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Herr Seim warf einen Blick in den Spiegel, und indem er mit einer anmuthigen Bewegung das Kinn etwas zurückzog und dann ganz langsam, als trenne er sich nur ungern von seinem Spiegelbilde, auf seine Tochter schaute, erhielt sein Antlitz wieder den früheren, einnehmenden Ausdruck.
»Kind, man ist ebenfalls nur ein schwacher Sterblicher,« sagte er liebreich, »und daher auch menschlichen Schwächen unterworfen. Ich dachte nämlich in diesem Augenblicke daran, daß von dem entlaufenen Mädchen noch immer keine Spur aufgefunden wurde und es höchst wahrscheinlich im Schnee umgekommen ist.«
»Aber, Väterchen, wie kann man sich deshalb nur auf eine Minute die Laune verderben?« entgegnete Juliane, Herrn Seim die ihr zugekehrte Wange zärtlich streichelnd. »Wenn das ungerathene Kind, durch welches der Ruf unserer Anstalt sehr leicht hätte untergraben werden können, wirklich im Schnee zu Grunde ging, so hat es nur die gerechte Strafe für seine Undankbarkeit und Schlechtigkeit empfangen. Eine brauchbare Person wäre es doch nie geworden; laß Dich daher von Deinem guten Herzen nicht zu sehr zum Bedauern hinreißen, und vergiß das Kind, welches nur eine Last für uns war.«
»Ich bedauere ja auch nicht weiter,« versetzte Herr Seim milde lächelnd, und ein kunstvoller Seitenblick streifte wieder sein stattliches Spiegelbild, »allein es fuhr mir durch den Kopf, daß mir Verdrießlichkeiten aus der unangenehmen Geschichte erwachsen könnten.«
»Wie könnten wohl dem besten und gewissenhaftesten aller Väter und Vorsteher Verdrießlichkeiten aus einer so geringfügigen Sache erwachsen, bei welcher ihn nicht der leiseste Vorwurf trifft? Man müßte Dir denn gerade anrechnen, daß Du mit Aufopferung Deiner Gesundheit keine Minute ruhst und Tag und Nacht über das sittliche Gedeihen Deiner Pflegebefohlenen wachst.«
»Ja, Du hast Recht, mein Kind,« erwiderte Herr Seim, mit den Augen blinzelnd und in jedem Winkel derselben eine Thräne zerdrückend; »es ist ein schweres Amt, welches ich übernommen habe, und nur das Bewußtsein, eine hehre Pflicht zu erfüllen, verleiht mir die Kraft, die zu einem solchen Amte erforderlich ist.«
»Kann ich denn nun endlich erfahren, um welche Zeit mein Väterchen zu frühstücken wünscht?« fragte Juliane jetzt, indem sie ihre etwas zu scharf und etwas zu roth gerathenen Züge in tausend freundliche Falten und Fältchen legte.
»Also das war ursprünglich Dein Gewerbe, Du muthwilliges Ding?« versetzte Herr Seim schmunzelnd, und das runde Kinn zog sich wieder etwas zurück, ein neuer Seitenblick traf den Spiegel, und anmuthig fuhren Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über die zierlich emporgekräuselten Lippen.
»Mein ursprüngliches Gewerbe,« bekräftigte Juliane, indem sie sich schäkernd in die Brust warf und eine stolz herausfordernde Haltung annahm. »Und was noch mehr ist, ich wollte mein Väterchen darauf vorbereiten, daß ich wieder einmal für sein Lieblingsgericht gesorgt habe.«
Ein glückliches Lächeln flog über das wohlwollende Gesicht des Vorstehers.
»Braves Töchterchen,« sagte er sodann, »womit habe ich das verdient? Doch bringst Du mir mein Leibgericht, muß ich wohl ein Fläschchen dazu opfern?«
»Nicht nöthig, nicht nöthig; es ist für Alles gesorgt. Ich entdeckte nämlich, daß die beiden Reconvalescenten nach dem ihnen vom Arzte verschriebenen schweren Weine fieberten, und da dachte ich, es sei am verständigsten ...«
»Gutes Kind,« unterbrach Herr Seim den Redefluß seiner Tochter, »Du bist der Segen meines Alters, und wenn Du Dich verheirathetest, müßte ich wahrlich elendiglich verderben!«
»Ich heirathe nie,« entgegnete Juliane entschieden; »die Männerwelt ist zu schlecht, zu undankbar, und einen Mann, wie mein Väterchen, findet man so leicht nicht.«
Herr Seim spielte nachdenklich mit einer der fest gedrehten Locken seines Kindes.
