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»Ich Dich reizen?« fragte die Frau befremdet.
»Du brauchst Dich nicht zu verstellen, ich weiß Alles. Du hast geglaubt, ich läge in der Kammer und schliefe; aber ich schlief nicht, und ich will jetzt wissen, was Deine Brust so schwer bedrückt und was Du dem Doctor in Gegenwart eines Zeugen mitzutheilen und zu übergeben beabsichtigst.«
Bei dieser Anrede wurde das Gesicht der Frau noch fahler, und indem sie sich vergeblich bestrebte, ihre wachsende innere Unruhe zu verbergen, brachte sie mühsam heraus: »Ich weiß von nichts.«
»So, also Du weißt von nichts? Gut, so werde ich Dein Gedächtniß auffrischen. Du sagtest zu dem Doctor, Du habest ihm eine Mittheilung von der größten Wichtigkeit zu machen; es sei ein Geheimniß, welches Du nicht mit hinübernehmen könntest, im Falle Du sterben solltest, da das Wohl und Wehe anderer Menschen davon abhänge. Er möchte aber noch einen sichern Zeugen, jedoch keinen vom Gerichte, mitbringen, der später Deine Worte bekräftigen könne. Auch wollest Du ihm einen Beweis für die Richtigkeit Deiner Aussagen übergeben. Ich merkte wohl, um den Zeugen war es Dir gar nicht so sehr zu thun. Du wolltest nur den Doctor veranlassen, wiederzukommen, selbstverständlich zu einer Zeit, in welcher ich nicht zu Hause sei, damit die ganze Geschichte hinter meinem Rücken abgemacht werden könne. Der Doctor kam Dir wie gerufen. Solche noble Leute betreten nicht alle Tage unsere Wohnung. Das hattest Du indessen nicht erwartet, daß der quecksilberne Doctor noch in dieser Nacht mit seinem Zeugen zurückkehren würde, eben so wenig warst Du aber auch darauf vorbereitet, daß ich die Nacht in Deiner Gesellschaft zuzubringen wünschte. Hast mir zwar Winke genug gegeben, außerhalb zu nächtigen; allein warum sollte ich gehen? Ist es doch warm hier und steht mir außerdem die Freude bevor, Euch endlich einmal wieder nach Herzenslust essen zu sehen! Du begreifst also, ich habe kein Wort von Deiner Unterredung mit dem Doctor verloren, sei daher gut und vertraue mir Dein Geheimniß an.«
»Ich weiß nichts,« flüsterte die Frau, die, so lange ihr Mann sprach, mit dem Ausdruck des Entsetzens und ohne ihn zu unterbrechen zugehört hatte.
»Du weißt nichts, so - ist das Dein letztes Wort?« fragte der Gauner höhnisch, indem er seine Pfeife in die Tasche schob.
»Ich weiß nichts, und wüßte ich Etwas, würde ich es nicht sagen, und wenn Du mich todtschlügst!«
»Hm, das Todtschlagen würde mir nicht viel helfen; Dein Geheimniß ginge für mich verloren, und ich hätte alle Aussicht, gegen meinen Wunsch freies Quartier zu erhalten. Nein, nein, so dumm sind wir nicht! Ich besitze andere und durchgreifendere Mittel, Dich sprechen zu machen. Ich werde mit Riekchen, anstatt daß es die warme Suppe verspeist, einen kleinen Spaziergang auf's Land machen und dabei etwas schnell gehen. Kann es mir dann nicht folgen, so ist es seine eigene Schuld, und ich will nur wünschen, daß es nicht ermüdet und sich hinsetzt; dergleichen ist nämlich gefährlich bei kaltem Wetter. Nicht wahr, Riekchen?«
Das Kind heftete einen blöden Blick auf den grausamen Vater und nickte zustimmend. Die Mutter dagegen warf sich mit einem schmerzlichen Stöhnen auf die Seite; dann aber sich mit letzter Kraft in eine sitzende Stellung emporrichtend, rief sie entsetzt aus:
»Elender, Du wirst Dein Kind nicht ermorden wollen! - Ich weiß nichts, ich sage Dir, ich weiß nichts! Rühre das Kind an, und ich schreie alle Leute im Hause zusammen!«
»Von Ermorden ist keine Rede,« antwortete der Mann entschieden, »und schreien kannst Du so viel, wie Du willst; unsere Nachbarn werden sich nicht sehr erheblich um Deinen Feuerlärm kümmern, und den möchte ich sehen, der mir wehren wollte, mit meinem leibeigenen Kinde einen Spaziergang zu machen! Also entscheide Dich; Du weißt, ich spaße nicht lange. Willst Du sprechen oder nicht?«
»Ich kann nicht, ich darf nicht, Du würdest mich und Andere unglücklich machen, nein, nein! Du bist der Letzte, der es wissen darf!«
»So, ich also der Letzte?« wiederholte der Mann zähneknirschend. »Gut, dann kann ich Dir nicht helfen!« Und so sprechend, schritt er nach dem Feuerherde hin und mit rauhem Griff faßte er seine Tochter an der Hand.
