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Collocini löste sich aus der Gruppe, begrüßte Frattini höflich und begann die Herren reihum vorzustellen. Als er bei Dal Fiesco ankam, lächelte die Frau.
»Wir hatten bereits einmal das Vergnügen. Guten Morgen, Capitano. Sie erinnern sich an den Raub des Perugino-Gemäldes?«
»Wie könnte ich den Fall je vergessen!«, antwortete Dal Fiesco.
»Wir haben uns meines Wissens damals darauf geeinigt, dass wir beide unseren Anteil daran hatten, dass das Bild wiederbeschafft wurde«, erklärte Frattini mit einem Zwinkern.
»So ist es: Ohne Sie hätten wir das Gemälde nie wieder gesehen«, bestätigte Dal Fiesco.
An dieser Stelle unterbrach Collocini die beiden und kniff die Augen zusammen. »Dann wollen wir alle hoffen, dass Sie beide auch diesmal so erfolgreich sind. Nicht auszudenken, wenn die ›Anbetung der Könige‹ verschwunden bliebe: für das Opificio delle Pietre Dure, für die Uffizien und für die Kunstwelt.«
»Und für die AEIOU! Bei allem Respekt, aber auch wir als Versicherung würden einen enormen Schaden davontragen«, gab Frattini zu bedenken.
»Natürlich, natürlich«, beschwichtigte Collocini.
»Machen wir es doch so, dass Sie sich gleich an mich dranhängen, Signora Frattini«, drängte Dal Fiesco. »Dann erfahren Sie alles aus erster Hand. Signore Bruzzo und Signore Collocini, mit Ihnen beiden machen wir den Anfang.«
Bei Brigadiere Donati, der stets in seiner Näher stand, erkundigte sich Dal Fiesco noch schnell über die Fortschritte bei den Ermittlungen: »Die Kollegen, die sich die Überwachungskameras zu Gemüte führen sollen, sind schon am Weg?«
»So ist es«, erwiderte der dunkelhaarige Jungfamilienvater.
»Und die Kulturschützer sind auch informiert?«, wollte Dal Fiesco noch wissen.
»Ja, sie sollten in spätestens 15 Minuten hier sein.«
»Gibt’s schon etwas Neues von den Kollegen von der Spurensicherung oben in der Werkstatt?«
»Capitano! Die sind doch erst seit einer Viertelstunde an Ort und Stelle«, warf Donati ein, obwohl ihm durchaus bewusst war, dass Dal Fiesco mit seinen stakkatoartig vorgetragenen Fragen vor allem zum Ausdruck bringen wollte, dass er alles im Griff habe.
»Bevor wir loslegen und möglicherweise in die falsche Richtung galoppieren: Können Sie für Ihren Nachtportier, Giovanni Fiore, die Hand ins Feuer legen?«, begann Dal Fiesco mit der Befragung. Sofort protestierte Chefportier Bruzzo entschieden: »Diese Spur können Sie gleich wieder vergessen. Fiore ist seit sieben Jahren bei uns, absolut integer und sehr verlässlich. Aber von mir aus: Wecken Sie ihn auf! Holen Sie ihn aus dem Bett!«
Der von der Situation vollkommen überforderte Poletti war nicht weniger erbost: »Capitano, aus meiner Sicht verlieren wir hier Zeit mit sinnlosen Verdächtigungen!«
»Direttore Poletti, ich muss Sie das fragen. So gut wie bei jedem zweiten Überfall auf einen Geldtransporter sind die Fahrer auf die eine oder andere Art involviert. Wir müssen einfach in alle Richtungen ermitteln«, blieb Dal Fiesco gelassen. »Und noch etwas würde mich brennend interessieren: Kommt es öfter vor, dass man Ihnen südamerikanische Würgeschlangen ins Büro liefert? Und warum sind Sie nicht gleich stutzig geworden, als Sie eine Kiste mit einer Schlange zugeschickt bekommen haben? Als kaufmännischer Direktor eines Unternehmens, das auf die Restauration von Kunstgegegenständen spezialisiert ist, haben Sie ja wohl nicht sehr oft mit lebenden Schlangen zu tun, oder liege ich da falsch?«
Der kaufmännische Direktor Poletti atmete tief durch und faltete seine Hände.