»Sagen wir also um eilf Uhr,« hob er endlich, mit einem leichten Seufzer an.
»So spät?«
»Ja, mein Kind; ich erwarte nämlich den Besuch der Frau Geheime Commissionsräthin Friesel. Du weißt, sie ist eine hohe Beschützerin und Gönnerin unserer Anstalt; wahrscheinlich will sie anfragen, ob noch keine Nachrichten über den entlaufenen Vagabunden eingetroffen seien.«
»Dann muß ich wohl in der Hinterstube decken?«
»Gewiß; aber stelle zuvor einen Teller mit einem halben Butterbrötchen und ein halbes Glas Dünnbier, ich meine von dem, welches die Kinder Sonntags erhalten, hierher auf den Tisch.«
»Ganz, wie der gestrenge Herr Papa befehlen,« entgegnete Juliane mit einer Verbeugung, worauf sie leichten Herzens der Thür zusprang.
Dicht an der Thür blieb sie indessen plötzlich wieder stehen, und sich ihrem Vater zuwendend, zeigte sie diesem ihr glücklich lachendes Antlitz.
»Nein, so kindisch zu sein,« rief sie aus, ihr Haupt muthwillig schüttelnd, daß die Papilloten sich surrend, wie ein Schwarm Bienen, erhoben. »Hätte ich doch beinahe vergessen, gehorsamst zu melden, daß meine Wirthschaftscasse ihrem Ende mit Riesenschritten entgegengeht!«
»Schon?« fragte Herr Seim mit einem milden Vorwurfe im Tone seiner Stimme. »Die Woche ist ja erst halb verstrichen!«
»Leider, leider!« pflichtete Juliane halb bittend, halb trotzig bei. »Aber es ist Alles so theuer, und dann läßt man sich zuweilen durch den Wunsch, Anderen eine Ueberraschung zu bereiten, zu unnöthigen Ausgaben verführen!«
»Werden sich wohl einige Hutbänder und ein Paar Handschuhe bei den Ueberraschungen befinden?« bemerkte Herr Seim, wohlwollend und vergebend mit dem Finger drohend.
Juliane zuckte lächelnd die Achseln und schritt nach dem nächsten Fenster hin, um eine Oeffnung in die Eisdecke einer Scheibe zu hauchen. Herr Seim dagegen begab sich an seinen Schreibtisch und suchte mit lautem Geräusch den Schlüssel zu demselben hervor.
Nachdem er die massive Klappe emporgehoben, schaute er noch einmal nach seiner Tochter zurück. Dieselbe stand so, daß der Fensterpfeiler sie seinen Blicken entzog, und lustig hauchte sie in die verworrenen Eisblumen hinein. Herr Seim nickte zufrieden, und sich wieder dem Schreibtische zuwendend, streckte er seine Hand nach einer kleinen, mit Geld angefüllten hölzernen Mulde aus. Auf dem halben Wege aber änderte die Hand plötzlich ihre Richtung, und nach der andern Seite hinüberfahrend, legte sie sich an den Deckel eines großen blechernen Kastens, auf welchem mit lateinischen Buchstaben die Worte: »Casse der Anstalt« geschrieben standen.
Behutsam und immer nach seiner hauchenden Tochter hinüberlauschend, hob er den Deckel empor, und nachdem er mit gewandtem Griffe zwei Fünfthalerscheine hervorgezogen, ließ er den Deckel wieder eben so behutsam niedersinken. In demselben Augenblicke aber, in welchem er den Schreibtisch verschloß, erschallte auch Julianens Stimme.
