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»Marie versprach Alles und hielt getreulich Wort. Aber es war, als ob der liebe Gott selber eine Verwirrung habe herbeiführen wollen; denn nur einmal noch kam der alte Edelmann an das Lager der sterbenden Gräfin, wogegen zwei Tage später die Nachricht eintraf, daß ein Schlagfluß seinem Leben ein Ende gemacht habe.
»Marie war in Verzweiflung. Der Gräfin die Wahrheit einzugestehen, wagte sie nicht, auch widerriethen ihr dies die Aerzte auf's strengste. Sie gab daher vor, als die Gräfin wieder einmal nach dem Edelmanne fragte, derselbe sei bettlägerig krank, worauf diese sehr große Besorgniß äußerte und dringend bat, er möge um keinen Preis zu früh aufstehen, indem von seiner Gesundheit das Heil vieler Menschen abhänge. Was damit gemeint sein könne, bedachte Marie nicht weiter; ihr war nur darum zu thun, der Gräfin die traurige Kunde zu verheimlichen, um ihr den letzten Kummer in diesem Leben zu ersparen.
»Des Edelmannes Kinder waren herbeigeeilt, um der Beerdigung ihres Vaters beizuwohnen und demnächst wohl auch ihre Erbschaft anzutreten. Merkwürdiger Weise machten sie keinen Versuch, die Gräfin zu sehen. Nur einmal erschienen sie im Hause, um sich nach der Gräfin Befinden zu erkundigen. Die Mittheilung meiner Schwester, daß die Kranke Niemanden zu sehen wünsche, überraschte oder ärgerte sie nicht, im Gegentheil, sie fanden die letzten Wünsche der Sterbenden sehr natürlich und schärften meiner Schwester dringend ein, für die Erfüllung derselben gewissenhaft zu sorgen und die Gräfin in keiner Weise durch zudringliche Verwandte behelligen und stören zu lassen. Marie hat denn auch das Ihrige getreulich gethan, und nachdem drei Wochen verflossen, war ihre Beschützerin sanft und selig eingeschlafen.
»Bei reichen Herrschaften muß es ganz anders sein, als bei uns ärmeren Leuten,« fuhr Reichart fort, nachdem er eine Weile geschwiegen und vor sich auf den Fußboden gestarrt hatte, »ja, ganz anders; denn die Gräfin war noch keine halbe Stunde todt, da drangen die beiden Kinder des Edelmanns plötzlich in das Sterbezimmer.
»Durch wen ihnen die Nachricht so schnell zugegangen war, hat meine Schwester nie erfahren können; ich denke mir aber, daß sie wohl Jemanden im Hause angestellt hatten, der, trotzdem es um Mitternacht war, sie herbeiholte.
»Die erste Begrüßung zwischen dem Officier, dessen Schwester und Marie war freundlicher Art. Die beiden Geschwister schienen sogar sehr zerknirscht zu sein und baten Marie, sie bei der Leiche allein zu lassen, um ungestört beten zu können.
»Was weiter vorgefallen, hat meine Schwester mir nur mit wenigen Worten vertraut. Der junge Graf und die Gräfin blieben wohl an zwei Stunden in dem Gemache, dann aber traten sie hervor, um Briefe abzuschicken, dem Gericht Anzeige zu machen und auf schleunige Versiegelung des Nachlasses zu dringen.
»Zur Versiegelung des Nachlasses kam es indessen nicht, indem diejenigen, die zu erben hofften, sich in der Nähe gehalten hatten und daher alle Personen, die zur Eröffnung des Testamentes nothwendig, anwesend waren. Man übertrug meiner Schwester und einigen Dienern die erforderlichen Vorbereitungen zur Beerdigung, und erst dann, als das Testament wirklich eröffnet und gelesen wurde, hatte man meine Schwester als Zeugin herbeigerufen. Man erwartete, daß ihr wenigstens ein Legat ausgesetzt worden sei.
