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Die Art, wie Helena Kapodistrias über ihren Bruder redete, berührte Jannik. Er erkannte Liebe und Zärtlichkeit in ihrer Stimme.
Das Hauptgericht kam. Helena nahm Murg Balti, ein Hühnchengericht, das in einem Karahi, einer kleinen wokähnlichen Pfanne, mit zwei Griffen zubereitet und serviert wurde. Jannik nahm eine große Gemüsepfanne mit Curry. Dazu wurde ihnen der Reis in einem extra Gefäß serviert.
„Sind Sie Vegetarier?“ Helena klang überrascht, als sie Janniks Teller inspiziert hatte und kein Stück Fleisch entdeckte.
„Nein!“, lachte Jannik. „Ich esse nur sehr gerne Gemüse. Ich esse nicht jeden Tag Fleisch, manchmal nur einmal in der Woche.“
„Und wieder haben Sie mich überrascht!“, murmelte Helena.
„Weshalb?“
Helena nahm sich etwas Reis und von dem Murg, legte es sich auf ihren Essteller. „Sie entsprechen so gar nicht dem Bericht, den wir über Sie haben. Demnach hätten sie eher blutiges Steak bevorzugen sollen.“
Jannik lachte leise. „Welcher Idiot hat den Bericht denn verfasst?“
Helenas Augen blitzten, sie legte ihren Zeigefinger an die Lippe. „Firmengeheimnis.“
„Ah! Verstehe.“ Jannik nahm sich etwas von dem Reis und eine große Menge von dem Gemüse. Er hatte das Gefühl, dass Helena ihn genau beobachtete.
„Was steht denn noch in dem Bericht?“
Helena spülte kurz mit ihrer Cola nach und tupfte ihre Mundwinkel mit der Serviette ab. „Im Prager Krankenhaus 1984 geboren. Die Mutter verstarb dabei. Ihr Vater und ihr Onkel zogen Sie und Ihren Cousin Adolar in der Burg auf, die schon seit Jahrhunderten der Stammsitz der Cernýs ist, östlich von Ostrava in den Äußeren Karpaten. Ihr Cousin hat den Adelstitel des Grafen geerbt und Sie beide haben die Firma Ihrer Väter übernommen. Blutbanken, Blutgerinnung, Blutkrankheiten und so weiter.
Ihr Cousin hat vor vier Monaten geheiratet, eine deutsche Frau aus Hamburg. Sie selbst gelten als Lebemann, als Genussmensch. Als jemand, der nichts anbrennen lässt, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist.“
Jannik zog eine Augenbraue hoch. „Hm. Ich kann einer schönen Frau nun einmal kaum widerstehen. Aber zurzeit liegt mein hauptsächliches Interesse an der Firma, und nicht bei Frauen.“
„Vom Saulus zum Paulus?“ Helena hatte einen leicht provozierenden Unterton.
„Wohl kaum. Ich lege nur eine Pause ein.“
Helena beobachtete, wie Jannik beinahe gleichmütig eine Portion Gemüse in den Mund steckte. „Oder liegt es eher daran, dass Sie eigentlich in die Frau Ihres Cousins verliebt sind und seitdem einfach kein Interesse an anderen Frauen haben?“
Jannik erstarrte, stierte Helena an. Vorsichtig tastete er sich in Helenas Gedanken ein.
>Ich habe ihn! Verdammt, warum muss ich ihm wehtun?<
Jannik legte seine Gabel auf den Teller, wischte sich seinen Mund an der Serviette ab. „Nicole ist Adolars Frau. Unabhängig davon, was ich für sie empfinde, akzeptiere und respektiere ich diesen Umstand, Helena. Mehr ist dazu nicht zu sagen.“ Jannik merkte, dass sein Ton schärfer war, als er eigentlich beabsichtigt hatte, aber Helena hatte wirklich einen wunden Punkt getroffen.
Er und Adolar hatten schon lange vorgehabt nach Deutschland zu expandieren. Als die Beziehung zwischen Adolar und Nicole sich festigte und ein Hochzeitstermin feststand, forcierte Jannik die Absicht, nach Deutschland zu gehen und bat Adolar darum, die Zweigstelle persönlich leiten zu dürfen. Er wollte so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Nicole bringen.