»Laß mich essen,« versetzte das Kind, sich sträubend, »ich habe Hunger, und die Milch wird gleich überkochen.«
»So, nun wird sie nicht mehr überkochen,« erwiderte der unnatürliche Vater, indem er den Kessel vom Feuer nahm. Deine Mutter kann die schöne, warme Suppe allein essen; wir haben noch einen Gang vor uns - komm, komm.«
»O, laß mich, laß mich,« flehte das Mädchen, in Thränen ausbrechend, »es ist hier so warm und draußen liegt tiefer Schnee!«
»Mein Kind!« schrie die Mutter heiser, »Elender, schone das Kind!«
»Willst Du sprechen?« fragte der Mann zurück, während er das jammernde Mädchen nach der Thüre hinzog.
»Ich kann nicht!« stöhnte die Mutter. Als aber die Thür sich öffnete und der Mann eben hinaustreten wollte, brach ihre letzte Kraft. Mit einem dumpfen Schrei sank sie hintenüber, und kaum besaß sie noch Leben genug, mit röchelnder Stimme zu versichern, daß sie Alles sagen wolle, was er nur irgend zu wissen wünsche.
»Wirst Du mir auch das Beweismittel zeigen, von dem die Rede war?« fragte der Gauner ruhig.
»Alles, was Du willst,« lautete die kaum verständliche Antwort.
»Ich wußte wohl, daß Du nachgeben würdest,« versetzte der Mann kaltblütig, indem er das Kind losließ und die Thür wieder schloß; »es sollte mir auch Riekchen's wegen leid gethan haben. Aber, Riekchen, nun esse so viel Du irgend kannst und magst, und kümmere Dich nicht um das, was ich mit Deiner Mutter spreche.«
Auf den Befehl seines Vaters suchte das Kind einen verrosteten Löffel aus einem Winkel hervor und begann mit Behagen von der Suppe zu essen, während der Mann ein Töpfchen voll Milch aus dem Kessel abgoß und es der halb ohnmächtigen und an allen Gliedern bebenden Frau darreichte.
Nachdem die Frau sich durch einen langen Trunk gekräftigt, kauerte er sich neben sie nieder, sie auffordernd, nun ohne Umschweife ihr Geheimniß zu enthüllen.
Die von körperlichen Leiden und Seelenqualen gefolterte Frau fragte: »Du bist also unerbittlich?«
»Unerbittlich,« lautete die ruhige Antwort.
»So mag es darum sein. Mögest Du indessen nie einen schlechten Gebrauch von meinem Geheimnisse machen, denn aller Fluch, der darauf folgt, fällt nicht nur auf Deine Seele, sondern vielleicht auch auf Dein Haupt zurück!«
»Laß nur immer fallen,« schaltete der Bösewicht gleichmüthig ein, und die Frau, als ob sie die Bemerkung nicht vernommen hätte, fuhr fort:
»Du weißt, wo ich mich vor unserer Verheirathung aufhielt und daß ich auf redliche Weise meinen Unterhalt verdiente.«
»Das sind Nebensachen,« bemerkte der Mann ungeduldig. »Ich will wissen, um was es sich hauptsächlich handelt; beeile Dich daher, damit Du zu Ende kommst, bevor der Doctor wieder eintrifft.«
»Ja ja, ich will. So unbescholten, wie die Leute mich hielten, war ich indessen nicht ...«
»Was ich auch nie geglaubt habe,« versetzte der Mann, brutal lachend.
