und verschwand über die Seitenleitplanke im Abgrund. Erst jetzt bremste Frau Wollner den Wagen ab, der daraufhin ins Schleudern kam, weil sie das Lenkrad losgelassen hatte. Elisabeth griff geistesgegenwärtig zu und hielt es gerade. Mit quietschenden Reifen kam das Fahrzeug auf der Gegenfahrbahn, keine Handbreit von der Leitplanke entfernt, zum Stehen.






