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»Warum mußte ich so früh meine arme Mutter verlieren?« sagte sie mit einem tiefen Seufzer.
»Ruhig, ruhig, liebes Kind, das läßt sich nun einmal nicht ändern; wenn der liebe Gott es einmal so beschlossen hat, dann sind wir Aerzte an den Krankenbetten die reinen Waisenknaben. Sie haben Ihre Mutter lange nicht so kennen gelernt, wie ich, denn Sie waren damals noch ein kleines Kind; auch dürfen Sie nicht vergessen, daß Sie noch einen Vater haben.«
»Der sich indessen nur wenig um mich kümmern kann,« schaltete die Gräfin ein.
»Ist auch nicht nöthig, mein liebes Kind; Sie sind verständig genug, um allein zu denken und zu handeln, und schlimmsten Falls haben Sie auch Freunde, warme, aufrichtige Freunde.«
»Unter denen ein gewisser Doctor Bergmann obenan steht,« versetzte Renate, dem alten Herrn mit einem dankbaren Lächeln die Hand reichend.
»Nun ja, Sie mögen nicht so ganz Unrecht haben,« entgegnete der Doctor, indem er die dargebotene Hand mit aller Kraft drückte, und auf Renatens schmerzhaftes Zucken ein väterliches: »Bitte um Verzeihung!« folgen ließ. »Aber wirklich, ich bin nicht gekommen, um Sie trübe zu stimmen oder großartige Elogen mit Ihnen auszutauschen - sagen Sie mir, wohin wollen Sie noch, trotz aller Nacht und Kälte, fahren?« fragte er plötzlich im Geschäftstone und sein rundes Kinn wieder auf den goldenen Knopf stützend.
»Zur Gräfin Clotilde.«
»Die Gräfin Clotilde kann Sie auf einen andern Abend einladen.«
»Aber warum denn, lieber Herr Doctor?«
»Weil Sie heute Abend nicht hinfahren werden.«
»Darf ich nach dem Grund fragen?«
»Gewiß, gewiß, mein liebes Kind; weil Sie mit mir fahren müssen, oder ich vielmehr mit Ihnen, denn ich bin zu Fuße hergelaufen. Ich hatte nämlich keine Zeit, vorher nach Hause zu gehen und anspannen zu lassen.«
»Und wohin, wenn ich fragen darf?« erwiderte die Gräfin keineswegs überrascht, jedoch mit einem hohen Grade von Spannung und natürlicher Neugierde sich dem Doctor zuneigend.
»Dahin, wohin Sie und ich gehören - ich meine, in die Wohnung des unverschuldeten Elends. Also beeilen Sie sich, mein liebes Kind, wickeln Sie sich warm ein, denn draußen ist es malitiös kalt, und dann vorwärts!«
»Solch strengem Befehle gegenüber läßt sich allerdings nichts ausrichten,« versetzte die Gräfin, sich mit der größten Bereitwilligkeit erhebend, welchem Beispiele der Doctor, in der einen Hand den Hut, in der andern den Stock, augenblicklich folgte. »Aber behalten Sie Platz, Herr Doctor, so schnell geht das nicht,« fügte sie mit herzlicher Freundlichkeit hinzu: »erstens muß ich absagen lassen ...«
»Schicken Sie einen Bedienten hin, liebes Kind.«
»Nein, das geht nicht,« entgegnete die Gräfin, zu ihrem Schreibtische hineilend. »Ich weiß wohl, Sie lieben die Gräfin Clotilde nicht sehr ...«
»Nein, wahrhaftig nicht!« rief der Doctor aus, indem er sich in Bewegung setzte und mit eiligen Schritten und seinen Stock fest auf die den Schall dämpfenden Teppiche aufstoßend das Gemach zu durchmessen begann.
»Nun, wenn Sie die Gräfin auch nicht lieben, so darf das für mich doch kein Grund sein, mir eine Unhöflichkeit zu Schulden kommen zu lassen.«
»Gewiß nicht, mein liebes Kind,« pflichtete der Doctor mürrisch bei.