»Nein, ich hatte eine schwere Schuld auf mich geladen, indem ich für Geld und auf Zureden eines vornehmen Mannes mich verleiten ließ, heimlich in die Stube des alten Pfarrers, bei dem ich diente, einzudringen und ein Blatt aus einem nicht mehr im täglichen Gebrauche befindlichen Kirchenbuche zu entfernen. So, das ist mein ganzes Verbrechen, und es ist groß genug, mir meine Ruhe auf ewig zu rauben!«
»Ich sehe die Größe des Verbrechens gerade nicht ein,« entgegnete der Gauner, seine Frau immer aufmerksamer betrachtend. »Es handelt sich zuerst darum, zu welchem Zwecke das lumpige Papier gestohlen wurde. Man muß doch einen Grund gehabt haben?«
Die Frau sann eine Weile nach - offenbar hatte sie gehofft, ihren Mann durch dieses Geständniß zufriedenzustellen. Als sie aber in seinen Augen ein hartnäckiges Bestehen auf seinen einmal gefaßten Entschluß las, hob sie wieder an: »Den eigentlichen Zweck habe ich nie erfahren, ich glaube aber, es betraf die Gültigkeit einer Ehe; denn der mir ertheilte Auftrag lautete dahin, das Blatt, auf welchem zwei mir angegebene Namen als die zweier Getrauten standen, herauszureißen.«
»Und die Namen?«
»Ich habe sie vergessen.«
»Nun, vielleicht fallen sie Dir später ein; erzähle nur weiter. Der Diebstahl gelang also?«
»Ja, leider gelang er, und ich glaube, es ist für manchen Menschen viel Unheil daraus erwachsen.«
»Du erhieltst indessen Deine Bezahlung und liefertest das Blatt ab?«
»Ich erhielt den versprochenen Lohn, doch das Blatt wies man mit Entrüstung zurück. Man warf mir vor, meine Verführer mißverstanden zu haben, indem nie ein derartiges Verbrechen von mir verlangt worden sei und man nur eine Abschrift gewünscht habe. Man drohte mir sogar mit gerichtlicher Verfolgung, und als ich in meiner Verzweiflung um Erbarmen bat - denn ich sah mich im Geiste schon im Zuchthause - da versprach man mir, zu schweigen, wenn auch ich reinen Mund halten und das Blatt nicht an mir zum Verräther wolle werden lassen. Ich sah mich vom Rande eines Abgrundes zurückgerissen und betheuerte in meiner Freude Alles. Damals begriff ich nicht, daß man ein frevelhaftes Spiel mit mir getrieben haben könne, um sich meiner Verschwiegenheit zu versichern; denn lieber wäre ich hundert Male gestorben, ehe auch nur eine Silbe über meine Lippen gekommen wäre, die zur Entdeckung des Diebstahls geführt hätte. Dabei besaß ich aber doch nicht den Muth, das unheilvolle Blatt zu vernichten, und mit einer unbesiegbaren Angst habe ich es bis auf den heutigen Tag aufbewahrt.«
»Du besitzest also das fragliche Blatt noch?«
»Ja - nein - ich weiß nicht, wo es geblieben ist; es ist mir abhanden gekommen.«
»Schon gut, schon gut; erzähle nur weiter.«
»Das ist Alles; ich dachte, es wäre genug; für mich wenigstens ist es die langen Jahre hindurch mehr als zu viel gewesen,« entgegnete die Frau, mit allen Zeichen tödlicher Erschöpfung die Hände über der ihre Brust bedeckenden Lumpenhülle faltend.