Helena sah ihn bestürzt an. Jannik spürte, dass es ihr wirklich Leid tat, las es auch in ihren Gedanken. „Es tut mir Leid, Jannik. Ich hätte das nicht sagen sollen.“
Er wedelte mit der Hand. „Wir haben uns doch gegenseitig provoziert, Helena. Den Tod Ihrer Eltern zu erwähnen war auch nicht gerade sehr elegant.“
Betreten schwiegen sie, aßen still weiter.
„Ich hoffe, dass der Vorfall eben nicht unsere geschäftlichen Beziehungen beeinträchtigen wird.“ Helena nahm ihren ganzen Mut zusammen und sah dem Tschechen in die braunen Augen.
Er lächelte versöhnlich. „Nein. Ich sehe das eher sportlich. Wir haben ein Remis und werden noch weitere Runden ausfechten müssen. Ich bin schon neugierig, welche Waffen dann zum Einsatz kommen.“
Helena runzelte die Stirn, sah Jannik merkwürdig betroffen an.
>Ich habe ihm wirklich wehgetan. Das habe ich nicht gewollt!< Ihre Gedanken strichen eine Saite bei ihm an, die er noch nicht kannte. Jannik wollte nicht, dass sich Helena schuldig oder schlecht fühlte.
Er zahlte, half ihr in den Mantel und sie gingen hinaus. Sie atmete die kalte, nasse Luft des Februars ein.
„Kommen Sie, ich fahre Sie in die Firma Ihres Onkels.“ Jannik ergriff Helenas Arm, wollte sie wieder zum Parkhaus führen.
„Nein, Jan. Ich … nehme ein Taxi.“
Verwirrt sah Jannik die junge Frau an. „Ich habe Ihren Onkel aber versprochen, dass ….“
„Ich werde ihm sagen, dass Sie einen dringenden Anruf aus dem Büro bekommen haben und umgehend zurückkehren mussten. Ich denke, es ist besser, wenn wir uns hier verabschieden.“
Jannik sah in die dunklen Augen und für einen Moment, für einen winzigen Moment, wollte er die Frau in die Arme nehmen und festhalten. Das verwirrte ihn noch mehr.
„Es tut mir aufrichtig Leid, dass ich Ihre Gefühle verletzt habe, Jan. Bitte verzeihen Sie mir.“ Helena reichte Jannik die Hand und er ergriff sie, hielt sie fest. Er zog die Hand an seine Lippen, deutete diesmal den Handkuss nicht an, sondern vollendete ihn.
„Es tut mir Leid, dass ich mich zu den harten Worten habe hinreißen lassen, Helena.“
Sie lächelte, entzog ihm ihre Hand und drehte sich um. Ein leeres Taxi fuhr genau in diesem Moment vorbei und Helena winkte ihm zu.
„Helena!“
Sie drehte sich noch einmal zu Jannik Cerný um, der sie sehr ernst ansah.
„Wir werden uns doch wieder sehen, nicht wahr?“
Helena lächelte wieder. „Ja. Das werden wir.“
Sie stieg in den Wagen, schloss die Tür, nannte dem Fahrer die Adresse und schnallte sich an. Als der Wagen losfuhr, blickte sie noch einmal zurück und sah, dass Jannik ihr nachsah.
Helena Kapodistrias warf ihre Handschuhe auf die Kommode und den Kaschmirmantel über den Kleiderständer. Wütend über sich selbst schleuderte sie ihre Schuhe von den Füssen. Sie landeten weit voneinander entfernt in den Ecken ihres Büros. Sie goss sich etwas Wasser in ein Glas und setzte sich in ihren Bürostuhl, zog die Beine an.
Die Tür ging auf und Dimítrios trat in ihr Büro. Er runzelte die Stirn, als er Helenas Gemütszustand sah. „Du bist zurück!“
„Offensichtlich“, knurrte Helena und schloss die Augen, lehnte ihren Kopf zurück.
„Ist etwas passiert?“
Helena sah in die dunklen, kalten Augen ihres Onkels. „Nein.“
„Warum bist du dann so merkwürdig?“
„Weil ich Cerný provoziert, und ihn damit verletzt habe. Und es tut mir Leid.“
Überrascht sah Dimítrios Kapodistrias seine Nichte an. „Es tut dir Leid?“, fragte er entsetzt.