»Man fand sich in solchen Erwartungen getäuscht. In dem Testament hatte die Gräfin meiner Schwester mit keiner Silbe gedacht, dagegen war das ungetheilte Vermögen, mit Ausnahme einiger kleiner, an arme Verwandte zu zahlender Summen, dem Neffen der Gräfin, dem kurz vorher gestorbenen Edelmanne, vermacht worden. Da dieser aber nicht mehr lebte, so ging die ganze Masse selbstverständlich in die Hände seiner beiden Kinder über. Dieselben konnten indessen nicht sogleich Besitz ergreifen, indem man von verschiedenen Seiten Einspruch erhob. Ich glaube, es kam sogar zum Proceß, der aber jedenfalls damit endigte, daß dem jungen Officier und seiner Schwester das ganze Vermögen zugesprochen wurde. Wie hätte es auch anders sein können? Sie waren die nächsten Erben ihres Vaters, und was diesem gehörte, mußte von Rechts wegen auch auf seine Kinder übergehen, und das Testament war ja schon gemacht worden, als der alte Edelmann noch lebte. Doch das soll uns nicht kümmern; möge ihnen der Gräfin Reichthum Segen bringen - ich wollte ja von Marie erzählen.
»Während der Krankheit der Gräfin hatte sie eine recht schwere Zeit durchgemacht, nicht, weil sie die arme Kranke so sorgfältig pflegte, nein, gewiß nicht, denn das that sie gern, sondern weil sie ihren Bräutigam kein einziges Mal sah. Er hatte ihr wohl einmal auf einen Brief geantwortet, dann aber waren die kleinen Zettel, die sie ihm gelegentlich schrieb, unbeachtet geblieben, und mit einer wahren Todesangst dachte sie daran, daß er vielleicht ebenfalls erkrankt sei und hülflos und nur von fremden, kaltherzigen Menschen gepflegt daliege.
»Die erste Stunde, welche sie nach der Eröffnung des Testamentes für sich hatte, benutzte sie dazu, nach der Wohnung des Candidaten zu eilen, um sich Aufschluß über die Ursache seines unerklärlichen Schweigens zu verschaffen.
»Die arme Marie - den Weg hätte sie sich immerhin ersparen können; sie fand die Wohnung ihres Bräutigams leer und zum Vermiethen bereit; er selbst aber war, nachdem er der Wirthin des Hauses einen Brief für meine Schwester übergeben, bereits vor acht Tagen abgereist. Wohin er gehen wollte, hatte er nicht angegeben; es wäre auch überflüssig gewesen, denn nach seinem Briefe an Marie war jede Verbindung zwischen ihnen abgebrochen. Die arme Marie - als sie mir vor beinahe acht Jahren die Geschichte erzählte, da liefen ihr die hellen Thränen aus den Augen, so daß ich mit ihr weinen mußte und mir vornahm, um sie nicht an ihr Elend zu erinnern, nie wieder mit ihr von der Vergangenheit zu sprechen.«
»Was stand denn in dem Briefe?« fragte die Bäuerin. »Oder hat sie ihn Dir nicht gezeigt?«
»Sie hat ihn mir gezeigt; da ich aber geschriebene Schrift nur schwer lese, so bat ich sie, mir denselben vorzulesen. Ich hatte nämlich auf ihren Bräutigam geschmäht und ihn einen treulosen Bösewicht genannt, und da wünschte sie denn, daß ich den Inhalt dieses Briefes kenne, um ihn, den sie heute noch über Alles liebt, nicht so hart zu beurtheilen. Wort für Wort habe ich den Brief nicht im Gedächtnisse behalten, aber er war so schön und fromm geschrieben, daß er sich wie eine Predigt anhörte und ich meinen Zorn beim Anhören desselben vergaß. Er bat sie um Verzeihung für den Kummer, der ihr aus ihrer Bekanntschaft mit ihm erwachsen sei, und schließlich flehte er Gottes reichsten Segen herab auf sie, deren Bild ihm noch in seiner letzten Stunde zum Troste und zur innigen, wehmüthigen Freude gereichen werde.