»Väterchen,« rief sie aus, fröhlich hinter dem Pfeiler hervorspringend, »ich habe Dir hier ein großes Fenster gemacht, durch welches Du im Vorbeigehen immer einen Blick auf die Leute werfen kannst. Schrecklich träges Volk - anstatt für ihren Tagelohn Schnee zu schaufeln, stellen sie sich alle zwei Minuten hin, um ihre Hände an den Leib zu schlagen!«
»Es wäre nöthig, sich viertheilen zu lassen, um überall zu gleicher Zeit sein zu können,« entgegnete Herr Seim mit einer Anwandlung von Unmuth; »aber nehmen wir es lieber nicht so genau mit ihnen, und bedenken wir, daß sie vermöge ihrer Bildung zu tief stehen, als daß sie einen richtigen Begriff von den Pflichten eines treuen Arbeiters hätten - doch wo willst Du hin?« fragte er schnell, als er bemerkte, daß seine Tochter in ihrem lebhaften Wesen der Thüre zuflog. »Ich denke, Du gebrauchst Geld?«
»Ich werde in meinem ganzen Leben nicht verständig!« rief Juliane lachend aus, indem sie eiligst zu ihrem Vater zurückkehrte. »Hätte ich einfältiges Mädchen doch beinahe wieder das Geld vergessen!« Und dann die beiden Scheine entgegennehmend, barg sie dieselben nachlässig in ihr Umschlagetuch.
»Kind,« begann Herr Seim mit Nachdruck, als Juliane sich eben entfernen wollte, »Du wirst so gut sein und für einen Thaler Sago kaufen, der in der Küche der Kinder verwendet werden soll; ich habe mich gestern überzeugt, daß der ganze Vorrath verbraucht ist, und zwar nur für die Schwächlinge.«
»Es soll geschehen, gestrenger Herr Papa,« entgegnete Juliane, und im nächsten Augenblicke war sie, ein heiteres Liedchen singend, durch die Flurthür verschwunden.
Herr Seim blickte ihr eine Weile sinnend nach.
»Ein verständiges Kind,« murmelte er vor sich hin, indem er sich nach dem Ofen begab, um die brennenden Holzstücke durcheinander zu schüren. »Sie würde gewiß eine vortreffliche Hausfrau werden, wenn sie sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, unverheirathet zu bleiben.«
Nachdem er sodann noch flüchtig nach den Arbeitern auf dem Hofe ausgeschaut hatte, setzte er sich vor seinen Schreibtisch. Mit gemessenem Wesen zog er einen Folianten vor sich hin; einige Minuten blätterte er in demselben hin und her; dann die zuletzt beschriebenen Seiten aufschlagend, notirte er mit sicherer Hand unter die Rubrik der Ausgaben: »Zwölf und einen halben Thaler für Mehlvorräthe und Sago, entnommen von einem durchreisenden Händler.« Pünktlich, wie er in allen Sachen war, legte er darauf noch zwei und einen halben Thaler aus dem blechernen Kasten in die Holzmulde; noch einmal überzeugte er sich sehr genau, daß das Datum stimmte, auch keine Dintenflecke an seinen Fingern zurückgeblieben waren, und dann stellte er den Folianten wieder an seinen Ort. Zum Schlusse ein Bürstchen hervorziehend, trat er vor den Spiegel hin, um seinem Aeußeren durch einige Striche über das schön gelockte Haar und durch Zupfen an seiner Halsbinde einen möglichst vortheilhaften Schimmer zu verleihen.
Der Teller mit dem halben Butterbrote, auf welchem man kaum die Butter sah, und das halbe Glas Bier waren unterdessen hereingestellt worden, ohne daß Herr Seim darauf geachtet hätte.
Sobald aber ein Schlitten mit lautem und melodischem Geklingel vor das Hofthor vorfuhr und Herr Seim durch die von seiner Tochter geschaffene Eisöffnung gewahrte, daß eine in reiches Pelzwerk gehüllte Dame mit Hilfe eines Dieners ausstieg, wurde er plötzlich lebhafter. Er trat nämlich schnell an den runden Eßtisch, nahm das Butterbrötchen und biß einen kleinen Brocken ab, und nachdem er noch einige Krumen auf den Tisch gestreut, setzte er sich auf seinen Drehstuhl. Das Haupt stützte er sorgenvoll auf die linke Hand, die rechte dagegen hielt er mit einer Feder über einem weißen Bogen Papier, als ob er über das, was er zu schreiben im Begriffe stehe, eben nachdenke. Dabei lauschte er scharf nach der Flur hinüber, und als er endlich das Oeffnen und Schließen der Hausthüre und gleich darauf weibliche Schritte und das Rauschen von schwerer Seide unterschied, tauchte er die Feder in die Dinte und schrieb: »Hochwohlgeborene, hochzuverehrende Frau Geheimeräthin.«
Kaum war er so weit gekommen, als es mit einer gewissen herrischen Sicherheit klopfte.