„Er ist nicht das, was du denkst.“ Helena trank ihr Wasser und stellte das Glas lauter als gewöhnlich auf ihren Schreibtisch ab.
„Woher willst du das wissen?“, fragte Dimítrios lauernd.
„Erstens hat er kein Fleisch sondern Gemüse gegessen.“ Sie zählte die Punkte an ihren Fingern ab. „Zweitens haben sich seine Augen nicht einmal verändert und drittens habe ich es einfach im Gefühl, Onkel Dim.“
„Ach, du hast es im Gefühl?“ Hohn tropfte aus der Stimme und ließ Helena aufhorchen.
„Ich habe dir gesagt, dass ich aus der Sache raus bin. Ich spiele nicht mehr deinen Lockvogel. Bei Cerný liegst du falsch. Er ist kein Dämon!“
Die Augen des Griechen glühten. „Hast du dich in den Tschechen verliebt?“
Verblüfft runzelte Helena erneut die Augenbrauen. „Gott, nein! Aber er ist kein Kandidat für dein Kellervergnügen!“
Mit zwei Schritten war Dimítrios Kapodistrias bei seiner Nichte, holte aus und ohrfeigte sie. Der Schlag war so heftig, dass sie von dem Bürostuhl fiel und mit einem kleinen Aufschrei zu Boden stürzte. Es überraschte Helena mehr als das es sie schmerzte und sie sah ihren Onkel entsetzt an. Der schüttelte sich plötzlich, krampfte seine Hände zusammen.
„Glaubst du etwa, dass es mir Spaß macht, diese Ausgeburten der Hölle zu jagen und sie ihrer Erlösung zu übergeben?“ Seine Stimme war leise, schneidend. Er beugte sich zu Helena runter, nahm ihre Hand in seine. „Du hast doch gesehen, wozu diese Kreaturen fähig sind. Du hast gesehen, was deinen Eltern geschehen ist.“
Dimítrios zog Helena hoch, streichelte über ihre gerötete Wange. „Wenn Cerný ein normaler Mensch ist, hat er nichts zu befürchten. Ich verspreche dir, dass ich gründlicher als sonst recherchiere. Aber verstehe bitte, dass ich nicht aufhören kann, nur weil dein Gefühl es dir sagt.“ Er umklammerte ihren Kiefer, drückte unsanft zu. „Wenn du nicht mitmachen willst, steh´ mir nicht im Weg. Aber überlege es dir noch einmal. Denn wenn du nicht mein Vermächtnis fortführen willst, wird dein Bruder eingeweiht werden!“
Tränen schossen in Helenas Augen. Es war das erste Mal in ihrem Leben, das Dimítrios seiner Nichte körperlich wehtat. „Lass bitte Táwo aus dem Spiel“, flüsterte sie gequetscht.
„Das liegt nicht an mir, Lena.“
Dimítrios Kapodistrias ließ das Gesicht seiner Nichte los, drehte sich um und verließ das Büro, ohne noch ein einziges Wort zu sagen.
Helena war plötzlich speiübel. Keuchend stützte sie sich auf dem Schreibtisch ab, schwitzte.
>Hoffentlich habe ich Recht. Hoffentlich ist Jan keine von diesen Kreaturen!<
Kapitel 4: Geschwisterbande
Helena Kapodistrias betrat das sonnendurchflutete Atelier ihres Bruders Stavros. Er hatte sich im Dachgeschoss der Villa die Südecke umbauen lassen. Große Fenster, vom Dachfirst bis zum Fußboden und über die ganze Länge der Wand gaben dem Raum mehr Größe und Tiefe. Einige Bilder und Stauen, die Stavros fertig gestellte hatte, standen an der Wand oder in den Ecken des Raumes. Die meisten Werke waren Studien der Körperproportionen, Akte oder Landschaftsaufnahmen aus dem Fenster heraus gesehen.
Aber einige Gemälde und eine Skulptur spiegelten die Alpträume des jungen Mannes wieder. Eine gesichtslose Gestalt, gebeugt, mit einer Axt in der Hand und einem vor Blut triefenden Mund.
