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Sie betrachtete das sanft schlummernde Kind eine Weile mit tiefer Wehmuth; gewiß stellte sie in Gedanken Vergleiche an, denn ihre Hände rangen sich krampfhaft in einander und heiße Thränen sanken in Fülle auf dieselben nieder.
Marie hatte ihre Arbeit beendigt und vor sich auf den Tisch gelegt; auch in ihren schönen, wohlwollenden Augen glänzten Thränen, indem sie abwechselnd das fertige Sterbekleidchen und ihren Bruder betrachtete, dessen Blicke wieder starr auf die zierlich ausgezackte Leinwand gerichtet waren.
Da schlug die Uhr die zwölfte Stunde. Eintönig hallten die halb schnarrenden, halb klingenden Schläge durch das Gemach.
»Sie hätten Beide neben einander Platz gehabt!« seufzte die Frau, indem sie an den Tisch zurückkehrte.
»Tröste Dich, Mutter,« versetzte Reichart, sich mit Macht emporraffend, »eine Tochter hat uns der liebe Gott genommen, eine andere hat er uns gegeben; mag kommen, was da wolle, sie soll so gut unser Kind sein, als ob es unser leibliches wäre. Und wenn es gut einschlägt, und uns liebt, soll es auch unsern Namen führen und uns beerben, damit wir wenigstens wissen, für wen wir schaffen und arbeiten.«
Marie sah mit innigem Wohlgefallen auf die biederen Leute hin, wie sie durch einen warmen Händedruck über des schlafenden Kindes Zukunft entschieden.
Sie blickte auf dieselben, wie wohl eine Mutter sich über die hervortretenden guten Eigenschaften ihrer Kleinen freut. In ihren schönen Augen sprach sich deutlich ihre geistige Ueberlegenheit aus, in den wohlwollenden Zügen dagegen ihre unendliche Herzensgüte und wie durch herben Kummer ihre höhere Ausbildung veredelt worden sei und sie dieselbe nur als Mittel betrachte, um so nachdrücklicher für das Wohl nicht nur der ihr nahe stehenden Personen, sondern für alle Mitmenschen wirken zu können.
»Aber gehe jetzt schlafen,« wendete Reichart sich endlich an seine Schwester, »morgen ist auch noch ein Tag, und zwar ein recht schwerer für uns, und Du mußt sehr müde sein. Meine Frau wird sich auf den Rand des Bettes zu Lieschen legen und über das liebe Kind wachen; ich selbst bedarf weiter nichts zur Ruhe, als den Lehnstuhl beim Ofen.«
»Gute Nacht denn,« sagte Marie freundlich, den beiden Gatten die Hand reichend; denn obgleich sie fühlte, daß der Schlaf ihr noch lange fern bleiben würde, hoffte sie doch in ihrer liebevollen Fürsorge für Andere, daß nach ihrer Entfernung wenigstens ihre Schwägerin, von Erschöpfung übermannt, im Schlummer einige Stunden Vergessenheit für ihren Kummer finden würde.
Nachdem sie ein Nachtlämpchen angezündet, begab sie sich noch einmal an das Himmelbett. Wohl eine Minute lang betrachtete sie das ruhig und sanft schlummernde Kind mit tiefem Nachdenken.
»Lieber Engel,« flüsterte sie leise, fast unbewußt, »wie Du mich an Jemanden erinnerst, doch weiß ich nicht, an wen!?«
Da lächelte das Kind im Traume; auch über Mariens gutes Antlitz flog ein heller, freundlicher Schimmer bei dem holden Anblicke. »Schlafe wohl!« sagte sie noch einmal lauter, und geräuschlos schlich sie in ihre Kammer zu dem todten Lieschen.
Nach Mariens Entfernung, blieben die beiden Gatten noch eine Weile schweigend neben einander sitzen. Es war nicht schwer zu errathen, was ihre Gemüther so tief bewegte, ihren Augen einen bald kummervollen, bald tröstlichen Ausdruck verlieh.