»Uebrigens thun Sie der Gräfin sowohl als auch ihrem Bruder großes Unrecht, denn Beide haben mir mehr als einmal die untrüglichsten Beweise ihrer wahrhaft freundschaftlichen Gesinnungen und Anhänglichkeit gegeben.«
»Wir wissen auch, warum,« grollte der Doctor, seinen Stock während des Gehens heftiger aufstoßend. »Eine reiche Erbin findet man nicht alle Tage - Tausend Welt! - und ein so schönes Mädchen dazu. Denke aber, mit dabei zu sein. Hm, ja, es ist niederträchtig!«
Die Gräfin achtete nicht auf die halblaut gesprochenen Worte; sie hatte zu schreiben begonnen. Sobald Sie den kurzen Brief beendigt und zugesiegelt hatte, drückte sie mit dem Zeigefinger auf eine vor ihr stehende Glocke, auf deren silberreinen Klang sogleich ein Diener erschien.
»Tragen Sie den Brief zu der Gräfin Clotilde,« sagte sie mehr bittend als befehlend. »Verstehen Sie mich auch recht; geben Sie den Brief ab, ohne auf Antwort zu harren. Bestellen Sie im Vorbeigehen, daß der Wagen vorfahre, und lassen Sie noch einen zweiten Fußsack hineinlegen.«
»Sehr gut, mein liebes Kind,« bemerkte der Doctor, sobald die Thür sich hinter dem Diener geschlossen hatte. »Aber legen Sie festes Schuhzeug an, wir werden wohl eine Strecke zu Fuß gehen müssen.«
»Zu Fuße?« fragte die Gräfin befremdet.
»Ja, zu Fuße,« entgegnete der Doctor entschieden. »Seien Sie indessen unbesorgt; erstens bin ich bei Ihnen, und dann ist die frische Nachtluft Ihnen auch nur gesund.«
»Muß ich etwas Geld mitnehmen?« fragte die Gräfin mit bezauberndem, kindlich-folgsamem Wesen zurück.
»Ein paar Thaler können nicht schaden, denn das meinige habe ich bis auf den letzten Pfennig ausgegeben. Besser ist aber noch etwas Wäsche, und vor allen Dingen eine oder zwei wollene Decken.«
Die Gräfin verschwand in ein Nebengemach; der Doctor dagegen begann von Neuem mit vergrößerter Hast auf und ab zu schreiten, mit verstärkter Heftigkeit seinen Stock auf den weichen Teppich zu stoßen oder flötenartig an seine Lippen zu bringen und, wie um das Versäumte nachzuholen, häufiger seiner Tabaksdose zuzusprechen.
Aber auch sein Geist schien noch reger geworden zu sein, denn in schnellerer Folge entwanden sich die in laute Worte gekleideten Gedanken seinen Lippen.
»Hm, ein prächtiges Mädchen,« sprach er vor sich hin, und seine Blicke streiften gleichgültig die reiche und geschmackvolle Einrichtung des Gemaches. »Gerade wie ihre Mutter - habe die gute Frau in meinen jungen Jahren mehr geliebt, wie meine Alte vielleicht gutgeheißen hätte - schadet aber nicht, sie verdiente auch Liebe, und ihr einziges Kind verdient sie auch - Tausend Welt, das Mädchen ist mir an's Herz gewachsen! Hm, und so brav und edel, so vertrauensvoll - thut Alles, was ich sage - sie kann's aber auch, denn lieber ließ ich mir den Kopf amputiren, ehe ich ihr einen schlechten Rath ertheilte! Huh, diese Gräfin Clotilde und ihr sauberer Bruder! Wollen mir das Kind umstricken - aber ich passe auf - Tausend Welt noch einmal! Im Gutesthun veredelt sich das Gemüth, und an Gelegenheit lasse ich es ihr nicht fehlen.«
Dieser Art war das Selbstgespräch, welches der Doctor führte, und so weit war er auch ungefähr mit seinen Betrachtungen gekommen, als die Gräfin vollständig reisefertig in der Thüre erschien. Ihr auf dem Fuße folgte mit einem umfangreichen Bündel eine ältere Dienerin, die den Auftrag erhielt, ihre Last sogleich in den Wagen zu legen.