Die Staffelei stand in der Nähe des Fensters, das Tageslicht fiel direkt auf die Leinwand. Stavros saß auf seinem hohen Hocker, hatte die Palette in einer Hand und zwei Pinsel in der anderen. Im Mund hatte er einen Pinsel und hinter seinem rechten Ohr steckte ebenfalls einer.
Lächelnd betrachtete Helena ihren Bruder, wie er losgelöst von seiner Umwelt die Leinwand bearbeitete und mit jedem Pinselstrich, jedem Farbtupfer ein neues Gemälde schuf. Sie konnte Stavros stundenlang zusehen, es wurde nie langweilig. Im Gegenteil, es beruhigte sie regelrecht.
Nach dem gestrigen Tag, der damit endete, dass ihr Onkel sie geohrfeigt hatte, brauchte sie die ruhige Ausstrahlung, die Stavros ihr bot. Leise setzte sie sich auf das alte, zerschlissene Sofa, schlug die Beine unter und sah sich um.
Das einzige Bild, das Stavros richtig aufgehängt hatte, war ein Portrait von ihr. Das Bild hatte er vor vier Jahren gemalt, als seine Leidenschaft und Begabung für die Malerei offensichtlich wurde. Helena machte auf dem Bild einen sehr nachdenklichen Eindruck, aber auch sinnlich und verführerisch.
´So sehe ich dich, Leni! `, hatte Stavros gesagt.
Innerlich immer noch aufgewühlt, blickte Helena auf ihre Hände, die nun nicht mehr zitterten. >Er darf nie erfahren, was Onkel Dim und ich heimlich tun!<, dachte sie und schluckte hart. >Ich muss ihn schützen.<
„Was beschäftigt dich, Schwesterchen?“ Stavros hatte den Pinsel aus dem Mund genommen und benutzte ihn gerade. Er hatte eine angenehme warme Stimme, ein sanftes Lächeln umspielte ständig seinen schönen Mund. Die hellblauen Augen stachen aus dem dunklen Gesicht hervor, und die fein geschwungenen schwarzen Augenbrauen und die dichten schwarzen Locken intensivierten die Augen geradezu.
„Muss mich denn etwas beschäftigen, wenn ich dich hier oben besuche und dir beim Malen zusehe?“ Sie versuchte unbeschwert zu klingen, merkte aber selbst, dass ihr das nicht gelang.
Stavros lächelte und blickte seine Schwester an. Sein Lächeln erstarrte plötzlich und die Augenbrauen zogen sich zusammen. „Verflucht!“
Er warf die Palette und die Pinsel auf den Beistelltisch, schnappte sich seine Gehhilfe und humpelte auf seine Schwester zu. Mit einer vorsichtigen, fast zärtlichen Bewegung umfasste er ihr Kinn und hob das Gesicht zu ihm hoch, drehte es ein wenig zur Seite. Ein bläulicher Schimmer prangte auf der linken Wange und am Unterkiefer waren kleinere Abdrücke zu erkennen. „War das Onkel Dim?“
Überrascht sah Helena ihren Bruder an. „Woher weißt du das?“ Sie hatte vorgehabt, ihn anzulügen. Sie wollte ihm sagen, sie wäre gestürzt oder sie wäre überfallen worden. Aber wenn Stavros sie direkt mit irgendetwas konfrontierte, konnte sie ihn nicht anlügen.
Die Nasenflügel des jungen Mannes blähten sich empört auf. Noch nie hatte Helena ihren Bruder so wütend gesehen. „Irgendwann musste er ja mal durchdrehen!“, knurrte Stavros und ließ sich neben Helena auf das Sofa plumpsen. „Komm her, Leni.“
Stavros hob seinen Arm und Helena kuschelte sich an seine Schulter. Wie früher, als sie noch kleine Kinder waren, legte er, der jüngere Bruder, ihr, der älteren Schwester, seinen Arm schützend um sie, drückte sie fest an sich. Zärtlich strich Stavros über das lange, glatte schwarze Haar Helenas.
„Was ist passiert?“, fragte er leise, seine Lippen auf ihren Kopf gepresst.