»Mutter, Du darfst nicht die ganze Nacht hier sitzen bleiben,« brach Reichart endlich das Schweigen, indem er die Lampe umkehrte, so daß der Schatten des Oelbehälters sein Gesicht traf, »begieb Dich daher zur Ruhe; sieh, auch ich will versuchen zu schlafen.«
»Ich kann nicht schlafen,« entgegnete die Frau mit unterdrückter Stimme, einen besorgten Seitenblick nach der Himmelbettstelle hinübersendend, von woher die regelmäßigen und gesunden Athemzüge des Kindes sich deutlich vernehmen ließen. »Warum sollte ich mich also hinlegen? Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich wache und über Alles nachdenke.«
»Aber Du solltest gerade nicht so viel nachdenken; es wäre besser, Du legtest Dich hin, und wenn man liegt, kommt der Schlaf ganz von selbst.«
»Bei mir nicht,« versetzte die Bäuerin traurig, »mir geht es gerade so wie unserer Marie; früher konnte ich nicht begreifen, warum das Mädchen die Nächte so oft schlaflos verbringe. Ich dachte, das sei so Sitte bei den vornehmen Leuten und sie habe es bei diesen gelernt, oder sie trauere heimlich, weil sie wieder Bauermädchen geworden. Jetzt sehe ich es aber ein, und ich fühle, wie schrecklich es ist, vor Herzeleid die Augen nicht schließen zu können.«
»Ja, die arme Marie hat viel Herzeleid gehabt,« bemerkte Reichart ernst, wie zustimmend nickend, »viel, viel unverdientes Herzeleid, denn sie ist von Kindesbeinen an immer ein gutes Mädchen gewesen und dabei so heiter und vergnügt, daß alle Menschen sich darüber freuten. Ja, ja, es war kein Segen für sie, daß sie so frühzeitig nach der Stadt kam und so viel lernte. Hätte sie das elterliche Haus nie verlassen, sie wäre dann gewiß eine brave und auch eine reiche Bauerfrau geworden, anstatt daß sie jetzt alle Freier zurückweist.«
»Ich gönne ihr wohl einen braven Mann,« erwiderte die Bäuerin aufrichtig, »allein es würde mir doch sehr schwer werden, mich von ihr zu trennen. Sie liebte unser Lieschen über alle Beschreibung, und dann habe ich mich so sehr an ihren Rath gewöhnt, daß ich nicht wüßte, wie ich es ohne sie machen sollte. Daß sie so viel mehr gelernt hat, als wir, merkt man wohl an jedem Worte, das sie spricht; aber es thut doch nicht weh.«
»Es ist wahr, auch ich weiß nicht, wie wir ohne Marie fertig werden sollten, und dabei nimmt sie nicht den geringsten Lohn für ihre Hülfe an,« versetzte Reichart.
»Und doch ist es nur sehr wenig, was sie erspart und durch den Verkauf ihrer schönen Kleider und der goldenen Ringe zusammengebracht hat.«
»Leider; allein sie war zu stolz, und wie die Sachen damals lagen, hätte ich es an ihrer Stelle wahrscheinlich ebenso gemacht.«
Nach diesem Gespräche trat wieder ein längeres Schweigen ein. Das Vernommene mußte indessen den Geist der Frau noch immer sehr rege beschäftigen, denn wich auch der Ausdruck der Trauer nicht aus ihren Zügen, so waren ihre Augen doch trocken geworden, während ihr starrer Blick bekundete, daß sie über irgend einen Gegenstand sehr ernst nachdenke. Nach Verlauf von etwa fünf Minuten fragte sie plötzlich: »Wie alt war sie, als sie von Deinen Eltern nach der Stadt gebracht wurde?«
»Eben war sie sechs Jahre alt geworden,« antwortete Reichart mechanisch. »Hat Marie jemals mit Dir über ihre Vergangenheit gesprochen?«
»Niemals, und gefragt habe ich sie nicht darnach, weil Du es mir verboten hattest. Ich leugne indessen nicht, daß mir oft eine Frage auf der Zunge schwebte; wenn ich ihr aber in die freundlichen und dabei doch so traurigen Augen sah, dann hielt ich stets wieder an mich, weil es mir erschien, als hätte meine Neugierde sie zum Weinen bringen müssen.«
»Ganz recht, Mutter,« entgegnete Reichart, in der ihm eigenthümlichen Weise mit dem Kopfe nickend. »Hättest sie sicherlich zum Weinen gebracht, denn was die schon erlebt hat, ist genug, um eine ganze Gemeinde zu Thränen zu bringen. Mir hat sie Alles erzählt, von Anfang bis zu Ende, damit ich wisse, wen ich unter meinem Dache beherberge, und nichts Arges von ihr denke. Zugleich aber bat sie mich, zu Niemand darüber zu sprechen; sie selbst wolle nicht bemitleidet sein, und die Leute sollten nicht hart über Jemanden urtheilen, der ganz unschuldig sei und keine Vorwürfe verdiene. Ja, ich habe mein Versprechen redlich gehalten; die Leute wissen eben weiter nichts, als daß sie als Kind zu einer vornehmen Familie in die Stadt kam und vor neun Jahren, nachdem ihre Beschützerin gestorben, fast eben so arm zu uns zurückkehrte, wie sie gegangen war. Leider glauben Einzelne, daß sie um das gute Leben und die vornehme Gesellschaft trauere, das ist aber nicht wahr - nein - o, wüßten sie nur ...«
»Wenn sie was wüßten?« fragte die Bäuerin, sobald ihr Mann schwieg, mit einem Anfluge von Neugierde.