Der Doctor zögerte darauf nicht länger. Nachdem er noch einen zufriedenen, fast zärtlichen Blick auf Renate geworfen, in deren lebhaften Augen die hohe Theilnahme glühte, welche sie schon jetzt für eine ihr noch vollständig unbekannte Sache hegte, schritt er ihr voraus der Thüre zu.
Ein Diener, auf dem Arme den Ueberrock des Doctors, schloß sich ihnen auf der Treppe an, doch bequemte der alte Herr sich erst unten auf der Hausflur dazu, den Rock, und zwar, nach Zurückweisung jeder Hülfe, anzuziehen, und einige Secunden später saß er neben der Gräfin im Wagen. Er bezeichnete sodann noch die Stelle, auf welcher der Wagen halten solle, und in raschem Trabe eilten die Pferde durch die erleuchteten Straßen dem in nur spärlich durch trübe Laternen unterbrochenem Dunkel daliegenden verrufensten Stadttheile zu.
7. In der Höhle des Elends.
In jeder großen oder auch nur größeren Stadt, gleichviel, in welchem Lande und welchen Namens, befinden sich Straßen, die vorzugsweise dem Geschäftsverkehr eingeräumt sind, und andere, in denen der Scheinglanz irdischer Größe und des Reichthums seine dauernde Wohnung aufgeschlagen hat. Wieder andere und durch ihr zum Theil rußiges Aeußere weniger einladende Stadttheile erweisen sich als die Asyle der im Kleinen schaffenden Gewerke, in welchen die Nähnadel geschwungen, der Schusterpfriemen gehandhabt und vor winzigen Essen rothglühendes Drahteisen in kurze und lange, kopflose und dickköpfige Nägel verwandelt wird.
Noch andere Gassen und Gäßchen zeichnen sich dadurch aus, daß in ihnen Haus bei Haus die Thüren mitgetragenen und funkelnagelneuen Kleidungsstücken so dicht verhangen sind, daß sie kaum noch einen Durchgang gewähren, während die trüben Schaufenster ganze Arsenale von verrosteten Säbeln, verbogenen Czako's, vergilbten und grün angelaufenen Tressen, Knöpfen und Epaulettes und verblichenen Uniformstücken zeigen.
Endlich aber auch stößt man auf zusammengedrängte Häuserreihen, in welchen Elend und Verbrechen heimisch sind und wohin die wärmenden und belebenden Sonnenstrahlen wie ermuthigender Trost und liebreiche Ermahnungen nur spärlich, sehr spärlich ihren Weg finden.
Was sollten auch wohl die Sonnenstrahlen in den engen Gassen und Höfen, wo ihre Wärme dazu dienen würde, den feuchten Kehrichthaufen giftige Miasmen zu entlocken? Was sollen Trost und Ermahnungen in branntweinduftenden Höhlen oder am Lager der Hungernden und Kranken, die nur in der erstarrenden Hand des Todes ihren letzten Trost erblicken und sich durch das Ersinnen und Ausführen von Verbrechen gleichsam an der gefühllosen Welt zu rächen suchen? Wer aber unter solchen, die von einem freundlichen Geschicke dazu berufen, vor festlich geschmückten und strahlenden Zuhörern und andächtig erhobenen Augen weise Betrachtungen über den barmherzigen Samariter anzustellen, möchte die mit Wohlgerüchen angefüllte Atmosphäre mit der dicken Luft in jenen scheußlichen Baracken, wenn auch nur auf Stunden, vertauschen, um mit der Erklärung des kindlichen Spruches: »Es ist leichter, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in das Himmelreich komme,« die Zeit zu vergeuden?
Wie Glanz und Reichthum ihre Privilegien besitzen, so sind auch dem Elende und dem Verbrechen ihre Vorrechte stillschweigend von der Gesellschaft zuerkannt worden, nämlich die Vorrechte, daß Seufzer und Klagen ungehört verhallen dürfen, die Augen der wachsamen Polizei gleich kalt über unverschuldete wie verschuldete Leiden hinwegschweifen und, außer der strengen Hand der Gerichtsbarkeit, sich Niemand in ihre inneren Angelegenheiten mischt.