»Herein!« rief der Vorsteher, ohne aufzuschauen; dagegen entstand unter der knisternden Feder: »Ew. Hochwohlgeboren gnädige Theilnahme für das unglückliche Kind -«
»Immer beschäftigt, immer fleißig, mein guter Herr Seim,« ertönte es jetzt mit heller Stimme hinter ihm, daß ihm vor Schreck die Feder entfiel und er im ersten Augenblicke gar nicht wußte, wo er sich befand.
»Ah, Frau Geheimeräthin,« rief er indessen gleich darauf aus, indem er emporsprang und sich tief verneigte, »ich bitte tausendmal um Verzeihung, ich ahnte nicht, ich konnte nicht ahnen - das Eis auf den Fensterscheiben raubt die Aussicht, und dennoch erlaubte ich mir, Ihrer gehorsamst zu gedenken, wie Ihnen dieser Papierbogen beweisen wird!«
Die Angeredete, eine zwar in den Jahren schon vorgeschrittene, allein immer noch hübsche Frau mit echt orientalischem Typus, warf einen flüchtigen Blick auf den ihr vorgehaltenen, angefangenen Brief.
»Immer der gefällige Freund und gewissenhafte Hüter seiner Heerde,« sagte sie sodann, sichtbar geschmeichelt durch die von Herrn Seim gewählte Eingangsform. »Und dabei so bedacht auf die Wünsche seiner Mitmenschen - ja, Herr Seim, Sie haben ganz Recht, das Wohl Ihrer armen, unschuldigen Pflegebefohlenen liegt mir in der That sehr am Herzen, und da ich gekommen bin, um mich nach dem unglücklichen, mißrathenen Mädchen zu erkundigen, so ist Ihr freundliches Schreiben überflüssig geworden. Aber ich errathe schon, eine tröstliche Kunde ist es nicht, die Sie mir mitzutheilen haben,« schloß die Geheimeräthin, als sie sah, daß der Vorsteher mit einem trüben Blick nach oben die Hände faltete.
»Leider noch gar keine Kunde, meine gnädigste Frau!« preßte er endlich heraus, indem er den Kopf etwas abwendete, um die verrätherischen Thränen in seinen Augenwinkeln zu verbergen. »Nein, leider bis jetzt noch gar keine! Ich hoffe indessen zu Gott, daß meine Bemühungen und die Forschungen, welche man nach dem kleinen Flüchtlinge anstellt, von Erfolg gekrönt werden; denn, Frau Geheimeräthin, gerade weil es mir schon so unendlich viel Mühe und Sorge bereitet hat, ist mir das Kind doppelt theuer geworden. Aber darf ich bitten, meine gnädige Frau!« fügte er im verbindlichsten Tone hinzu, indem er einen Stuhl vor dem runden Tische zurecht schob und demnächst, wie erschreckt und beschämt über den Anblick seines kärglichen Frühstücks, eine bereit gehaltene Serviette über Teller und Glas deckte.
Die Frau des reichen Bankiers besaß Freundlichkeit genug, sich zu stellen, als ob sie den Inhalt des Glases und die Reste des Butterbrötchens nicht bemerkt habe, obwohl die Aermlichkeit des Mahls ihr ein billigendes und bedauerndes Lächeln entlockte.
Mit Hülfe des Vorstehers legte sie darauf ihren kostbaren Zobelpelz ab, und nachdem sie sich mit vornehmer Haltung auf den dargebotenen Stuhl niedergelassen, nahm Herr Seim ihr gegenüber, jedoch in angemessener Entfernung, Platz.