»Merkwürdig, sehr merkwürdig,« versetzte der Gauner, indem er seine Frau mißtrauisch von der Seite betrachtete, »um solche Kleinigkeiten so viel Aufhebens zu machen. Ich begreife überhaupt nicht, wie Du Dich deshalb auch nur einen Augenblick hast beunruhigen können.«
»Du begreifst das nicht?« fragte die Frau, die großen, eingesunkenen Augen vorwurfsvoll auf ihren Mann richtend. »Du begreifst nicht, daß die Strafe dem Verbrechen auf dem Fuße nachfolgte, der Segen von mir wich und ich mit meinem Kinde dem gräßlichsten Elende anheimfiel, weil ich mit ruchloser Hand die Kirche bestahl? Freilich, in Deinen Augen mag die schändliche That gerechtfertigt erscheinen, denn Du hast keine Ahnung davon, was es heißt, sich täglich, ja, stündlich eingestehen zu müssen, daß man vielleicht fremde, unbekannte Menschen in's Unglück stürzte. Ich habe so lange darüber nachgedacht, bis mir endlich Alles klar geworden ist; es handelte sich um einen Betrug, um die Schändung eines ehrlichen Namens, und ich - ich bin als Werkzeug dazu benutzt worden, denn ohne meine Hülfe hätte dergleichen nie geschehen können.«
»Narrheiten,« warf der Gauner gleichgültig ein; »Du hast gehandelt wie ein gescheidtes Mädchen. Diejenigen, die Dich bezahlten, haben die Folgen Deines Diebstahls zu verantworten, und nicht Du. Auch wenn Du Dich nicht zu dem Geschäft verstanden hättest, würden Hunger und Elend Dich zu finden gewußt haben. Du warst eben nicht praktisch, hattest ein zu zartes Gewissen, oder es wäre anders mit uns geworden. Aber noch immer begreife ich nicht, wie Du auf den verrückten Gedanken gekommen bist, einem fremden Menschen die ganze Geschichte zu erzählen. Denn bringt er Dich auch nicht vor Gericht - wie ein Spion sah er mir wenigstens nicht aus -, so hast Du doch auch keinen Vortheil davon.«
»Ja, ich habe Vortheil davon,« antwortete die Frau hastig und mit sichtbarer Anstrengung; »ich habe den Vortheil des Bewußtseins, daß denjenigen, die ich durch meine ruchlose Handlung schädigte, ihre Rechte wieder eingeräumt werden und ich ruhig sterben kann, und ich fühle mich krank genug, um an's Sterben denken zu dürfen. Wenn ich aber todt bin, werden die Leute meines offenen Geständnisses wegen sich meines Kindes erbarmen und es nicht unter freiem Himmel vor Hunger und Kälte umkommen lassen. Du hast ja die langen Jahre hindurch bewiesen, daß Du nicht im Stande bist, für Dein Kind zu sorgen. Das ist mit der Grund, weshalb ich das Geheimniß nicht länger bei mir behalten will; es muß herunter von meiner Seele, denn kann ich selbst auch hungern und frieren, so ertrage ich doch nicht den Anblick der Leiden unseres Kindes.«
»Deine Berechnungen sind nicht ganz sinnlos,« bemerkte der Gauner, der während des letzten Theiles der Rede seiner Frau grübelnd vor sich niedergeschaut hatte. »Es kommt nur darauf an, wer und was die Personen sind, die Dich einst zu dem Diebstahl verleiteten, um zu ermessen, ob sich nicht auf andere Weise größere Vortheile erschwingen ließen.«
»Was meinst Du damit,« fragte die Frau, von einer bösen Ahnung ergriffen.
»Nichts,« antwortete der Mann kurz; »ich wünsche nur die Namen der Leute zu erfahren, die Dich zu dem saubern Geschäfte benutzten.«
»Die Namen? Die Namen habe ich vergessen, aber es waren sehr vornehme Leute,« entgegnete die Frau mit unsicherer Stimme.