Es ist daher auch überflüssig, die Wege, die nach jenen verrufenen Stadtwinkeln führen, genauer zu beschreiben. Derjenige, dessen Endziel in jenen finsteren Regionen liegt, wird sie früh genug und ohne weitere Anweisungen erreichen, und Andere, die höchstens von Neugierde beseelt sind, brauchen nur dem täglich in unabänderlicher Weise einherwogenden Menschenstrome zu folgen, um in weitem Umkreise um die Abscheu einflößenden Orte und Gegenden herum zu gelangen, wonach deren Lage dann leicht zu berechnen. Für diejenigen aber, die auf ungefährlichem Wege und ohne die von Laster und Krankheitsstoffen geschwängerte Luft einzuathmen, also durch Mittheilungen Anderer, sich Kenntniß von einzelnen Vorgängen in dem modernen Gomorrha zu verschaffen wünschen, für die genügt es, zu wissen, daß das Haus, in welches ihnen hier im Geiste Zugang verschafft werden soll, in einem engen Gäßchen liegt, welches eine andere, diesem sprechend ähnliche, nur viel längere Gasse quer durchschneidet und auf dem einen Ende sackartig ausläuft, mit dem andern Ende dagegen in eine düstere, vom Verkehr nur spärlich berührte Straße mündet. Das betreffende Haus scheint uralt zu sein; es ist wenigstens nicht denkbar, daß ein Gebäude, welches vier Stockwerke hoch hinaufreicht und dessen wenige kleine, fast gleichseitige Fenster willkürlich auf der umfangreichen Wand ohne die geringste Symmetrie angebracht wurden, in den beiden letzten Jahrhunderten errichtet worden ist. Auch die niedrige Lage der vergitterten Fenster des Erdgeschosses, sowie der Umstand, daß von der schmalen Hausthür aus gleich einige Stufen nach innen niederwärts führen, und daß an vielen Stellen der rußige Kalküberzug von dem mit verrosteten Nägeln und Drahtgeflecht bedeckten Fachwerk abgefallen ist, sprechen für das hohe Alter der unheimlich düsteren Baulichkeit.
Bei Tage scheint dieselbe ausgestorben zu sein, oder sie gleicht vielmehr einem alten Magazine, in welchem nur solche Gegenstände untergebracht werden, die man in vielen Jahren nicht anzurühren und noch weniger hervorzuholen gedenkt; denn so lange bleibt ein Vorübergehender nicht vor derselben stehen, um die einzelnen übernächtigen und von verwirrtem Haar umgebenen Gesichter zu bemerken, die gelegentlich hinter den erblindeten, theilweise mit Papier verklebten Fenstern vorübergleiten oder auch stiere, gleichgültige Blicke nach der Straße hinaus werfen. Kinder aber befinden sich zur Tageszeit nicht im Hause; sie sind fort, weit fort, nach Gegenden, wo man sie nicht kennt, theils um zu betteln, theils um dem ergiebigeren Gewerbe der Dieberei nachzugehen.
Doch auch an jenem kalten Winterabende, an welchem Doctor Bergmann die Gräfin Renate zu dem nächtlichen Ausfluge aufforderte, zeigte das unheimliche Haus nur wenig Leben auf der Straßenseite.
Alles war still hinter den düsteren Mauern, und die Stille war um so auffälliger, als durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden des unteren Geschosses schmale, wenn auch trübe Lichtstreifen die Anwesenheit von Menschen verriethen, während in den oberen Stockwerken hier und dort eine matte Beleuchtung durch die dick mit Eis belegten Scheiben in's Freie fiel.
Dort oben brauchte man keine Fensterladen, um das Treiben der Bewohner vor neugierigen, unberufenen Blicken zu verbergen, indem das gegenüberliegende, kaum sechszehn Fuß weit entfernte Haus mit seiner von keinem einzigen Fenster unterbrochenen Rückwand die Gasse begrenzte, das rußige Fachwerk also einen weit besseren Schutz gegen fremde Augen gewährte, als die Tausende und aber Tausende von Eiskrystallen, die auf den Scheiben in eine einzige Kruste zusammengefroren waren. Herrschte in dem Hause aber wirklich geräuschvolles Leben, so befand sich dasselbe nach dem Hofe hinaus, also durch zu viele Wände und Räumlichkeiten von der Straße getrennt, als daß die Ohren einzelner vorüberschreitender Wächter der öffentlichen Sicherheit dadurch hätten berührt werden können.