»Also keine Nachricht?« wiederholte die Frau Geheime Commissionsräthin mit einem tiefen Seufzer. »Es ist entsetzlich, zu bedenken, daß das arme, unglückliche Wesen vielleicht vor Kälte in dem gräßlichen Schneewetter umgekommen ist.«
»Entsetzlich, meine gnädige Frau!« pflichtete Herr Seim fast tonlos bei, denn der biedere, menschenfreundliche Mann war so tief bewegt, daß er, um seine Schwäche nicht zu sehr zur Schau zu tragen, mit einem sauberen, weißen Taschentuche flüchtig über seine Augen hinfahren mußte. »O, Sie glauben nicht, wie sehr das Geschick des Kindes - ich habe seine großen Anlagen zum Bösen ja längst vergessen - mir zu Herzen geht! Kein Auge habe ich seit seinem Entweichen geschlossen, und meine Tochter, das weichherzige Kind, leidet nicht minder unter dem Eindruck der schrecklichen Begebenheit!«
»Aber sagen Sie, bester Herr Seim, war das Kind wirklich so bös geartet? Ich hörte, es habe eine unbesiegbare Neigung zum Verleumden und zum heimlichen Aneignen fremden Gutes in ihm gelegen.«
»Hoffentlich liegt sie noch in ihm,« versetzte Herr Seim schnell, und ein unbeschreiblicher Ausdruck freudiger Zuversicht spielte auf seinem wohlwollenden Antlitz, indem er das Kinn bis fast an den Rand der weißen Halsbinde zurückzog. Ja, meine gnädige Frau, ich sage, ›hoffentlich‹, weil ich mich mit dem Gedanken, das Kind auf so schreckliche Art verloren zu haben, nie würde vertraut machen können. Haben wir das Kind aber erst wieder, so gelingt es mir auch mit Gottes Hülfe und mit weiser Strenge, seine Unarten gänzlich zu überwinden.«
»Gebe Gott seinen Segen zu Ihrem frommen Beginnen, mein bester Herr Seim! Allein Stehlen, gerade heraus zu sprechen, ist doch wohl etwas mehr, als eine bloße Unart. Es ist überhaupt merkwürdig, wie sich bei den Kindern der niederen Stände, ja, sogar bis zum Mittelstande hinauf die schmachvollsten Laster bereits im Jugendalter so zahlreich vertreten finden.«
»Gewiß ist es merkwürdig, meine gnädigste Gönnerin,« entgegnete Herr Seim zuvorkommend, während seine Blicke bewundernd an den geschminkten Zügen der Bankiersfrau hingen, »und dennoch wieder ganz natürlich, wenn man berücksichtigt, daß das Beispiel der Eltern nothgedrungen auf die Kinder einwirken muß. Deshalb sehen wir auch täglich, wie die Sprößlinge der Arbeiter sich bereits frühzeitig im Pfuhle des Lasters wälzen, die Nachkommen des übermüthigen Mittelstandes sich in Lug und Trug üben, während die Kinder hochgeborener und wahrhaft vornehmer Herrschaften schon im zartesten Jugendalter nicht nur durch unnachahmliche Anmuth, sondern auch durch wahrhaft edle Gesinnungen alle Herzen für sich einnehmen.«
»Ja, ja, mein lieber Herr Seim,« versetzte die Frau Commissionsräthin, mit der Miene einer bescheidenen Dulderin dem Vorsteher die Hand zum Kusse darreichend, »der Herr in seiner unbegreiflichen Weisheit und Güte hat Alles zum Besten eingerichtet - aber wie war es mit dem Kinde? Durch seine Flucht, die unbedingt auf keinen besonders guten Charakter deutet, ist meine ganze Neugierde auf dasselbe hingelenkt worden; woher stammt es und wie weit ist es in Ihrer Anstalt mit der Ausübung seiner angeborenen Sünden gegangen?«
»Ach, gnädigste Frau, wenn ich nur wüßte, woher das bedauernswerthe kleine Geschöpf stammt!« antwortete Herr Seim, sein biederes Antlitz mit einer neuen anmuthigen Kinnbewegung verlegen zur Seite wendend, als ob er befürchtet habe, durch weitere Mittheilungen das keusche Ohr seiner Gönnerin zu verletzen; »recht viel läßt sich wohl über sein Herkommen denken, aber - aber nur sehr wenig sagen.«
»Gewiß fehlt ihm - nun - mein bester Herr Seim, Sie sind ein verheiratheter Mann ...«
»Gewesen, gnädigste Frau, leider nur zu kurze Zeit gewesen,« wagte der Vorsteher die Commissionsräthin mit bebenden Lippen zu unterbrechen, während sein Taschentuch nach den beiden feuchten Augenwinkeln fuhr.