»So? Hm, das ist sehr zu bedauern. Vielleicht entsinnst Du Dich der Namen, die auf dem Blatte standen.«
»Die habe ich ebenfalls vergessen; ich glaube, der eine war derselbe, wie diejenigen führten, die mich zu der ruchlosen That veranlaßten.«
»Merkwürdig, wie Du Dein Gedächtniß verloren hast,« versetzte der Gauner mit höhnischer Theilnahme. »Es bleibt mir also nur noch ein letzter Weg übrig; höre mir daher aufmerksam zu. Du weißt, ich mache nicht viel Umstände, und wenn ich eine Drohung ausgesprochen habe, so führe ich sie auch aus. Sieh Dir unser Riekchen noch einmal an, wie schön es ihm schmeckt, und dann denke Dir das Schlimmste. Ich bin also zu dem Schlimmsten entschlossen, wenn Du mir den geringsten Widerstand entgegenstellst; eben so bin ich aber auch mit mir darüber einig, sehr viel für Dich und das Kind zu thun, wenn Du meine Fragen aufrichtig und ohne Umschweife beantwortest.«
Hier schwieg er eine Weile und seine entschlossenen Blicke bohrten sich gleichsam in die Augen seiner besorgt lauschenden Frau ein. Als er dann endlich glaubte, den seinen Zwecken entsprechenden Eindruck auf die Unglückliche ausgeübt zu haben, fuhr er fort: »Wo ist das Blatt aus dem Kirchenbuche?«
»Ich habe es verlegt und verloren, ich hätte es längst dem alten Prediger zurückgebracht, wenn er nicht, bald nachdem ich den Diebstahl beging, gestorben wäre!« ächzte die Frau, ihr Gesicht abwendend.
»Weib, ich frage Dich zum letzten Male: wo ist der Beweis, den Du in des Doctors Hände niederzulegen wünschtest?«
Die Frau schwieg, allein das Zucken und Zittern, der sie bedeckenden Lumpen verrieth die Verzweiflung, in welche die Frage sie gestürzt hatte.
»Ich stehe jetzt auf, und wenn ich erst aufgestanden bin, dürfte es Dir nicht so leicht werden, mich wieder zu Dir zurückzubringen.«
Die Kranke wendete dem Vagabunden ihr erdfahles Gesicht zu, welchem das Entsetzen jeden andern Ausdruck geraubt hatte, und zugleich deutete sie mit dem skelettartig abgemagerten Arme nach einer kleinen, halb offen stehenden Thüre hinüber, die in den einzigen Nebenraum der Wohnung führte.
»Ah,« rief der Mann überrascht aus, »also deshalb konntest Du dem Doctor das Papier nicht einhändigen? Aber es schadet nicht! Sage mir nur genau, in welchem Winkel meines Schlafcabinets Du Deinen Schatz verborgen hast!«
Die Frau zögerte einen Augenblick, dann aber rief sie unter ausbrechenden Thränen:
»Es hilft mir ja Alles nicht, ich bin in Deiner Gewalt, und vor dem Zuchthause wird mich hoffentlich der Tod bewahren! Geh' in die Kammer hinein und taste mit der Hand über der Thür in die zwischen dem Mauerwerke und der Thüreinfassung befindliche Ritze, und Du wirst es finden! Aber wenn Du noch einer Probe von menschlicher Regung fähig bist, so gieb es mir zurück - gieb es mir zurück, und ich verzeihe Dir Alles, was ich durch Dich erduldet habe!«
Die letzten Worte vernahm der Gauner nicht mehr. Er war bereits in die Kammer, einen dunklen, leeren Raum mit einer dürftigen Strohschütte, eingetreten, und schon in der nächsten Minute erschien er wieder mit einem sorfältig in einen unsauberen Zeugstreifen gewickelten Paketchen in der Hand.
»Ist dies das rechte?« fragte er, indem er nach dem Feuerherde schritt.
Die Frau nickte zustimmend und verfolgte mit ängstlichen Blicken die Bewegungen ihres Gatten.
Dieser hatte sich unterdessen dem Feuer genähert und entfernte unter mancherlei Bemerkungen über die Sorgfalt, mit welcher seine Frau das wichtige Document gegen das Vermodern zu schützen gewußt habe, die sechsfache Hülle von dem Paketchen, bis er endlich nur noch ein altes, mit vergilbter Schrift bedecktes Papier in den Händen hielt.
»Richtig, ein Blatt aus einem Kirchenbuche!« rief er frohlockend aus, nachdem er einen prüfenden Blick auf das auseinander gefaltete Folio-Blatt geworfen hatte, und dann begann er, die einzelnen auf demselben verzeichneten Namen für sich zu lesen.