Wie schon erwähnt, führten von der Hausthür drei Stufen niederwärts auf die Hausflur, die als schmaler Gang die Straße mit einem kleinen Hofe verband. Der Hof bildete indessen keineswegs die Grenze des Grundstücks, sondern, sich an die Rückwand des nächsten Hauses anlehnend, erhob sich auf demselben eine Art Hintergebäude. Dasselbe, obwohl in einem Zustande gefährlicher Verwitterung, war in fast allen Theilen bewohnt, und zwar von Leuten, die, freier in ihren Bewegungen, sich wenig darum kümmerten, in wie hohem Grade der von ihnen erzeugte Lärm den engen Hofraum erfüllte.
Nur in dem einen Winkel zur ebenen Erde, der rechts von der windschiefen und lose in ihren Angeln hängenden Thüre lag, herrschte ein dumpfes Schweigen. Dasselbe bildete einen seltsamen Gegensatz zu dem wilden, summenden Geräusch in den übrigen Theilen der Baracke, aber auch zu dem hellen, flackernden Schein, der das ungleichseitige, mit lauter kleinen, geborstenen Scheiben ausgefüllte und dick beeiste Fenster transparentartig erglühen machte.
Zu der hinter diesem Fenster liegenden Räumlichkeit gelangte man, indem man sich nach mühsamem Hindurchwinden durch die von einer nur unwillig gehorchenden Thür versperrte Pforte gleich rechts wendete und mittelst eines nach außen hängenden dünnen Riemens eine hölzerne Klinke emporzog, worauf eine in allen Fugen bewegliche Thür knarrend nach innen wich und den Eingang offen legte.
Wer indessen, sei es nun aus Neugierde oder aus edleren Gefühlen, um fremdes Unglück kennen zu lernen, auf der morschen Schwelle angekommen wäre, der würde unwillkürlich gezögert haben, einzutreten, so ergreifend und zugleich zurückschreckend war der Anblick, der sich ihm bot.
Zwar brannte auf dem kleinen Feuerherd, der zugleich die Stelle des Ofens vertrat, ein helles, von frisch gespaltenem Holze genährtes Feuer, eine erträgliche Wärme in dem Gemach verbreitend; zwar lag neben dem Herde auf den halb vermoderten Dielen noch Holz genug, um das Feuer vierundzwanzig Stunden hindurch in derselben verschwenderischen Weise brennend zu erhalten, doch schwächte dies in Nichts den Eindruck ab, welchem ein fremder Beobachter bei der Wahrnehmung des übrigen Elends unterworfen gewesen wäre. Denn nicht nur war durch den plötzlichen Zusammenstoß der Wärme und der eisigen Kälte, in Folge dessen sich die Eiskrystalle auf den Wänden und der Decke in große Wassertropfen verwandelten, die Luft noch schwerer und ungesunder geworden, sondern auch der Mangel jeglichen Hausgeräthes, auch des allernothwendigsten, bewies, daß das Elend in seiner schrecklichsten Gestalt an diesem Orte seine Wohnung aufgeschlagen habe und man mit der Vorsehung hätte rechten mögen, daß menschlichen Wesen eine solche Stätte zum Aufenthalt dienen durfte. -
Vor dem niedrigen Herde stand ein Kind, ein Mädchen von etwa neun Jahren, ämsig damit beschäftigt, das Feuer zu schüren und zugleich den Inhalt eines neuen blechernen Kesselchens, welches mittelst einer von dem bleigefaßten Fenster losgebrochenen dünnen eisernen Stange über den Flammen befestigt worden war, zu überwachen.
Neben dem Feuer lagen mehrere Weißbrödchen, augenscheinlich dazu bestimmt, in die warme Milch gebrockt zu werden; doch hatte das Kind seinen Hunger nicht so lange zu bewältigen vermocht, und mit einer Mitleid erregenden Gier aß es von einem der Brödchen, welches es selbst während der Arbeit nicht aus der Hand legte.