Reichart betrachtete seine Frau wiederum einige Augenblicke zweifelnd und forschend; hierauf warf er einen spähenden Blick nach der Kammerthür und rückte dann seinen Stuhl so herum, daß er der Bäuerin gegenüber zu sitzen kam.
»Eigentlich sollte ich auch zu Dir nicht davon sprechen, Mutter,« hob er an; »allein es ist vielleicht gut, wenn ich Dir beweise, daß es Menschen giebt, die gewiß nicht in geringerem Grade heimgesucht worden sind, als Du und ich. Nur das Eine mußt Du mir versprechen, nämlich Mariens Vergangenheit nie anders zu berühren, als wenn sie selbst mit Dir davon anfangen sollte.«
Nachdem die Frau sich vorher noch einmal überzeugt, daß das schlafende Lieschen sich noch nicht gerührt hatte, fuhr Reichart fort:
»Wie wir jetzt, so machten es meine Eltern, die dieses Gehöft von meinem Großvater geerbt hatten; sie fuhren wöchentlich einmal mit Butter und Eiern, auch wohl mit Korn nach der Stadt, wo sie für ihre Waaren bestimmte Abnehmer fanden. Marie und ich waren die beiden einzigen Kinder, die von fünf am Leben geblieben. Meine Mutter hatte also dreimal solche Zeiten durchgemacht, wie Du jetzt, freilich mit dem Unterschiede, daß wir nur das einzige Kind zu verlieren hatten. Der Verlust so vieler Kinder machte meine Mutter doppelt besorgt um die beiden überlebenden, so daß sie uns nie aus den Augen ließ. Sie nahm uns daher jedesmal mit zur Stadt, und erst, als ich das zehnte Jahr erreicht hatte, setzte es mein Vater durch, daß ich zu Hause blieb, um die Schule nicht zu versäumen und dem Knechte bei seinen Arbeiten zu helfen. Als ich meinen vierzehnten, Marie ihren sechsten Geburtstag erlebt hatte, starb nach kurzer Krankheit meine Mutter. Mein Vater, daran gewöhnt, Marie immer um sich zu sehen, dann aber auch, um sie nicht gänzlich ohne Aufsicht zu wissen, fuhr fort, sie nach alter Weise mit zur Stadt zu nehmen und sie dort in seiner Begleitung ein Körbchen mit Eiern oder Butter, zuweilen auch wohl einige Blumensträußchen zu seinen Kunden tragen zu lassen.
Unter den letzteren befand sich auch eine einzelne bejahrte Dame, eine Gräfin, die schon von meinem Großvater Küchenvorräthe bezogen hatte. Dieselbe war sehr reich, hatte indessen nur eine beinahe eben so alte Köchin und ein paar niedliche Windspiele um sich. Mit ihren vornehmen Verwandten lebte sie auf keinem guten Fuße; dafür war sie um so freundlicher gegen meinen Vater, namentlich aber gegen Marie, die als Kind so schön war, daß die Leute auf der Straße stehen blieben, um ihr nachzusehen.
»Wie nun meine Schwester von der alten Gräfin zuweilen kleine Geschenke erhielt, so erwies sie sich dadurch dankbar, daß sie nie vergaß, einen recht schönen Blumenstrauß mitzubringen und ihr zu Weihnachten ein Liedchen aufzusagen. Die alte Dame weinte dann jedesmal vor Freude und fragte meine Schwester immer und immer wieder, ob sie nicht bei ihr bleiben wolle. Diese wäre auch gern geblieben - denn die prächtigen Stuben, die großen Bilder mit den goldenen Rahmen und die langen seidenen Gardinen gefielen ihr gar gut, - wenn sie nicht eben mit noch größerer Liebe an ihren Eltern gehangen hätte.