»Lauter Bauern,« sagte er nach einer Weile, als er die eine Seite zu Ende gelesen hatte, »davon ist's natürlich Keiner; doch halt, wen haben wir hier?« rief er plötzlich aus. Als er aber gewahrte, daß die Blicke seiner nunmehr gesättigten Tochter mit starrer Neugierde auf ihn gerichtet waren, ergriff er einen brennenden Holzspan, und sich zu seiner Frau niederneigend, deutete er auf einen Namen.
»Nicht wahr, dieser hier ist's?« fragte er mit unterdrückter und vor innerlicher Freude bebender Stimme.
»Ja, der ist's,« lautete die kaum verständliche Antwort; »aber nun gieb mir auch das Blatt zurück.«
»Vielleicht später,« versetzte der Gauner gefühllos, indem er sich erhob und, das Blatt in seinen auf dem Rücken verschränkten Händen, mit gesenktem Kopfe in dem Gemache auf und ab zu schreiten begann.
Wohl zehn Minuten verstrichen in tiefem Schweigen. In dem Gemache selbst war kein anderes Geräusch vernehmbar, als die schweren Schritte des Mannes, das lustige Knistern des kienreichen Holzes, das gepreßte Athmen der Kranken und das eigenthümliche Pfeifen, mit welchem das Kind, trotz der Nähe des Feuers, in seine braunen, schwieligen Hände hauchte, während aus den anderen Theilen des Hauses wüster Lärm von zankenden Weibern, scheltenden Männern und weinenden Kindern dumpf herüberschallte.
Plötzlich blieb der Gauner mit einer so heftigen Bewegung stehen, daß die Frau, die ihn unausgesetzt, Verzweiflung in den Blicken, beobachtet hatte, erschreckt zusammenfuhr.
»Ich habe mir die Sache überlegt,« hob er mit drohend entschiedenem Wesen an; »es wird sich daraus Etwas machen lassen, wenn man es geschickt anfängt.«
»Du wirst das Blatt doch nicht behalten wollen?« fragte die Frau, sich vor Angst halb aufrichtend.
»Mische Dich nicht in Angelegenheiten, die Du nicht verstehst,« entgegnete der Bösewicht ungeduldig; »allerdings behalte ich das Blatt, und zwar, um zu seiner Zeit guten Gebrauch davon zu machen, was wir schon längst hätten thun können, wärest Du nicht so beschränkten Geistes gewesen.«
»Aber der Doctor, der Doctor, was soll ich ihm antworten, wenn er mir den ihm versprochenen Beweis abverlangt? Gieb mir das Blatt wieder, das Blatt, oder Du erlebst, daß ich zu Deinem und meinem Ankläger werde!«
»Klage uns immerhin an,« hohnlachte der Gauner, »und die nächste Folge wird sein, daß man das Kind von Dir nimmt, Dich aber in's Zuchthaus schickt. Meine Person dagegen? Hahaha! mein Nein gilt so viel, wie Dein Ja, und wer würde wagen, einen unbescholtenen Mann, gegen den keine Beweise vorliegen, in Untersuchung zu ziehen? Hahaha! Noch mehr: Du erhältst das Blatt nicht nur nicht zurück, sondern ich verbiete Dir auch bei allen Strafen, denen ich Dich zu unterwerfen vermag, daß Du ein einziges Wort, sei es nun vor dem Doctor oder irgend einer andern Person, darüber verlauten läßt!«
»Mein Gott, was soll ich antworten, wenn er mich fragt?«
»Thue, was Du willst,« versetzte der Mann trocken; »Du hattest keinen Auftrag, den Doctor in Dein Vertrauen zu ziehen, Du magst also auch zusehen, wie Du Dir aus der Verlegenheit heraushilfst. Sage ihm, er habe geträumt, oder Du habest geträumt; denke Dir irgend ein Märchen aus - aber nur eine Andeutung von der Wahrheit, und ich stürze aus der Kammer herein und werfe den Doctor sammt seinem Zeugen über Hals und Kopf zur Thür hinaus, und ob sie alsdann von unserer Thüre bis auf die Straße auf Rosen wandeln werden, wirst Du wohl ermessen!«
Offenbar wollte die unglückliche Frau ihr Flehen erneuern, doch wurde sie durch den Schall einer auf dem Hofe angebrachten geborstenen, heiseren Klingel daran gehindert.