Das arme Kind schien sehr, sehr hungrig zu sein. Wie viel Hunger und Kälte es aber in seinem zarten Alter schon erduldet hatte, das bezeugten die tief in ihre Höhlen zurückgesunkenen Augen, die bleiche, kränkliche Farbe der eingefallenen Wangen und vor Allem die schreckliche Hagerkeit der kleinen Glieder, die überall aus der den schmächtigen Körper nur theilweise verbergenden Lumpenhülle hervorlugten.
Kaum zwei Schritte von dem Feuer entfernt, auf einem Lager von dumpfigem Stroh und bedeckt mit einer Anhäufung von Lumpen, aus deren Form oder Farbe nicht mehr zu erkennen war, zu was sie ursprünglich bestimmt gewesen, lag die Mutter des Kindes.
Was bei dem Kinde zum tiefsten Mitleid hinriß und seiner Jugend wegen ein Gefühl schmerzlicher Rührung erweckte, das steigerte sich beim Anblicke der elenden, von schwerer Krankheit heimgesuchten Frau zu einer wahren Herzensangst, wenn man in deren matt glänzenden Augen noch immer den Ausdruck mütterlicher Liebe und Schmerzes las, mit welchem sie, trotzdem sie ihre Worte an eine andere Person richtete, die Bewegungen der stillen, gegen äußere Eindrücke fast abgestumpften Tochter verfolgte.
Die Lage des siechen Körpers entdeckte man kaum unter der Lumpenanhäufung; dagegen gewahrte man deutlicher, daß er, geschüttelt vor Fieberfrost und Kälte, heftig bebte und zuckte. Sonst erblickte man nur das hagere, geisterbleiche Antlitz mit dem wirren braunen Haar, den schmalen, bläulichen Lippen und den halb flehenden, halb trotzigen großen Augen.
An einen alten, dreibeinigen Tisch gelehnt, das einzige Hausgeräth, welches in dem höhlenähnlichen Gemache vorhanden war, und halb auf demselben sitzend, stand der Mann der Unglücklichen.
Verhältnißmäßig wohl gekleidet, wie er war, schien er nicht hierher zu gehören; dagegen lag in dem finsteren Blick der unter den buschigen, über der Nase in eine dicke Falte zusammengezogenen Brauen hervorlugenden Augen ein Ausdruck, der darauf hindeutete, daß er sich hier als Herr fühle und das Bewußtsein hege, nach Willkür über die außer ihm noch in dem Gemache befindlichen Geschöpfe verfügen zu können.
Sein Gesicht war knochig, doch nichts weniger, als von Noth und Entbehrungen gezeichnet. Es hätte vielleicht hübsch genannt werden können, wenn nicht eben wilde Entschlossenheit und brutale Gleichgültigkeit so scharf auf demselben ausgeprägt gewesen wären und die wulstigen, von einem stattlichen Schnurrbarte beschatteten Lippen und der ungewöhnlich weit vorstehende Unterkiefer der ganzen Physiognomie den Charakter gefährlicher Leidenschaftlichkeit und sittlicher Verderbtheit verliehen hätten.
Ein abgetragener, tief über die Stirne gezogener Hut erhöhte das Finstere seiner Züge; ein weiter Paletot hing lose um die breiten, kraftvollen Schultern und verbarg auf diese Weise seinen übrigen Anzug bis auf den untersten Theil der hellgrauen Beinkleider, die, offenbar ursprünglich nicht für ihn bestimmt und angefertigt, mittels schmaler Sprungriemen unter den schief getretenen Stiefeln sehr straff befestigt waren. In den Händen hielt er nachlässig eine kurze Pfeife mit silberbeschlagenem Maserkopf, und daß es ihm nicht an dem entsprechenden Tabak fehle, bewiesen die fettig glänzenden, grünen Schnüre eines Tabaksbeutels, die lang aus der einen, dick aufgebauschten Tasche seines Paletots niederhingen.
Augenscheinlich hatte er längere Zeit mit brutaler, fast thierischer Gleichgültigkeit auf die bitteren Klagen und Vorwürfe derjenigen hingehört, die er seine Frau nannte. Als dieselbe dann endlich vor Erschöpfung und Fieberkälte nicht weiter zu sprechen vermochte, wendete er seine Blicke mit Unheil verkündender Ruhe auf sie hin.