»Capitano, Sie haben recht. Es ist ungewöhnlich, dass man mir eine Kiste mit einer Schlange ins OPD liefert. Aber ansonsten werden mir laufend Pakete geschickt. Für mich war die Geschichte mit der Schlange in dem Moment abgehakt, als in der Kiste keine Schlange war. Ich war am gestrigen Tag in erster Linie mit der Delegation aus China beschäftigt. Wir stehen kurz vor dem Abschluss eines lukrativen Deals mit den Chinesen. Die wollen einerseits, dass wir ihnen bei der Restaurierung von Gemälden zur Hand gehen, und andererseits, dass wir ihnen beim Neuaufbau ihrer Restaurationswerkstätte mit Know-how zur Seite stehen. Angesichts der zu erwartenden Zusatzeinnahmen von mehreren Millionen Euro bringt mich eine Babyschlange nicht so schnell aus dem Konzept. Ich wollte mich heute damit beschäftigen, wer mir eine Kiste mit einer Schlange geschickt hat, und vor allem warum. Aber heute haben sich die Ereignisse, wie Sie wissen, überschlagen.«
»Gutes Stichwort: Signore Bruzzo und Direttore Collocini, schildern Sie uns bitte in aller Breite, was sich seit gestern Mittag zugetragen hat«, wandte sich Capitano Dal Fiesco den anderen beiden zu.
Die Versicherungsermittlerin Frattini und Brigadiere Donati befüllten derweil eifrig die Seiten ihrer Notizbücher, während Bruzzo und Collocini abwechselnd die Ereignisse der vergangenen 20 Stunden wiedergaben. Nur einmal deutete Dal Fiesco zwischendurch an, dass er kurz telefonieren müsse, und verließ Collocinis Büro. Nach wenigen Minuten war er wieder zurück, und sechs Kilometer Luftlinie entfernt setzte sich ein Seat Leon mit zwei Polizeibeamten in Bewegung, die nachsehen sollten, ob der Nachtportier Fiore tatsächlich in seiner Wohnung schlief.
Chiara Frattini hatte der von Collocini und Bruzzo abwechselnd vorgetragenen Schilderung der Ereignisse andächtig gelauscht und nur einmal eine Zwischenfrage gestellt: Ob man noch genauer auf das Aussehen des vermeintlichen Mitarbeiters von Mondo Animali eingehen könne, der anscheinend seelenruhig mit einem der berühmtesten Gemälde der Welt durch den Vordereingang entschwunden war. Chefportier Bruzzo hielt übers Telefon kurz Rücksprache mit seinem Kollegen Gasperini, aber auch der konnte nur eine vage Personenbeschreibung abgeben: Recht groß sei er gewesen, mit dunklen, vollen und halblangen Haaren, einem dichten Schnauzbart und einem Bäuchlein. Und eine leicht abgedunkelte Brille sowie eine Mondo-Animali-Kappe und einen grünen Overall habe er getragen. Unabhängig davon sei alles sehr schnell gegangen, ertönte Gasperinis Stimme durch das Mobiltelefon.
»Fragen Sie ihn, ob der Mann einen ungewöhnlichen Akzent hatte«, bat Frattini den Chefportier, der die Frage eilends weitergab.
»Wie gesagt, es ging alles so schnell, ich war erst ein paar Minuten hier«, ließ sich Gasperini vernehmen. »Er hat ganz normal gesprochen. Und sehr viel hat er ja nicht gesagt. Da ist mir nichts aufgefallen.«
EIN HERBER VERLUST FÜR DIE KUNSTWELT
Capitano Dal Fiesco und Brigadiere Donati von der Polizei, Chiara Frattini von der Versicherungsgesellschaft AEIOU, Chefportier Bruzzo sowie Collocini und Poletti aus der Chefetage des Opificio delle Pietre Dure machten sich gemeinsam auf den Weg in die Restaurationswerkstatt. Am Eingang wurden sie von einem der drei Mitarbeiter der Spurensicherung höflich, aber bestimmt gebeten, vor der Werkstatt zu warten, bis ihre Arbeit beendet war. Als Dal Fiesco zum Protest ansetzte, erwiderte der Beamte im Schutzanzug lapidar:
»Bis jetzt haben wir gar nichts. Wer auch immer hier am Werk war, hat extrem sauber gearbeitet. Domenico, sei so gut und gedulde dich noch fünf Minuten. Dann könnt ihr hereinkommen.«
Dal Fiesco drehte sich resignierend zu Donati um, kam aber nicht dazu, ihn zu fragen, wo denn eigentlich die Kollegen vom Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale geblieben seien, da in diesem Augenblick der Riesenschlangenexperte Alessio Bianchi mit den zwei Mitarbeitern der Florentiner Tierrettung um die Ecke bog.