»Als mein Vater nach dem Tode meiner Mutter wieder zum ersten Male bei ihr vorsprach, wollte sie das Kind gar nicht wieder von sich lassen. Sie erklärte meinem Vater, nunmehr sei es unmöglich für ihn, seine Tochter gut zu erziehen, und sie wolle fortan für diese sorgen. Mein Vater weigerte sich standhaft, doch verließ er das Haus nicht, ohne von der lieben, wohlthätigen Dame das Geld zu einem feinen Traueranzuge für meine Schwester erhalten zu haben.
»Von nun ab, so oft mein Vater im Hause der alten Gräfin erschien, bestürmte diese ihn, ihr in ihrem hohen Alter die Freude zu gönnen, Jemanden um sich zu wissen, von dessen Dankbarkeit und uneigennütziger Treue sie überzeugt sein dürfe. Solchen Vorstellungen vermochte mein Vater denn auch nicht lange zu widerstehen. Meine Schwester hatte noch nicht ihr siebentes Jahr vollendet, da fuhr mein Vater sie, nachdem sie herzlichen Abschied von mir genommen, zur Stadt, um sie nicht wieder mit herauszubringen.
»In der ersten Zeit ihrer Abwesenheit kam unser Haus uns recht vereinsamt vor. Das heitere, lebensfrische Kind fehlte uns überall, und Niemandem mehr, als meinem Vater, der gewöhnlich die stillen Abendstunden mit ihm verplaudert hatte. Allmählich gewöhnten wir uns indessen daran, um so mehr, da mein Vater allwöchentlich unsere Marie besuchte, und die Gräfin, um das Heimweh fern von ihr zu halten, sie häufig zum Besuche zu uns herausschickte.
»Diesen Besuchen ist es wohl am meisten zuzuschreiben, daß wir Geschwister nicht Einer dem Andern entfremdet wurden; denn ich entsinne mich noch, als ich meine Schwester zum ersten Male nach unserer Trennung in den schönen Kleidern wiedersah, glaubte ich kaum, daß sie noch meine Schwester sei. Dabei erschien sie mir mit dem merkwürdig gelockten Haar so wunderbar schön, daß ich sie immerwährend hätte ansehen mögen und sogar Nachts von ihr träumte. Das war ein Leben, wie es nicht schöner gedacht werden kann; denn wenn Marie uns besuchte, wiederholte die Gräfin ihr häufig, daß sie nicht besser sei, als ich oder die anderen Dorfkinder, und daß es eben so ehrenwerth sei, den Dreschflegel und den Pflug zu führen, als sich in fremden Sprachen, Musik und feinen Handarbeiten zu üben.
»Ich war damals alt genug, um Alles verstehen und überlegen zu können, was mein Vater mit mir sprach, und ich weiß noch wie heute, daß es mir, als ich einst meinen Vater bat, mich ebenfalls so viel lernen zu lassen wie meine Schwester, eine große Beruhigung und Freude gewährte, der Gräfin Ermahnungen zu hören. »Es ist leicht, aus bescheidenen Verhältnissen in glänzendere überzutreten und sich an solche zu gewöhnen,« hatte die gute Gräfin zu meinem Vater gesagt, »schwer dagegen, dem Glanze wieder zu entsagen; sorgen wir daher dafür, daß uns Beides gleich geläufig bleibe, damit wir nie in die Lage kommen, uns über das Geschick zu beklagen und uns unglücklich zu fühlen.« Ja, das sagte sie Wort für Wort, und mein Vater theilte mir Alles getreulich mit; ich aber lernte die schönen Sprüche auswendig, und bis auf den heutigen Tag habe ich sie nicht vergessen.
»Wie recht die Gräfin hatte, können wir heute noch sehen, denn hätte Marie die guten Lehren nicht beherzigt, dann würde sie schwerlich so schnell wieder in unserem Hause heimisch geworden sein, schwerlich so wohlgemuth das seidene Kleid mit dem wollenen Rocke vertauscht haben. Freilich war Marie von ihrer ersten Kindheit an immer ein herzensgutes Mädchen, und wenn es nicht in ihr gelegen hätte, sollte die gute Gräfin - Gott habe sie selig - ihr Erziehen und Belehren wohl gelassen haben.