»Ja, dergleichen hatte er geschrieben, und als meine Schwester mir den Brief vorlas, glaubte ich, es müsse ihr das Herz abstoßen. So viel ich aber auch darüber nachdachte - und ich habe oft und viel darüber nachgedacht, - so vermochte ich doch nie, mir das seltsame Benehmen des Candidaten zu erklären. Er segnet sie, er spricht, als ob er nicht ohne sie leben könne, und dennoch geht er heimlich davon. Ich äußerte die Vermuthung, er habe vielleicht Kunde erhalten, daß sie, in dem Testamente der Gräfin nicht bedacht worden sei, und es deshalb vorgezogen, sich nach einer reicheren Frau umzuthun; Marie aber wies einen solchen Verdacht mit Entrüstung zurück. Dabei nahm sie alle Schuld auf sich und tadelte sich, daß sie in ihrer Ueberhebung an ein so großes Glück zu glauben gewagt habe - die arme Marie ...
»Die arme Marie,« wiederholte Reichart nach längerem Schweigen. »Nicht genug, daß der Candidat ihr ein so großes Herzeleid angethan hatte, mußte sie auch noch die bittersten Kränkungen von den vornehmen Leuten erdulden, die sich vor der in ihrem Sarge schlummernden guten Gräfin um das Mein und Dein zankten und stritten - ach, Mutter, ich glaube, vornehme Leute haben doch nicht so weiche Herzen, als wir armen Bauern, oder sonst ist es auch Mode bei ihnen, nach der Uhr in bestimmten Zwischenräumen um die Todten zu trauern und an ihre Geschäfte zu denken! Sie zankten sich und legten die Worte des Testamentes Jeder auf seine Art aus, und als Marie nach dem harten Schlage, der sie betroffen hatte, verzweiflungsvoll und bleich bei ihnen eintrat, da glaubte man, sie sei erbittert, weil die Gräfin ihr nichts vermacht habe. Namentlich nannten der Officier und seine Schwester sie geradehin undankbar und erklärten ihr, sie seien zu stolz, um die Dienste, welche sie bei Lebzeiten der Gräfin geleistet, unbezahlt zu lassen, und sie wollten ihr tausend Thaler aussetzen, was gewiß mehr sei, als sie jemals hätte hoffen dürfen, ihr Eigenthum zu nennen.
»Tausend Thaler, das ist freilich eine große Summe, wenn man sie auf einmal in Händen hat; allein Marie war eben so stolz, wie die Edelleute. Sie antwortete ihnen, daß sie reich genug durch das sei, was die Gräfin an ihr gethan habe, und sie möchten das Geld für sich behalten. Sie blieb darauf nur noch so lange im Hause, bis die Gräfin begraben war; dann verkaufte sie Alles, was sie mit Recht ihr Eigenthum nannte, nämlich die feinen Kleider und die Schmucksachen, um nur mit etwas Wäsche und ganz einfachen Kleidern zu uns zurückzukehren.
»Du erinnerst Dich wohl noch, wie sie damals hier eintraf - unser seliges Lieschen war gerade ins dritte Jahr getreten -, wie eine vornehme Dame sah sie gewiß nicht aus, eher wie eine Gestorbene, die dem Grabe entstiegen.
»Anfangs fürchtete ich wohl das Gerede der Leute; als ich aber bemerkte, wie sie so zufrieden in ihr Kämmerchen einzog, so ganz ohne Klage oder Bedauern überall mit Hand an die schwersten Arbeiten legte und sich so leicht an unsere Lebensweise gewöhnte, da beruhigte ich mich bald wieder. Haben die Leute aber wirklich noch Dieses oder Jenes von ihr gesagt, so verstummten alle Nachreden schnell, als man sie erst näher kannte und sie wegen ihrer Bereitwilligkeit, allen Menschen zu helfen und gefällig zu sein, lieben lernte. Für uns aber ist die Marie ein rechter Trost geworden, das mußt Du selbst sagen, Mutter, und es will mir fast scheinen, als ob seit ihrer Anwesenheit unter unserem Dache unsere Häuslichkeit noch viel behaglicher geworden wäre.«
»Es ist wahr!« pflichtete die Bäuerin mit einem tiefen Seufzer bei, denn die Erinnerung an ihre todte Tochter war wieder rege geworden. »Es ist Alles so sauber; aber Marie hat auch viel gelernt und weiß die kleinsten Sachen aufzustellen, daß sie viel schöner aussehen. Ach, wie glücklich könnten wir leben, wenn ...«