»Hier geht es zu wie in einem Taubenschlag«, raunte Dal Fiesco Donati zu.
Dieser lächelte säuerlich und nickte.
»Na, schon etwas gefunden?«, fragte Bruzzo in Richtung Bianchi.
»Nein, nichts. Aber ich habe auch kaum Anhaltspunkte, und das Gebäude ist riesig. Boas sind dämmerungs- und nachtaktiv. Tagsüber ziehen sie sich in Hohlräume zurück. Wenn sich hier im Gebäude tatsächlich eine Boa befindet und sie nicht nach draußen entwichen ist, dann finden wir sie am ehesten in der Nacht, denn irgendwann muss die Schlange Nahrung aufnehmen. Und das ist dann unsere Chance.«
Deutlich leiser, mit einem Fingerzeig in Richtung Dal Fiesco und Donati, flüsterte Bianchi dem Chefportier noch augenzwinkernd zu: »Aber wer weiß, vielleicht liefert mir ja die Kavallerie den entscheidenden Hinweis.«
»Wohl kaum«, meinte darauf Bruzzo, ebenfalls mit gedämpfter Stimme. »Die Herren jagen nicht die Schlange, sondern sind hinter einem Kunstdieb her.«
Und dann klärte Bruzzi Bianchi in wenigen Sätzen auf, welches noch viel folgenschwerere Problem ihn und die Chefriege aktuell beschäftigte.
»Dann werde ich mich mal bemühen, dass ich den Herren nicht in die Quere komme und ihnen die Boa vom Leibe halte.« Bianchi strich sich über den Dreitagesbart und machte sich wieder an die Arbeit.
In der Werkstatt waren die drei Spurensicherer mittlerweile am Gehen. Man werde die wenigen Erkenntnisse in einem Bericht zusammenfassen und am Nachmittag übermitteln, erklärte der Beamte, der zuvor Capitano Dal Fiesco um Geduld gebeten hatte und sich den anderen nun als Davide Carbone vorstellte.
»Wir haben kaum verwertbare Fingerabdrücke gefunden. Und auch sonst haben wir wenig bis nichts, was Aufschluss über den Täter geben könnte. Das Bild wurde professionell aus dem Rahmen genommen, der Farbdruck professionell eingespannt. Auch auf dem Fußboden gibt es keine Spuren. Wir werden die Fingerabdrücke durch die Datenbank jagen. Dann wissen wir mehr, aber ich nehme an, dass die Fingerabdrücke jene der Mitarbeiter vor Ort sind. Alles andere würde mich wundern. Was die eingeschlagene Scheibe und die tote Maus anbelangt, weiß ich noch nicht, was ich davon halten soll: Schlägt eine Schlange eine Scheibe ein, um eine Maus zu fangen, die sie dann liegen lässt? Wohl eher nicht. Wir haben die Maus jedenfalls mitgenommen und lassen sie untersuchen.«
Davide Carbone und sein Spurensicherungsteam hatten kaum die Werkstatt verlassen, da läutete Direttore Coloccinis Mobiltelefon. Es war Gasperini von der Portiersloge, der ankündigte, dass Giuseppi Ferro, der Direktor der weltberühmten Uffizien, in wenigen Augenblicken in der Restaurationswerkstätte erscheinen werde. Und er wirke nicht sehr entspannt. Coloccini lockerte seinen Krawattenknoten und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Aber statt ein Donnerwetter loszulassen, machte sich Uffizien-Direktor Ferro nach einer raschen Vorstellung daran, den Anwesenden so viel wie möglich über das geraubte Gemälde zu erzählen, wohl wissend, dass sich der Fahndungserfolg bei einem Kunstraub am ehesten dann einstellt, wenn man die Ermittlungen schnell aufnimmt und seine Fühler in alle möglichen und unmöglichen Richtungen ausstreckt.