»Unsere Marie lernte also mit einer wunderbaren Leichtigkeit nicht nur Schreiben und Lesen, sondern auch Musik, Sticken, Kochen und wer weiß was Alles. Mit jedem Tage wurde sie auch schöner und freundlicher, und dabei sprach sie so vornehm, als ob sie wirklich vornehmer Leute Kind gewesen wäre.
»So ging die Zeit dahin; Marie fühlte sich im Hause unserer Wohlthäterin überglücklich, und diese wieder hatte sich so sehr an meine Schwester gewöhnt, daß sie wohl hundertmal versicherte, nicht ohne ihre Marie, wie sie dieselbe nannte, leben zu können.
»Das Einzige, was meiner Schwester, namentlich als sie groß geworden, im Hause der Gräfin Kummer verursachte, waren deren Verwandte. Diesen war sie ein Dorn im Auge, weil sie glaubten, daß meine Schwester sie benachtheilige. Je herzlicher die alte, kränkelnde Dame sich an Marie anschloß, um so bitterer waren die Vorwürfe, mit welchen man sie hinter dem Rücken ihrer Wohlthäterin überschüttete. Nur die treue Anhänglichkeit an die alte Dame, deren Kräfte schon bedeutend abgenommen hatten, in Folge dessen sie mehr auf die Hülfe anderer Menschen angewiesen war, hielt Marie ab, in's väterliche Haus zurückzukehren. Vielleicht wäre Manches besser geworden, hätte sie sich, wie ich ihr häufig rieth, über das Benehmen der Anverwandten bei der Gräfin beschwert; doch sie wollte dieser keinen Aerger verursachen und ertrug lieber Alles mit einer himmlischen Geduld.
»Unter denjenigen, die mit einer gewissen Angst das Abscheiden der reichen Gräfin herbeiwünschten und denen meine Schwester stets im Wege war, weil sie sich in ihrer Gegenwart nicht getrauten, andere, abwesende Verwandte zu verleumden, zeichneten sich namentlich ein junger Officier und dessen um zwei Jahre ältere Schwester aus. Dieselben hatten nämlich anfänglich versucht, Marie durch freundliches Entgegenkommen und dann durch Bestechungen zu gewinnen, damit sie ihnen bei der alten Dame das Wort rede. Als diese aber sich standhaft weigerte, auf ihre unredlichen Wünsche und Ansinnen einzugehen, und die schmachvollen Vorschläge mit Entrüstung zurückwies, wurden sie ihr spinnefeind. Wo sich nur immer die Gelegenheit bot, das arme Mädchen, sei es nun durch Worte oder verächtliche Mienen, zu martern, da ließen sie dieselbe gewiß nicht unbenutzt vorübergehen. Sie versuchten sogar Alles, sie aus dem Hause der Gräfin zu verdrängen, doch ließ Marie sich dadurch nicht in der Ausübung ihrer Pflichten gegen ihre Wohlthäterin beirren; und hatte sie dann wieder einmal eine recht herbe Kränkung erfahren, so gewährte es ihr den besten Trost, wenn sie bald darauf bei der Gräfin saß, diese mit der größten Aufmerksamkeit pflegte und dafür aufrichtig und wohlwollend »meine liebe Tochter« genannt wurde.
»Da trat plötzlich ein Fall ein, der uns weit auseinander riß, so daß ich meine Schwester ganz aus den Augen verloren hätte, wenn mir nicht hin und wieder ein Brief von ihr zugegangen wäre.
»Sie hatte nämlich eben ihr siebenzehntes Jahr zurückgelegt, und ich war gerade volljährig geworden, da legte sich mein Vater, und acht Tage darauf schloß er die Augen auf ewig.
»Wir Männer sind aus festerem Stoffe gebildet, als die Weiber, und ertragen daher weit leichter unersetzliche Verluste, namentlich aber, wenn dieselben sich nicht zur ungewöhnlichen Zeit einstellen. Mein Vater hatte nämlich beinahe sein siebenzigstes Jahr erreicht, also seine irdische Laufbahn vollendet; ich sagte mir daher, daß die Welt ihren ruhigen Gang weitergehe, und dankte Gott, daß mein Vater bis in sein hohes Alter hinein von jeder schmerzhaften Krankheit verschont geblieben war.