»Das war also Mariens Geschichte,« fiel Reichart seiner Frau schnell ins Wort, denn er hatte instinctartig herausgefühlt, daß deren künstlich eingeschläferter Kummer im Begriffe stehe, wieder laut auszubrechen; »ich habe Dir Alles erzählt, so gut ich es selbst wußte. Nun erinnere aber auch Du Dich Deines Verspechens und laß Dich nicht hinreißen, mit der armen Marie über ihre Vergangenheit zu sprechen. Man muß zufrieden sein mit dem neuen Kummer und nicht alten auffrischen, indem man unheilbare Herzenswunden anrührt. Die Marie hat mehr ertragen, wie tausend und tausend Menschen zu tragen auferlegt wird, und sie verdient nicht, daß man sie immer wieder von Neuem quält. Schlimm genug, daß ihr Leid ein solches ist, von welchem sie nur der Tod dereinst befreien kann, ja, nur der Tod - die arme, arme Marie! Aber Mutter, nun folge auch meinem Rathe, lege Dich zu unserem neuen Lieschen auf das Bett und versuche, eine Stunde zu schlafen. Auch ich bin müde und erschöpft; ich werde mich neben den Ofen setzen; die Lampe kann ja brennen bleiben.«
»Die arme, arme Marie!« wiederholte die Bäuerin leise, indem sie sich erhob; dann schritt sie langsam nach dem Himmelbette hin.
Eine Weile betrachtete sie das in dem Dämmerlichte nur undeutlich hervortretende schlummernde Kind mit traurigen Blicken. Die Thränen, die so lange zurückgehalten werden waren, hatten sich wieder Bahn gebrochen; aber sie flossen mild und das bedrückte Herz erleichternd. Mechanisch zog sie ihr Oberkleid aus, und mit angehaltenem Athem legte sie sich hart an den Rand der knarrenden Bettstelle oben auf die Kissen.
Das Kind schlief ruhig weiter; das eigenthümliche Geräusch vermochte nicht, in seinen Schlummer einzubringen. Eben so schlief es ungestört weiter, als die bekümmerte Mutter sein ihr zunächst befindliches Händchen ergriff und in ihrer eigenen Hand barg. Aber auch die Mutter athmete allmählich ruhiger und regelmäßiger. Die Berührung des Händchens, in welchem das Blut so lebenswarm kreiste, wirkte wohlthätig auf sie; die Lider sanken schwer über die vom Kummer getrübten Augen hin, und gleich darauf waren vergessen des Lebens Qualen und Sorgen.
Stiller wurde es in dem Gemache; verschlafen tickte die Uhr, verschlafen nahmen sich die Gypsfiguren, die Aepfel und namentlich das weiße Kaninchen aus. Selbst das altmodische Spind mit den Tassen und Kannen, dem dürren Blumenstrauße und den beiden schielenden Pfauenaugen erhielt durch den Einfluß der matten Beleuchtung und der nur durch ruhige Athemzüge, heiseres Uhrticken und klingenden Heimchenruf unterbrochenen Stille einen gewissen äußeren Charakter der Uebermüdung. Die warme Stubenluft schien mit Traumgebilden angefüllt zu sein, die sich hier und dort auf geschlossene Augen senkten und sich demnächst innig an die Herzen anschmiegten. Und liebe, freundliche Bilder waren es gewiß, denn das schlummernde Lieschen lächelte beseligt; über das abgehärmte Antlitz der Bäuerin flog ein glücklicher Schimmer, während ihre Hand sich fester um das Händchen schloß, und die in dem Lehnstuhle ruhende derbe Gestalt des Hausherrn zeigte wieder ihr alte Kraft und Zähigkeit.
Die arme, arme Marie in der kalten Kammer! Sie schlief nicht, sie träumte nicht, eben so wenig wie das todte Lieschen neben ihr. Und dennoch zogen auch vor ihrem Geiste mancherlei Bilder vorüber, aber Bilder, die den sich verstohlen nähernden Schlummer schnell wieder verscheuchten; traurige Bilder der Vergangenheit, frisch belebt durch den Anblick der kleinen, stillen Leiche; traurige Bilder, bald die guten, treuen Augen, die trostlos in das glimmende Lämpchen starrten, mit Thränen verschleiernd, bald der wunden Brust einen schmerzlichen Seufzer entwindend - die arme, arme Marie!