»Hoffentlich bist Du jetzt zu Ende mit Deinen Klageliedern, die Dir doch zu nichts helfen,« begann er, indem er die Pfeife an seine Lippen führte, sie jedoch, weil sie leer war, sogleich mit einer ungeduldigen Geberde niedersinken ließ; »bin ich vielleicht besser daran? Nein, viel schlechter; denn dort habt Ihr Euren Kessel Milch, den Ihr ungestört verzehren könnt, während ich mit Pfeife und Tabak hier stehe, ohne rauchen zu dürfen.«
»Aber der Doctor, was soll er von uns denken, wenn er bei seinem Eintritt den Tabak riecht?« fragte die unglückliche Frau mit dumpfer Stimme.
»Hole der Teufel den Doctor,« entgegnete der Mann zornig, »und Euch dazu, daß Ihr mir solche Leute auf den Hals zieht!«
»Dies sagst Du zu Deinem hungernden Kinde? Hättest Du für Brod gesorgt, würde das Kind nicht gezwungen gewesen sein, den fremden Herrn um eine Gabe anzusprechen, und daß derselbe das arme, vor Kälte und Hunger bebende Geschöpf bis in seine Wohnung begleitete, ist doch nicht unsere Schuld. Und welch ein Segen war es, daß er es hat,« fügte sie mit milderem Ausdrucke hinzu; »o, die Wärme thut so wohl, und nun gar noch die Aussicht auf die warme Milch! Sieh doch Riekchen, wie es ihr schmeckt; Du hast in Deinem Leben noch keinen Hunger gelitten, oder Du würdest besser für Brod sorgen.«
»Sorge für Brod, wenn der Verdienst schlecht ist und die Lebensmittel mit jedem Tage theurer werden!«
»Und dennoch kann Dein Verdienst nicht gering sein, wenn er Dir die Mittel giebt, in den Kellern Fleisch zu essen, Bier und Branntwein zu trinken und Karten zu spielen.«
Der Mann stieß als Antwort ein dumpfes Lachen aus.
»Sage mir wenigstens, wie Du Dein Geld verdienst und verdienen willst, und ich bitte den gütigen Herrn, daß er Dir Arbeit verschafft.«
Der Mann lachte wieder unheimlich; plötzlich aber färbte sich sein Gesicht braunroth und heftig rief er:
»Weib, was kümmert's Dich, wo ich mein Geld hernehme, seit Du auf dem Rücken liegst und selbst nichts verdienst? Aber merke Dir's, der Doctor braucht gar nicht zu wissen, daß Du noch einen Mann hast! Hörst Du, Rieke?« rief er darauf dem erschreckt zusammenfahrenden Mädchen zu, »wenn der fremde Herr Dich nach Deinem Vater fragt, so sagst Du, der sei seit Jahren todt; verstanden?«
Das Kind nickte ängstlich.
»Machst Du Deine Sache gut, bringe ich Dir ein neues Halstuch und ein Paar Strümpfe mit,« fügte er darauf mit milderem Ausdruck hinzu, und dann richtete er seine Worte wieder an die kranke Frau:
»Also Dein Mann ist seit Jahren todt, vergiß das nicht, es wird Dir's doppelt einbringen.«
»Damit Du es uns wieder nehmen kannst.«
»Schweig!« rief der Mann, heftig auffahrend, aus, und zugleich hob sich die geballte Faust, als ob er die in derselben befindliche Pfeife nach der Kranken habe schleudern wollen. »Wenn ich mir von dem Gelde des Doctors etwas Tabak und Branntwein kaufte, so ist das kein Unglück; wäre ich nicht so niederträchtig abgebrannt, daß ich schon heute bei einem Freunde zur Nacht essen mußte, würde ich es nicht gethan haben ...«
»Wir hätten nicht einmal ein Brodrinde gehabt.«
»Das wäre allerdings schlimm gewesen,« antwortete der Gauner, indem er einen halb bedauernden, halb zornigen Blick auf das Mädchen warf; »aber nun ist ja die größte Noth abgewendet, Ihr werdet satt gemacht, warm ist es auch, und Du hast daher keinen Grund, mich zu einer That zu reizen, die vielleicht nicht wieder gut zu machen wäre.«