»Anders verhielt es sich indessen mit Marie. Das Mädchen war untröstlich, und mit ihr litt in fast gleichem Grade die gute, liebevolle Gräfin, welche keinen fremden Kummer sehen konnte, ohne auf's tiefste mit ergriffen zu werden.
»Die Trauer meiner Schwester, vielleicht auch mit der Wunsch, den ihr immer lästiger werdenden erbschleichenden Verwandten aus dem Wege zu gehen, veranlaßten die Gräfin endlich, ganz fortzuziehen. Ehe sie aber diesen Entschluß zur Ausführung brachte, fragte sie Marie, ob sie mit ihr ziehen wolle. Als diese bereitwillig zusagte, wurde sogleich, zum größten Verdrusse der enttäuschten Verwandten, und den Vorkehrungen zum baldigen Aufbruche begonnen, wobei die alte Dame sich wieder von einer ganz besonderen Rührigkeit zeigte.
»Ich glaube, noch keine zwei Monate waren verstrichen, seitdem die Entscheidung getroffen würde, da verließ die Gräfin mit ihrem ganzen Hausstande die Wohnung, in welcher sie länger als ein Vierteljahrhundert gelebt hatte, um in einer süddeutschen Stadt für den Rest ihres Lebens ihren Wohnsitz aufzuschlagm. Du erinnerst Dich vielleicht noch, es geschah dies in demselben Jahre, in welchem wir uns verheiratheten.
»Was ich bis jetzt erzählte,« schaltete Reichart nach einer längeren Pause ein, »war sehr genau, weil ich bis zu diesem Zeitpunkte meine Schwester fast wöchentlich sah, also Alles gewissermaßen mit erlebte. Was nun folgt, ist dagegen eben nur das, was Marie nach ihrer Heimkehr mir flüchtig mittheilte, denn in den Briefen, die ich gelegentlich von ihr erhielt, berührte sie den Kummer ihres Lebens kaum.
»Für Marie hatte der Wechsel ihres Wohnsitzes manches Angenehme, indem sie fortan von den Verfolgungen des ihr feindlich gesinnten Geschwisterpaares verschont blieb. Aber auch die alte Gräfin wurde geselliger, seit sie, statt mit den auf ihren Tod harrenden Verwandten, mit fremden Leuten verkehrte. Nur ein einziger Verwandter, ein alter Edelmann, und zwar der Vater der beiden bösen Geschwister, welcher dort in der Nähe lebte, stellte sich von Zeit zu Zeit ein, um sich nach dem Befinden der Gräfin, seiner leiblichen Tante, zu erkundigen.
»Diese sah den alten Herrn sehr gern bei sich, und auch er schien mit großer Liebe an der Gräfin zu hängen und auf nichts weniger auszugehen, als irgend welche Vortheile von ihr zu ziehen. Marie behandelte er wie seines Gleichen, und dies freute die Gräfin in so hohem Grade, daß sie einst in meiner Schwester Gegenwart ganz laut zu dem Edelmanne sagte: »Vetter, ich sterbe viel beruhigter, seit ich die Ueberzeugung hegen darf, daß Du nach meinem Tode gewissenhaft für Marie, die mir ihre ganze Jugend zum Opfer gebracht hat, sorgen und ihre Ansprüche geltend machen wirst.« Der Edelmann hatte darauf meiner Schwester die Hand gedrückt, als ob er dadurch das schnöde Benehmen seiner Kinder habe ausgleichen wollen, und ihr das Versprechen abgenommen, sich jederzeit und in allen Lagen des Lebens seiner aufrichtigen Theilnahme zu erinnern. Dies war das einzige Mal, daß Mariens Zukunft in ihrer Gegenwart gedacht wurde. Ueber ihre eigenen Familienangelegenheiten sprach die Gräfin nie, und als sie einst eine Aenderung in ihrem Testamente vornahm, geschah dies so heimlich, daß meine Schwester kaum eine Ahnung davon erhielt.
»Doch dies sind lauter Nebensachen; von meiner Schwester allein wollte ich sprechen,« unterbrach sich Reichart, nachdem er mit vieler Mühe die Mittheilungen Mariens vor seiner Frau auseinander gewirrt hatte.