Helena atmete den leicht schweißigen Duft ihres Bruders ein. Sie roch auch Farbe und Pinselreiniger. Und ein Parfum, das sie noch nicht an ihn kannte.
„Wer ist sie?“, fragte Helena und sah kurz in hellblaue Augen.
Stavros grinste. „Eine Kommilitonin. Nett und intelligent. Nichts Ernstes. Woher weißt du das?“
„Ich rieche ihr Parfum an dir.“
Die blauen Augen blitzten schelmisch auf. „Vielleicht sollte ich doch nicht immer die Klamotten vom Vortag anziehen.“
„Igitt, du bist widerlich!“ Helena stieß Stavros mit gespieltem Entsetzen ihre Finger in die Rippen.
„Nein, große Schwester“, lachte er. „Ich bin ein Mann! Das ist mein natürlicher Moschusduft!“
„Bäh! Es gibt wirklich Frauen, die auf so etwas stehen?“
„Mehr als du denkst. Solltest du vielleicht auch mal versuchen!“
Indigniert sah Helena ihren Bruder an. „Ich soll einen Mann suchen, der sich nicht wäscht oder ich soll mich selbst nicht waschen?“
Lachend umklammerte Stavros Helena, zog sie bäuchlings über seinen Schoß und schlug ihr auf den schlanken, festen Po. Helena quietschte auf, strampelte, lachte.
„Lass mich los du Grobian!“
„Erst, wenn du dich nicht länger raus redest und mir endlich erzählst, was passiert ist.“
Sie hatte gehofft, das Stavros nach dem Ablenkungsmanöver nicht mehr darauf zu sprechen kommen würde. Sie sah ihm sehr ernst in die Augen, die sie grübelnd und fragend zugleich anblickten. Ergeben seufzte Helena. Sie würde ihm so viel erzählen wie sie konnte, ohne dass sie das geheime Bündnis zwischen Dimítrios und ihr erwähnen musste.
„Na gut, Táwo. Onkel Dim und ich hatten gestern Vormittag einen Geschäftstermin. Wir haben Kontakt mit einem Abnehmer für unser Spezialglas geknüpft.“
Stavros entließ seine Schwester aus dem Griff und Helena rappelte sich wieder auf, blies eine Haarsträhne aus dem Gesicht und setzte sich neben Stavros. Wie so oft legte sie ihre Beine quer über seine Beine und er begann sofort, ihre Füße zu massieren. Sie erzählte ihm in allen Punkten, wie dieses Gespräch lief und das es zu einer mündlichen Vereinbarung gekommen war.
„Die Verträge werden jetzt von unseren Firmenanwälten aufgesetzt und ausgehandelt. Nächste Woche wird es dann wahrscheinlich zur Unterschrift kommen.“
Stavros hatte aufmerksam zugehört, nickte zwischendurch ein paar Mal. „Und nach dem Gespräch?“
Helena wurde unruhig, wusste aber nicht genau warum. „Cerný lud Onkel Dim und mich zum Essen ein. Onkel Dim gab vor, in der Firma zurück zu müssen.“
„Aha. Der Alte wollte also, dass du den Tschechen ein wenig aushorchst. Auf deine eigene, ganz charmante Weise.“
Helena nahm eine ihrer schwarzen Haarsträhnen zwischen die Finger und besah sich intensiv die Spitzen. „Ja.“
„Was hast du herausgefunden?“
„Nur das, was wir ohnehin schon wussten.“ Sie wich aus, wollte nicht an Jannik denken.
Stavros umfasste mit einer Hand Helenas Handgelenk. „Beschreibe ihn mal. Wie sieht er aus?“ Stavros hatte ein untrügliches Gespür dafür, im richtigen Moment das Falsche oder aber im Falschen Moment das Richtige zu sagen.
„Er ist 25 Jahre alt, eins-fünfundachtzig groß, hat blonde, kurzgeschnittene Haare, einen gepflegten Vollbart und braune Augen.“ Sie klang genervt, ratterte die Beschreibung einfach runter.