4. Wohlzuthun und mitzutheilen vergesset nicht.
War das ein schöner, frischer, sonniger, jedoch bitter kalter Morgen nach dem heftigen Schneefall! Seinen ganzen Vorrath an Flocken hatte der Himmel ausgestreut, und nicht so viel zurückbehalten, wie erforderlich gewesen wäre, um auch nur auf ein Viertelstündchen die lustigen Müllerburschen sich in der Luft schlagen oder die Engelein ihre Federbetten ausschütten zs lassen. Dafür lag aber auch ein unendlicher Schneereichthum auf der Erde, auf den Dächern und sogar auf den allerdünnsten Zweigen, so daß die Menschen förmlich waten mußten und die Vögel, vor allen aber die verdrießlichen Krähen, nicht wußten, wohin sie sich setzen sollten, ohne ihre Füße zu erkälten.
Die Schuljugend dachte allerdings anders; die scheute sich nicht vor nassen und kalten Füßen, so lange ihrer noch daheim eine sorgliche Mutter harrte. Sie freute sich über den vielen, vielen Schnee und bedauerte nur, daß es so grimmig kalt sei, in Folge dessen der Schnee nicht ballte und sich nicht zum Bau von Männern und noch weniger zu Kriegsmaterial eignete.
Ja, kalt war es wirklich ganz grimmig. Die Leute auf den Straßen sahen aus, als ob sie alle Cigarren rauchten, so dampfte der Athem; die Rauchsäulen, welche sich den Tausenden von Schornsteinen entwanden, erschienen so blau, so massig und dicht, als hätten lauter Pflastersteine aus ihnen geschnitten werden können, und doch spielte der leise Morgenwind mit ihnen eben so willkürlich, als mit dem Athem der Milchmädchen und Bäckerjungen und dem Tabaksdampfe, den hier die durchgefrorenen Marktbauern ihren kurzen, braun gebrannten Pfeifenstummeln entlockten, dort die rothnäsigen Straßenkehrer aus ihren selbstmörderischen Cigarren mit einem sprechenden Ausdrucke des Wohlbehagens von sich bliesen.
Auch in den Stuben merkte man, daß es draußen recht kalt war. Sogar in dem wohlgeheizten, sonst aber sehr anspruchlos und einfach eingerichteten Geschäftszimmer des liebenswürdigen und wohlwollenden Herrn Seim, des Vorstehers der weit und breit berühmten Waisen-Anstalt, konnte man ganz bequem und ohne sich den Schnupfen zu holen, den plötzlichen Umschlag des Wetters genau beobachten.
Der Frost hatte nämlich die Scheiben der beiden großen, nach dem Vorhofe hinaus liegenden Fenster so dicht mit wunderbar schönen Eisblumen, Sternen, Guirlanden und Arabesken überzogen, daß es des längeren Hinhauchens auf ein und dieselbe Stelle bedurfte, um ein thalergroßes Fleckchen durchsichtig zu machen und durch dieses die auf dem Hofe fleißig mit Schneeschaufeln beschäftigten Arbeiter, selbst unbeachtet, beaufsichtigen zu können.
Die prahlerischen Eisdecorationen beeinträchtigten indessen in keiner Weise die mit der gediegenen Einfachheit in lobenswerthem Einklange stehende Wohnlichkeit des Zimmers; im Gegentheil, sie contrastirten gar anmuthig zu dem dumpfen Poltern, mit welchem der Luftzug die Flammen des verschwenderisch gespaltenen Buchenholzes in die Züge des majestätischen weißen Kachelofens hineintrieb, und nicht, minder anmuthig zu dem süßen Dufte, welchen das auf die eiserne Platte der Ofenröhre gestreute Königs-Räucherpulver verbreitete. Der weiß gescheuerte Fußboden war außerdem sehr sauber gefegt; die rohrgeflochtenen Stühle standen gerade und symmetrisch an den Wänden vertheilt; die großen Contobücher auf dem hohen Schreibtische reihten sich wie lauter Parade-Soldaten an einander; der ledergepolsterte Drehschemel vor dem Schreibtisch spreizte gravitätisch seine klobigen Beine, welche der massiven Schraube zum Halt dienten, und dabei schaute das Portrait des Landesfürsten, welches der Eingangsthür gerade gegenüber an der Wand hing, so vergnüglich durch einen darüber gehangenen patriotischen Lorbeerkranz in das Gemach hinein, daß es eine wahre Freude gewährte und man sich unwillkürlich und ohne ihn vorher gesehen zu haben, im Geiste mit dem Manne befreundete, der, trotz der bescheidenen Mittel, seiner Umgebung einen so freundlich einladenden Charakter zu verleihen verstand.