»Die ›Anbetung der Könige‹ war einer der ersten größeren Aufträge für den noch jungen Leonardo da Vinci«, eröffnete der weißhaarige Ferro seinen Monolog und zog eine schallplattengroße Farbkopie des Werkes aus seiner Sakkotasche. »Das Gemälde, das den Altar der Kirche San Donato a Scopeto vor den Stadttoren von Florenz schmücken hätte sollen, wurde nie fertiggestellt. Die Mönche des Augustiner-Klosters betrauten den damals 27-jährigen Da Vinci, ich glaube, es war 1497, damit, ein rund zweieinhalb Meter langes und ebenso breites Bild mit dem damals geläufigen Thema zu malen. Triebfeder hinter der Beauftragung war übrigens Leonardos Vater, Ser Piero di Antoni da Vinci, der in Florenz als Notar tätig war. Leonardo nahm die ›Anbetung der Könige‹ mit großem Elan in Angriff: Eine ganze Reihe von Skizzen, die in namhaften Museen – unter anderem im Louvre – ausgestellt sind, zeugen von der intensiven Vorbereitung auf das Gemälde. Aber: Es kam nie zur Fertigstellung des Bildes. Ich will jetzt nicht auf die Details eingehen. Nur so viel: Leonardo wollte weg aus Florenz und übersiedelte nach Mailand, wo er fortan für Lodovico Sforza, den Herzog von Mailand, arbeitete. Die ›Anbetung der Könige‹ blieb in halbfertigem Zustand zurück: als monochrome Ölzeichnung, mit teilweise sehr detailliert ausgeführten, teils aber auch nur grob skizzierten Figuren sowie architektonischen Elementen im Hintergrund.«
Brigadiere Donati war der Erste, der es wagte, den Direktor der Uffizien in seinem Redeschwall zu unterbrechen: »Aber es gibt doch sicher berühmtere Gemälde von Leonardo da Vinci, oder? Warum hat es der Dieb auf genau dieses abgesehen? Warum stiehlt er nicht eines, das schon fertig ist?«
Ferro verdrehte die Augen und wandte sich vorwurfsvoll an Coloccini: »Zuallererst möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass Kunstobjekte im Opificio delle Pietre Dure anscheinend ungleich weniger gut geschützt und weniger gut bewacht sind als in unserem Haus. Es ist unvorstellbar, dass jemand aus den Uffizien mit einem Gemälde unterm Arm hinausspaziert …«
Direttore Collocini wollte dies keinesfalls auf sich beruhen lassen und warf protestierend ein: »Sie wissen genau, dass das Ganze eine Verkettung unglücklicher Umstände ist. Niemand kann ins Opificio delle Pietre Dure hineinspazieren und Kunstobjekte einfach so mitnehmen. Dagegen verwehre ich mich!«
»Die Umstände werden noch zu klären sein, und vor allem hoffe ich, dass wir die ›Anbetung der Könige‹ bald wieder in Händen halten werden. Unser Ruf steht auf dem Spiel. Wir sind schließlich unseren Sponsoren gegenüber verpflichtet. Was meinen Sie, was derartige Katastrophen für das Spendenaufkommen bedeuten?«, verschärfte Ferro seinen Ton.
Nach einem kurzen »Direttore!« aus dem Munde von Capitano Dal Fiesco kehrte Uffizien-Direktor Ferro wieder zu seinen Ausführungen über das entwendete Gemälde zurück.
»Wenden wir uns wieder dem Gemälde zu: Die Darstellung der Anbetung der Heiligen Drei Könige ist ein traditionelles Sujet der christlichen Malerei. Das Besondere an diesem Bild von Leonardo ist der Aufbau. Vor Da Vinci wurden die Könige und Hirten in horizontaler Aufreihung nebeneinander angeordnet. Leonardo hat die Figuren aber um die Madonna als Mittelpunkt herumgruppiert. Die scheinbare Willkür der Verteilung findet einen Ausgleich in der strengen Dreieckskomposition, in der die Hauptfiguren eingebettet sind.«
Mit einem hörbaren Räuspern versuchte Capitano Dal Fiesco dem Direktor der Uffizien klarzumachen, dass zum gegebenen Zeitpunkt vor allem Fakten, die für die Ermittlungen relevant seien, im Vordergrund stünden. Ferro, der es nicht gewohnt war, sich an den Bedürfnissen anderer zu orientieren, warf Dal Fiesco dafür einen missbilligenden Blick zu.