„Und Dim denkt, dass du in ihm verknallt bist, deshalb hat er dir eine gescheuert?“
„Ja. In gewisser Weise. Ich meine, ich denke, dass Onkel Dim in gewisser Weise denkt, dass ich in Cerný verknallt bin.“
„Gefällt er dir?“
Überrascht sah Helena ihren Bruder an. „Er ist ein Geschäftspartner, Táwo!“
„Das habe ich nicht gefragt, meine Schwester.“ Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Himmel, Táwo! Ja, Jan sieht gut aus und er ist charmant. Ein Womanizer!“
„Also gefällt er dir.“ Das war eine Feststellung.
„Das tut nichts zur Sache. Ich verliebe mich nicht in einem Geschäftspartner, das wäre unprofessionell. Ich poppe auch nicht rum, um eventuell günstigere Bedingungen auszuhandeln.“ Verärgert zog Helena die Augenbrauen zusammen.
„Warum hat dann dein Puls jedes Mal einen Hüpfer gemacht, als du von Cerný gesprochen hast?“
Verdattert blickte Helena Stavros in die Augen. Dann begriff sie. Die Hand des Bruders an ihrem Handgelenk war absichtlich so platziert. Seine sensiblen Finger hatten ihren Puls gefühlt. „Himmel, ich scheine es ja echt nötig zu haben!“
Stavros lachte auf, ließ ihr Handgelenk los. „Aber Onkel Dim sollte es lieber nicht erfahren. Er will dir doch einen reichen, griechischen, orthodoxen Christen suchen!“
Helena zog ein verdrießliches Gesicht und streckte Stavros die Zunge raus.
„Das sollte gerade ein Scherz sein“, gab Stavros nach einer Weile zu Bedenken. „Das mit dem orthodoxen Christen meine ich.“
Helena sah verlegen zur Seite. Dimítrios Kapodistrias hatte Helena vor einigen Jahren klargemacht, dass ihr Leben und ihre Zukunft ausschließlich in seinen Händen lagen. Und tatsächlich verbot Onkel Dim ihr eine Beziehung mit einem Mann, der nicht christlich-orthodox war.
´Affären kannst du haben, Helena!`, hatte Dimítrios gesagt. ´Wenn dir das Fell juckt wie eine räudige Katze dann such dir jemanden, der dich befriedigt. Aber keine Beziehung und absolute Diskretion. Ist das klar?`
„Großer Gott, Leni! Das ist nicht dein Ernst?“ Stavros Augenbrauen waren so zusammengezogen, dass sie einen einzigen Strich auf seiner schönen Stirn bildete. „Wir leben im 21. Jahrhundert! Du kannst selbst entscheiden, mit wem du zusammen sein möchtest und mit wem nicht!“
Helena sah ihren Bruder traurig an. „So einfach ist das nicht. Ich schulde ihm etwas!“
Verständnislos sah Stavros Helena an. „Was denn? Gut, er hat uns aufgenommen und großgezogen, nachdem unsere Eltern ermordet worden waren. Aber wir haben immer nach seinen Regeln gelebt. Du bist eine erwachsene und intelligente Frau, Helena!“
Helena nahm ihre langen Beine vom Schoß ihres Bruders und stand auf.
„Ich will auf deiner Hochzeit eine glückliche Braut sehen, Leni. Du sollst den Mann bekommen, den du liebst, den du verdienst.“ Stavros hielt Helenas Hand fest. „Was verheimlichst du mir?“
Helena sah traurig in die Augen ihres geliebten Bruders. „Frage bitte nicht, Táwo. Ich will dich nicht anlügen müssen.“
Ihre Stimme war leise und ängstlich. Stavros stand auf, gestützt auf seiner Gehhilfe. Ernst sah er in ihre dunklen Augen, umfasste sanft ihr Gesicht.
„Schwester. Du bist alles, was mir wichtig ist. Ich habe gelernt, meine Behinderung zu akzeptieren und mit ihr zu leben. Ich könnte mit wenig Geld auskommen, wenn ich von heute auf morgen bettelarm wäre. Wenn Onkel Dim eines Tages stirbt, werde ich traurig sein, aber das Leben geht weiter.“ Stavros presste seine Stirn an Helenas, was nicht ganz einfach war, da sie fünf Zentimeter größer war als er.