Und dennoch, was war das Gemach im Vergleich mit dem Herrn Seim selbst, als dieser an jenem strahlenden Wintermorgen in demselben bedächtig auf und ab schritt, bald vor dem einen Fenster stehen blieb, um durch die in das Eis gehauchte Oeffnung das draußen befestigte Thermometer und die schneeschaufelnden Leute zu beobachten, bald einige Stücken Holz aus dem neben dem Ofen befindlichen Korbe nahm und in die Gluth schob? Nichts, gar nichts war das Gemach im Vergleich mit dem rechtschaffenen Herrn Seim, höchstens gut genug, um als Hintergrund zu der stattlichen Figur des vortrefflichen Herrn Vorstehers zu dienen.
Obgleich noch früh am Tage, prangte Herr Seim, gemäß einer alten, löblichen Gewohnheit, bereits im schwarzen Leibrocke, überhaupt in ganz schwarzem Anzuge und weißer Halsbinde, also in einer Bekleidung, die nicht nur seiner ernsten Stellung als Hirte einer vom Verderben erretteten Jugend, sondern auch seiner übrigen äußeren Erscheinung vollkommen entsprach und die Würde derselben wo möglich noch erhöhte.
Nicht über die Mittelgröße hinausragend, neigte er etwas zur Wohlbeleibtheit hin, jedoch ohne daß das Ebenmaß dadurch erheblich beeinträchtigt worden wäre. Außerdem trug seine aufrechte Haltung, welche ein gewisses Rechtlichkeitsgefühl bekundete, viel dazu bei, ihn noch höher und stattlicher erscheinen zu lassen. Sein rundes, frisches und stets sehr glatt rasirtes Gesicht mit den fast zu klugen, graublauen Augen war einnehmend, vorzugsweise aber, wenn er lächelte und ein Zug unbegrenzter kindlicher Herzensgüte sich um die etwas zugespitzten Lippen legte. Die Hauptzierde des wohlgeformten Kopfes aber bildete das graue Haar, welches, auf der einen Seite sorgfältig gescheitelt, sich ringsum dicht anschmiegte und in der Höhe des Rockkragens zu einer glänzenden Lockenreihe emporkräuselte, gerade als ob Herr Seim dadurch hätte andeuten wollen, daß er, wenn auch von ernstem und fügsamem Charakter, doch zu gelegener Zeit von harmlosen Tändeleien und zutreffendem feinen Witz übersprudeln oder vielmehr champagnerartig emporkräuseln könne.
Von seinem Alter sprach Herr Seim nicht gern; es bleibt daher unentschieden, ob er sich noch in den Vierzigen befand oder nicht weit mehr von den Sechszigen entfernt war. Jedenfalls hatte er sich sehr gut conservirt, was namentlich seine einzige Tochter Juliane - er war bereits seit vielen Jahren Wittwer - mit leicht verzeihlicher Freude erfüllte, weil sie in ihrer kindlichen Einfalt durchaus nur einen jungen und sogar einen recht jugendlichen Papa haben wollte.