»Armer Mann, Sie sind wenigstens Familienvater,« verbesserte sich die Commissionsräthin, »und das ist hinlänglich, um die Schranke der Etiquette, die entgegengesetzten Falles zwischen uns bestände, zu lüften. Doch um auf das Kind zurückzukommen, es fehlt ihm also der Vatersname?« schloß sie, und in ihrer nach vorn geneigten Haltung und den ungewöhnlich weit geöffneten schwarzen Augen sprach sich die außerordentliche Theilnahme aus, welche sie für die interessante Geschichte des Kindes hegte.
»Es fehlt ihm nicht nur der Name des Vaters, sondern auch der Name der Mutter,« antwortete Herr Seim in Folge der an ihn gerichteten Aufmunterung kühner und entschiedener; »es wurde nämlich vor neun Jahren als kleines, etwa zweijähriges hülfloses Wesen von unbekannten Händen unserer Anstalt übergeben. Eine unerhebliche Geldsumme, kaum ausreichend, es zweckmäßig einzukleiden, begleitete es, und auf das dürftige Jäckchen, welches es trug, war ein Zettel mit dem Namen Elisabeth festgesteckt worden.«
»Und den Ueberbringer haben Sie nicht gesehen?«
»Niemand hat ihn gesehen; wir entdeckten den Korb, der das Kind barg, zur späten Abendstunde auf unserer Hausflur, und da alle Nachforschungen nach der Mutter vergeblich blieben, mußten wir den kleinen Findling schlechterdings behalten. Aber ich that es gern, meine gnädige Frau, sehr gern, schon allein des flehenden Ausdruckes wegen, mit welchem das junge Leben zu mir emporschaute,« fügte Herr Seim mit einer bekräftigenden Kinnbewegung und dem biedern Faltenwurf um seinen Mund hinzu; »auch meine Juliane, damals selbst noch ein Kind - in der That, ihrem Wesen nach, heute noch ein Kind, und zwar ein braves, dankbares Kind -, bestand darauf, lieber weniger nach den unbekannten Eltern zu forschen und dafür etwas mehr Sorgfalt auf den kleinen Gast zu verwenden - und so geschah es auch. Trotz seiner Kränklichkeit und übergroßen Schwäche gedieh das Kind doch zusehends unter der besondern Aufsicht meiner Juliane. Es würde auch jetzt noch unter ihren Händen gedeihen, wenn nicht ein stark hervortretender Zug von Eigensinn, Unredlichkeit und Verstocktheit das Kind ihrem Herzen entfremdet hätte. Strenge Zucht mußte an Stelle der Liebe treten; aber auch damit richteten wir nichts aus. Die Fälle von Unredlichkeit wiederholten sich häufiger und beschränkten sich zuletzt nicht mehr darauf, daß das Mädchen sich an dem Eigenthum seiner Mitschülerinnen vergriff, sondern sogar ...«
»Sogar?« fragte die Commissionsräthin gespannt, als Herr Seim mit einem tiefen Seufzer, dem Ausbruche seiner Wehmuth, schwieg.
»Das arme Kind ist vielleicht schon todt,« antwortete Herr Seim leise, wie zu sich selbst sprechend, »und den Todten soll man nichts Uebles nachsagen, selbst auch dann nicht, wenn sie es verdienen.«
»Sprechen Sie, mein guter Herr Seim,« munterte die Commissionsräthin auf; »warum mit der Wahrheit zurückhalten, wenn es sich darum handelt, einen prüfenden Blick in ein jugendliches, verdorbenes Gemüth zu senken?«
»Wohlan denn, gnädige Frau,« fuhr der Vorsteher fort, nachdem er sich wieder ermannt hatte, »ich zögere nicht länger, Ihnen Alles vertrauensvoll mitzutheilen. Ja, das Mädchen hat es verstanden, sich meine augenblickliche Abwesenheit zu Nutze zu machen, hier einzudringen, dort den Schreibtisch, in welchem die Schlüssel gerade so steckten, wie jetzt, zu öffnen und mir baares Geld zu entwenden.«
»Ist es bei der That ertappt worden?«
»Leider nicht; kaum, daß ich Verdacht faßte, als ich das Fehlen des Geldes entdeckte und das Mädchen mit Näschereien in den Händen gesehen wurde, die es von einem Vorübergehenden wollte geschenkt erhalten haben. Selbstverständlich, um den Ruf unserer wohlthätigen Anstalt zu bewahren, zugleich aber auch den Frevler zu strafen und auf den Weg des Rechtes zurückzuführen, suchte ich den Thäter zu ermitteln, allein lange vergeblich. Da kam ich auf den Gedanken, einige Thaler, die ich vorher gezeichnet hatte, offen auf meinem Tische liegen zu lassen und einen der Wärter zu beauftragen, das Mädchen mit einer Botschaft zu mir zu schicken.