„Aber wenn du unglücklich bist, bin ich das auch. Wenn dir etwas geschehen sollte, dann …. Ich weiß nicht, wie ich ohne dich weiterleben könnte.“
Erschrocken sah Helena in die vertrauten Augen, sah Tränen. Rasch umarmte sie ihren Bruder. „Du bist für mich ebenfalls der wichtigste Mensch in meinem Leben, Táwo! Niemand kennt mich so gut wie du. Aber nach dieser schrecklichen Nacht damals habe ich geschworen, dich für den Rest meines Lebens zu beschützen. Und nicht nur vor Dämonen!“
Ein verzweifeltes Lächeln umspielte Stavros Lippen, als er kopfschüttelnd seine Schwester ansah. „Es gibt keine Dämonen. Der Mörder unserer Eltern war ein realer Einbrecher, kein übernatürliches Wesen.“
Helena hätte ihm gern gesagt, dass sie und Onkel Dim seit einigen Jahren auf Dämonenjagd waren und seitdem drei Vampire zur Strecke gebracht hatten.
Aber sie schwieg.
Aus Scham!
Kapitel 5: Wer ist der Feind?
Jannik Cerný stellte gerade vier Gläser auf der Theke seiner Küche bereit, als es klingelte. Mit ein paar langen Schritten war er an der Wohnungstür seines Lofts und sah auf den kleinen Monitor, der an der Gegensprechanlage neben der Tür hing. Eine kleine Frau mit langen Haaren sah direkt in die Kamera und grinste breit.
„Sie weiß einfach, wie man auftritt!“, murmelte Jannik bewundernd und drückte auf den Knopf um die Haustür zu öffnen. Fünf Sekunden später öffnete er die Wohnungstür und prallte zurück. „Gott!“
Die Frau musste die Treppen wahrlich hochgeflogen sein, denn knappe Einmetersechzig grinsten ihn von unten sehr breit an. „Es reicht, wenn du mich Rona nennst, Jan.“ Eine Stimme so klar wie eine Gebirgsquelle tropfte ihm entgegen und der Duft von wildem Thymian stieg ihm in die Nase.
„Bescheidenheit lag dir noch nie, Rowena Mc Dougall!“, stellte Jan fest und nahm die kleine Frau in seine Arme. Sie lachte ein helles Lachen und küsste ihn lange auf die Lippen und er erwiderte den Kuss ebenso innig.
„Wie lange ist es her?“, fragte Rowena, nachdem Jannik sie auf den Boden gestellt hatte.
Jannik überlegte kurz. „Etwa fünfzig Jahre. Damals trafen wir uns in Florenz. Eine Ewigkeit ist das her.“
Rowena lächelte verschmitzt. „Für dich mag es ewig her sein. Für mich war es gestern.“
„Angeberin!“ Seine Beleidigung klang zärtlich.
Rowena Mc Dougall war eine zarte Erscheinung. Ihre geringe Körpergröße und der zarte Körperbau erweckten in jedem Mann, der ihr begegnete den Wunsch, sie zu beschützen. Sie hatte ein rundliches, eher blasses Gesicht, umrahmt von honigblondem Haar. Einen kleinen, immer roten Kussmund und wie alle ihrer Art wunderschöne, perfekt geformte und strahlend-weiße Zähne. Aber das Schönste und zugleich Auffälligste an ihr waren die Augen. Sie waren von einer tiefvioletten Färbung, wie sie es nur ganz selten auf der Welt gibt.
„Ich muss schon sagen, Jan. Du hast Geschmack. Und zwar in jeder Epoche!“ Anerkennend inspizierte Rowena das Loft ihres alten Freundes.
„Danke. Aus deinem Mund ist das wirklich ein Kompliment, Rona.“
Überall lag helles Parkett, hier und da durch eine Teppichbrücke aus edler Faser unterbrochen. Moderne Möbel, teils rot lackiert, teils schwarz abgesetzt. Alles aufeinander abgestimmt. Die Sitzelemente waren ebenfalls modern, entsprachen aber den Anforderungen für ein gesundes Sitzen inklusive Bequemlichkeit. Weiches rotes Leder mit schwarzen Applikationen luden zum Sitzen und einiges mehr ein.
„Wie ich dich kenne wirst du hier schon den einen oder anderen One-Night-Stand gehabt haben.“