Herr Seim genoß also die kostbaren Frühstunden in gewohnter, sinniger Weise und bewegte sich mit einem Anstande und so freundlich zufriedenem Ausdrucke in seinem Geschäftszimmer hin und her, daß ein zufälliger Beobachter augenblicklich zu der unerschütterlichen Ueberzeugung gelangen mußte, daß auch nicht das Unrecht von der Schwere einer Fliege sein Gewissen bedrücke, noch weniger aber die milden Augen beim Anblicke fremder Leiden trocken bleiben könnten. Umsonst nannte man ihn auch nicht den Vater der Waisen, der gewohnt sei, wie ein treuer Gärtner, oft mit tiefen, schmerzenden Schnitten das fest gewurzelte Wasserreis der Sünde aus jungen, verwahrlosten Gemüthern zu entfernen, um dafür von seinen Zeitgenossen geachtet und geehrt, von der Nachwelt aber selbst im Grabe noch hundertfach gesegnet zu werden.
Herr Seim hatte eben wieder einen prüfenden Blick auf den Thermometer geworfen und war, seine Hände behaglich reibend und im Vorbeigehen einen halb bewundernden, halb tändelnden Blick in den Goldrahmspiegel sendend, an den Schreibtisch getreten, als ein leises Klopfen ihn veranlaßte, noch einmal mit der Hand schnell ordnend über sein Haupthaar hinzufahren und sich demnächst der Thür zuzuwenden.
Auf sein mildes Herein! öffnete sich die Thür etwa eine Spanne weit, in der Oeffnung aber erschien ein mächtiger Strauß von Papilloten und dunklem Haar, dessen Handhabe von einem schmalen, nach unten scharf zugespitzten Gesichte, ausgezeichnet durch eine sehr beachtenswerthe Nase und zwei kleine, braune, blinzelnde Aeuglein, gebildet wurde.
Beim Anblicke des Papillotenkopfes stahl sich ein glückliches Lächeln über Herrn Seim's wohlwollendes Antlitz.
»Stört man das Väterchen nicht?« fragte es zärtlich unter dem Papillotenwalde hervor, und zugleich öffnete sich die Thür etwas weiter.
»Töchterchen, Kind, welche Frage?« antwortete Herr Seim, innig gerührt über die wahrhaft liebreiche Rücksicht, welche sein leibliches Kind ihm gegenüber niemals außer Acht ließ, und im nächsten Augenblicke trippelte eine schmächtige Gestalt herein, deren Oberkörper dicht in ein großes, faltiges Umschlagetuch gehüllt war, so daß es unentschieden blieb, ob der übrige Anzug dem eigenthümlichen Kopfputze noch entsprach, oder vielleicht schon etwas weiter gediehen sei.
Mit der Beweglichkeit eines Kindes, die aber in seltsamem Widerspruche zu den bereits stark verblühten scharfen Zügen stand, glitt also der Papillotenwald zu Herrn Seim heran, der wieder seine Hände zum herzlichen Empfange der Tochter entgegenstreckte.
»Wie gütig von meinem Väterchen, daß er seinem Kinde gestattet, ihm den Morgengruß zu bringen,« lispelte Juliane, ihr Haupt ausgelassen schüttelnd, als hätte sie die knisternden Papilloten von sich schleudern wollen, und zugleich drückte sie einen schallenden Kuß auf die glatt rasirte Wange ihres Vaters.
»Meine ewig tändelnde Juliane,« entgegnete Herr Seim, mit väterlichem Stolze in die schelmisch leuchtenden Augen seiner Tochter schauend. »Aber sage, was bringt mein einziges Kind denn schon so früh?«
»Ich bringe meinem Papa nichts,« versetzte Juliane, indem sie eine lange, hagere Hand aus den Falten des Umschlagetuches hervorschob und neckisch mit dem Finger drohte; »ich wollte mir nur erlauben, zu fragen, wie mein gestrenger Gebieter geschlafen habe.«
»Gut, recht gut, meine Tochter,« antwortete Herr Seim, und ein Zug von Mißvergnügen glitt über sein biederes Gesicht, als ob er in seinen Erwartungen getäuscht worden wäre.
»Aber, Papa, Du erschreckst ja Dein Töchterchen durch die fürchterlichen Falten auf Deiner Stirn!« rief Juliane mit erkünsteltem komischen Entsetzen aus. »Augenblicklich glätte Deine Züge, damit die Falten nicht haften bleiben und Dich zum alten Manne machen! Was sollen die Leute von mir denken, wenn Du Dir ein so altes Aussehen giebst?«