»Ich sträubte mich nämlich noch immer gegen den gräßlichen Verdacht und nahm zu diesem seltsamen Mittel meine Zuflucht, mehr, um die übrigen Hausbewohner von der Unschuld des Mädchens zu überzeugen, als dieses auf die Probe zu stellen.
»Leider hatten die Leute nur zu recht gehabt, als sie meinen Argwohn auf Lieschen, wie das Kind genannt wurde, hinlenkten, denn als ich etwas später das Geld nachzählte, fehlten wieder mehrere Thaler. Es war dies vorgestern Abend. Um nicht zur späten Stunde die zum Theil schon sanft schlummernden Kleinen zu stören und durch einen unangenehmen Auftritt zu beunruhigen, beschloß ich, erst am folgenden Morgen der Sache auf den Grund zu gehen.
»Hätte ich diese Rücksicht nicht gebraucht, es wäre vielleicht besser gewesen; denn als die Wärterinnen sich gestern Morgen nach dem Schlafsaale der Mädchen begaben, da war Lieschen sammt ihren Kleidern verschwunden, und in ihrem Bette fand man diesen Thaler, auf welchen ich, wie die Frau Geheimeräthin zu bemerken die Güte haben werden, mit einem Federmesser ein Kreuz geritzt hatte.«
Die Commissionsräthin nahm den ihr mit einer Verbeugung dargereichten Thaler und betrachtete ihn eine Weile sinnend.
»Ja, da ist das Kreuz, mein bester Herr Seim,« sagte sie, das Geldstück noch immer aufmerksam« prüfend; »es war ein glücklicher Einfall von Ihnen, und der Verdacht kann keinen Unschuldigen mehr treffen - an den von Ihnen zurückgelassenen Schnitten sieht man übrigens recht deutlich, wie viel Zusatz das Silber erhält, ehe es geprägt wird - nun, kehrt das arme, irre geleitete Kind nicht wieder, hat eine harte, strafende Hand es getroffen, dann, mein lieber Herr Seim, nehmen Sie an, daß Gott es so gewollt hat, vielleicht um die bösen und ansteckenden Elemente aus Ihrer Anstalt zu entfernen.«
»Das ist mein einziger Trost,« versetzte der Vorsteher mit schmerzlich zuckenden Lippen und den etwas verlängerten Hals einige Male frei in der Halsbinde hin und her drehend; »allein bis zu meinem letzten Athemzuge gebe ich die Hoffnung nicht auf, das verlorene Kind dennoch einmal wiederzusehen und als gebessert an mein Herz zu schließen.«
»Die Zeit enteilt,« begann die Commissionsräthin, nachdem Herr Seim wieder die gewöhnliche, biedere, selbstbewußte Haltung angenommen, »und ich habe noch von Geschäften mit Ihnen zu sprechen.« - Bei diesen Worten legte sie eine schwere Ledertasche mit einem Geräusche auf den Tisch, welches verrieth, daß es keine Schlüssel waren, die den melodischen Klang erzeugten. - »Die Collecte unter meinen Standesgenossinnen hat einen reichen Ertrag für Ihre Anstalt geliefert, reicher, als ich selbst erwartet hätte. Ich machte eben überall darauf aufmerksam, daß gerade hier eine gute Gelegenheit geboten wäre, uns vor den niederen Ständen auszuzeichnen, und man gab viel und mit Freuden. Die Liste der Geber werde ich Ihnen später einhändigen. Daß die Frau unseres Nachbars - ich habe ihren Namen vergessen - kleine, obscure Handlung, nicht einmal ein Engros-Geschäft ...«