»Dass die ›Anbetung der Könige‹ unvollendet ist, tut ihrer Bedeutung für die Renaissancekunst und darüber hinaus also keinen Abbruch. Das Bild ist typisch für die frühe Schaffensperiode Da Vincis. Und was hinzukommt: Eine Figur in dem Gemälde, ein junger Hirte, der rechts aus dem Bild blickt, ist das einzige bekannte jugendliche Selbstbildnis von Leonardo da Vinci. Wenn die ›Anbetung der Könige‹ nicht wieder auftaucht, wäre das ein unschätzbarer Verlust für die Uffizien, für Florenz, für Italien, für die abendländische Kultur und die gesamte Kunstwelt.«
Die Versicherungsermittlerin Chiara Frattini war die Erste, die sich nach Ferros Vortrag zu Wort meldete: »Sie haben recht. Der Verlust für die Kunstwelt ist unschätzbar. Sollte das Bild nicht mehr auftauchen, wäre das eine Katastrophe. Nicht nur für die Uffizien, für das OPD, für Florenz und für Italien, sondern auch für die AEIOU. Denn obwohl wir rückversichert sind, bringt uns dieser Diebstahl in eine brenzlige Lage. Noch befinden sich der oder die Täter in einem Umkreis von höchstens 300 Kilometer. Das Window of Opportunity, die ›Anbetung der Könige‹ zurückzubekommen, ist also noch sperrangelweit offen. Aber mit jeder Stunde schließt sich dieses Zeitfenster um ein paar Zentimeter. Da stellt sich mir vor allem eine Frage: Wo sind eigentlich die Kollegen vom Comando Carabiniere Tutela Patrimonio Culturale?«
»Die müssten jeden Augenblick da sein«, versicherte Brigadiere Donati. »Ich habe drei Minuten zuvor eine Textnachricht erhalten. Ein Capitano des Tutela Patrimonio Culturale befindet sich bereits in unmittelbarer Nähe des Opificio delle Pietre Dure.«
»Gut möglich, dass demnächst eine Lösegeldforderung der Täter eingeht. In diesem Fall wissen die Kollegen vom TPC am ehesten, wie man vorzugehen hat«, erklärte Dal Fiesco. »Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass ein gestohlenes Bild durch die Bezahlung eines angemessenen Lösegeldes wiederbeschafft worden ist.«
»Wie recht Sie haben, Capitano Dal Fiesco. Genau dafür sind wir da.«
Alle Augen richteten sich auf den schlanken Mitvierziger in Uniform, der eben in der Tür aufgetaucht war. »Ich darf mich vorstellen: Luca Lezzerini, Capitano des Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale, kurz TPC.«
Er schüttelte reihum die Hände. Mit Dal Fiesco und Donati war er ebenso bekannt wie mit Uffizien-Direktor Ferro. Während der Capitano des TPC in Stichworten auf den allgemeinen Stand gebracht wurde, winkte Dal Fiesco Brigadiere Donati zu sich.
»Habt ihr schon mit dem Nachtportier, diesem Giovanni Fiore, gesprochen?«
»Ja, die Kollegen meinen, sie hätten ihn aus dem Tiefschlaf geholt. Es weist nichts darauf hin, dass er mit dem Diebstahl etwas zu tun hat. Kann natürlich sein, dass er der Komplize des Täters ist, aber Sie haben ja gehört: Fiore ist unbescholten und arbeitet schon lange hier«, erwiderte der Brigadiere.
»Hm«, quittierte Dal Fiesco die Ausführungen Donatis. »Und was haben die Videos der Sicherheitskameras ergeben?«, bohrte er gleich weiter.
»Noch nicht viel. De Luca und Calabrese arbeiten sich in einem Aufenthaltsraum für das Personal hinter der Portiersloge durch das Videomaterial. Sie haben mit den Kameras vor und in der Restaurationswerkstatt sowie mit den Kameras im Eingangsbereich innen und außen begonnen. Anscheinend wusste der Täter ganz genau, wo die Kameras postiert sind. Man sieht bloß Schatten vorbeihuschen. Nicht mehr. Nur in dem Moment, als der Mann mit dem Mondo-Animali-Outfit und der vermeintlichen Schlangenfalle vor der Portiersloge auftaucht, ist er etwas länger im Bild. Aber er hat seine Kappe so tief ins Gesicht gezogen, dass man nicht wirklich viel erkennen kann«, schloss Donati. »Der wusste, was er tut …«
Donatis Mobiltelefon vibrierte. Der Brigadiere nahm das Telefongespräch entgegen.
»Guten Morgen, Carabinere Pinardi, was habt ihr?«
Ein Lieferwagen von Mondo Animali sei um 7.55 Uhr mit einer der Verkehrskameras in Höhe der Autobahnabfahrt Firenze Nord in Richtung Bologna erfasst worden, erfuhr Donati.