»Da sind sie,« sagte der Gauner, indem er der Thür zuschritt; »es bleibt also dabei; kein Wort von dem Kirchenbuche!«
Dann auf den Hof hinaustretend, zog er an einer andern, helleren Klingel, auf deren Ton der Lärm in den übrigen Theilen des Hauses, bis auf einige Kinderstimmen, sogleich verstummte, worauf er wieder in das Gemach zurückkehrte.
»Riekchen,« wendete er sich an das zagend zu ihm aufschauende Mädchen, »Du kannst hingehen und die fremden Herrschaften hereinführen. Vergiß aber nicht: Du hast keinen Vater; es ist auch während des ganzen Abends Niemand hier gewesen - und bedanke Dich schönstens für das Abendbrod.«
Das Kind nickte zum Zeichen des Verständnisses und entfernte sich; die Mutter wälzte sich stöhnend auf ihrem harten Lager, und der Mann begab sich in die Kammer, die Thür halb hinter sich zuziehend, durch die Spalte aber noch zu seiner Frau zurückspähend.
»Was dem Kinde galt, gilt auch Dir; hast Du es gehört?« rief er im Flüstertone hinüber.
»Ich habe gehört, daß Du Dein Kind in Lug und Trug unterrichtest,« antwortete die Frau leise.
»Narrheiten! Was geht das Dich an? Also nur eine Silbe, die mir nicht paßt, und es giebt ein Unglück!«
Die Frau schwieg; der Gauner lauschte nach dem Hofe hinüber, und als er endlich von dort her Stimmen vernahm, zog er die Thür fest heran, der größeren Sicherheit wegen die an derselben befestigte kurze Kette über einen in den Thürpfosten eingeschlagenen Nagel hängend.
8. In der Höhle des Elends. (Fortsetzung)
Das Klirren der den Riegel ersetzenden Kette war eben verstummt, als unter Riekchen's Hand die Thür sich öffnete und gleich darauf Doctor Bergmann's freundliche Stimme erschallte.
»Fürchten Sie sich nicht, mein liebes Kind,« sprach er zu der von seiner Hand geführten Gräfin, und zugleich ließ er beim Eintreten das ihn in seinen Bewegungen hindernde Bündel, welches er so lange getragen hatte, fallen; »in den Wohnungen des Elends können Sie nicht erwarten, etwas Anderes, als nacktes Elend zu finden, und es ist immer gut, dergleichen kennen zu lernen, um das eigene Glück besser zu würdigen und sich vor strafbarer Ueberhebung zu bewahren.«
»Doctor, wohin haben Sie mich gebracht?« flüsterte die Gräfin entsetzt, sobald sie nach ihrem Eintritt einen Blick um sich geworfen.
»An eine Stelle, wohin Ihre gute Mutter mich ebenfalls begleitet haben würde, mein liebes Kind,« antwortete der Doctor, einen Augenblick stehen bleibend, um seiner Gefährtin hinreichend Muße zu gönnen, sich an ihre Umgebung einigermaßen zu gewöhnen - »an eine Stelle, wohin warme Herzen, wie das Ihrige, zeitweise gehören, um Qualen und Noth zu lindern, aber auch, um zu lernen. Ja, mein liebes Kind, lernen Sie hier, wie viele Menschen von Dem glücklich gemacht werden könnten, was von ihren bevorzugten Mitmenschen, der Eitelkeit und dem Hochmuthe fröhnend, leichtsinnig verschleudert, vergeudet und in den Koth getreten wird. Lernen Sie, wie viele Thränen getrocknet werden könnten mit den Schätzen, die vornehmen Lastern und sträflichen Neigungen mit verbrecherischem Leichtsinn geopfert werden. Lernen Sie; glauben Sie, die Blicke Ihrer verklärten Mutter seien jetzt gerade auf Sie gerichtet, und streben Sie, den schönen, kindlichen Gedanken Ihrem Glauben einzuverleiben, daß jede Thräne, die Sie hier trocknen, durch eine Thräne des Dankes und der Freude von Ihrer auf Sie niederschauenden Mutter vor dem Throne des Allmächtigen belohnt werde.«