»Aber Du sprichst ja immerwährend von Marie,« versetzte die Bäuerin.
»Ich erzählte bis jetzt von Menschen, mit denen sie damals verkehrte,« entgegnete Reichart, der nicht ohne innere Befriedigung entdeckte, daß seine Frau bei seinen Mittheilungen ihren Kummer vergessen zu haben schien; »jetzt aber komme ich zu dem Theile ihrer Lebensgeschichte, in welchem der Grund zu ihrem Herzeleid gelegt wurde.
»Wie die Gräfin hier und da Bekanntschaften geschlossen hatte, so war auch Marie mit anderen Menschen in Berührung gekommen. Wenn sie es mir gegenüber auch nicht einräumte, so bezweifle ich doch nicht, daß Alle das schöne Mädchen bewunderten und der guten Eigenschaften wegen liebten. Sie war damals neunzehn Jahre alt, stand also in der Blüthe der Jugend; kein Wunder daher, daß die jungen Männer, reiche wie arme, die Augen auf sie warfen, sie auf Schritt und Tritt hin verfolgten und ihr auch wohl offen den Wunsch erklärten, sie als Frau heimzuführen. Doch alle Anerbietungen, die ihr gemacht wurden, wies sie zurück, wobei sie sich darauf berief, so lange ihre Wohlthäterin lebe, nicht von derselben weichen zu wollen. Dies hinderte sie indessen nicht, einem jungen Predigtamts-Candidaten, der in redlicher Weise um sie warb, ihre Liebe zuzuwenden, und sich ihm auf's ganze Leben und bis in die Ewigkeit hinein, gerade so, wie wir es vorher gemacht hatten, zu versprechen.
»Die Sache, wie ich sie jetzt auffasse, hatte Hand und Fuß: der Candidat war aus den Jahren des Leichtsinns heraus und doch jung genug, um warten zu können, ich meine auf eine Pfarre und auf die Hochzeit. Ferner war er ein Freund des Edelmannes, der die Gräfin zuweilen besuchte. Auch wußte dieser um die Sache und hatte versprochen, den Candidaten in seinen Bemühungen um eine Pfarrstelle nach besten Kräften zu unterstützen. Aber auch die Gräfin sprach offen ihre Zufriedenheit mit Mariens Wahl aus, vorausgesetzt, daß sie mit der Hochzeit warte, bis sie ihr die Augen zugedrückt habe.
»Es folgte darauf für meine Schwester eine Zeit, aus welcher ihr wohl, wie sie selbst sagt, ihres Lebens Kummer entsprang, die sie aber nichtsdestoweniger um keinen Preis aus ihrem Leben streichen möchte.
»Ja, es hätte so schön werden können,« fügte Reichart sinnend und wie zu sich selbst sprechend hinzu, »und Marie mit ihrer Güte gegen Jedermann wäre gewiß eine Predigerfrau geworden, wie man nicht leicht eine zweite findet. Es sollte indessen nicht sein, und wer weiß, wozu es gut gewesen ist.
»Marie war wohl seit anderthalb Jahren die Braut des Candidaten, da erkrankte plötzlich die Gräfin sehr schwer, so daß sich bei ihrem hohen Alter eine Aenderung zum Guten nicht mehr erwarten ließ. Marie war tief bekümmert, und nicht Tag oder Nacht wich sie vom Lager ihrer Wohlthäterin.
»CCWeine nicht, meine liebe Tochter,‹ sagte diese dann wohl zu ihr, wenn deren Kummer sie rührte, ›ich bin so alt, daß ich meine Lebensaufgabe als erfüllt betrachten darf; ich freue mich nur, zuletzt noch einen würdigen Menschen gefunden zu haben, auf den ich mit den besten Hoffnungen auf eine gute Verwendung meine Habe übertragen konnte. Auch für Dich habe ich gesorgt,‹ fügte sie dann jedesmal hinzu, ›und dafür, daß Dir und Deinem Bräutigam der Anfang nicht so schwer wird.‹ Dann schärfte sie ihr auch ein, außer dem alten Edelmanne und den Aerzten Niemanden zu ihr hereinzulassen, und vor allen Dingen den Kindern des ersteren, wenn sie sich einstellen sollten, den Eintritt zu verwehren; sie wollte dieselben nicht wiedersehen.