»Ein erster Anhaltspunkt«, schöpfte Capitano Dal Fiesco Hoffnung und strich sich über den Kopf. »Schreib den Lieferwagen bitte im Umkreis von 300 Kilometer zur Fahndung aus. Und frag bei Mondo Animali nach, ob ihnen ein Lieferwagen abgeht. Unabhängig davon sollen die Kollegen von der Autobahnpolizei jeden Mondo-Animali-Lieferwagen inspizieren, der ihnen unter die Augen kommt. Ich gehe zwar davon aus, dass der Täter längst das Fahrzeug gewechselt hat, aber vielleicht finden wir in dem Wagen Hinweise.«
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Marcello, haben die Kollegen von der Spurensicherung ihren Bericht schon geschickt«, erkundigte sich Capitano Dal Fiesco bei Brigadiere Donati, während der gesamte Tross von Collocinis Büro wieder in Richtung Restaurationswerkstätte marschierte.
»Nein, noch nicht«, erklärte Donati. Wie sollten sie denn auch – Carbone und sein Team hatten den Ort des Geschehens doch erst vor 30 Minuten verlassen. Ungeduld bringt uns jetzt auch nicht weiter, dachte Donati bei sich, unterließ es aber, seinen sichtlich angespannten Chef mit dieser Lebensweisheit zu konfrontieren. Just in dem Moment läutete sein Mobiltelefon erneut. Die Kollegen von der Autobahnpolizei wollten wissen, was sie denn in dem Lieferwagen von Mondo Animali, der auf der Autobahn auf der Höhe von Pistoia wenige Autolängen vor ihnen in Richtung Lucca unterwegs sei, erwarte.
Brigadiere Donati beschränkte sich in der Schilderung der Umstände auf das Notwendigste: »Kurz gesagt geht es um einen Kunstraub. Wir vermuten in dem Lieferwagen ein wertvolles Renaissancegemälde, das bei einem etwaigen Einsatz keinesfalls Schaden nehmen darf. Versuchen Sie, den Wagen anzuhalten, ohne dass es zu einem wie auch immer gearteten Unfall kommt. Zwei Kollegen vom Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale machen sich in dieser Minute auf den Weg. Und halten Sie uns bitte auf dem Laufenden.«
Luca Lezzerini von der Carabinieri-Dienststelle zum Schutz des italienischen Kulturerbes verließ das Opificio delle Pietre Dure im Laufschritt und deutete dem noch immer telefonierenden Donati per Fingerzeig, dass man per Mobiltelefon in Kontakt bleiben solle. Fünfundzwanzig Minuten – so schätzte Lezzerini – werde er trotz Blaulicht und Sirene bis Pistoia im Nordwesten von Florenz schon benötigen. Wäre doch zu schön, wenn man das Gemälde sofort seinem Besitzer zurückbringen könnte. So ganz wollte Lezzerini aber nicht daran glauben: Zu professionell waren der oder die Täter bisher vorgegangen. Sie würden doch nicht so einfallslos sein und stundenlang mit dem Fluchtauto durch die Gegend fahren? Vielleicht war das zweite Fluchtauto nicht am verabredeten Ort gewesen. Vielleicht hatte es mit dem zweiten Wagen eine Autopanne gegeben. Auch Kriminelle waren schließlich nicht davor gefeit, dass eine Zündkerze den Geist aufgab oder die Batterie ihr Leben aushauchte. Beim Alfa Romeo Giulia Quadrifoglio am Eingang zum Opificio delle Pietre Dure angekommen, schwang sich Lezzerini auf den Beifahrersitz. Neben ihm hatte wenige Sekunden davor Brigadiere Vincenzo Corridori Platz genommen, das Blaulicht am Dach des 150 PS starken Boliden platziert und die Sirene eingeschaltet. Der Alfa brauste los, und da Corridori ein guter und sicherer Fahrer war, rasten die beiden schon nach wenigen Minuten auf der A11 dahin. Noch hatten die Kollegen von der Autobahnpolizei keinen Zugriff vermeldet, schließlich galt es nicht nur, den Lieferwagen und dessen Inhalt zu schützen, sondern auch Unfälle auf der Autobahn zu vermeiden.
»Eine Zivilstreife hat sich unmittelbar vor dem Lieferwagen eingereiht. Der Fahrer des Vans, der übrigens keine Mondo-Animali-Uniform trägt, schöpft diesbezüglich also sicher keinen Verdacht«, erklärte Vice Brigadiere Bertini via Funk: »Und wir sind ungefähr fünf Autos hinter dem Fahrzeug und warten auf einen günstigen Zeitpunkt. Mag sein, dass uns der Fahrer gesehen hat, muss aber nicht sein. Nach der Ausfahrt nach Pistoia werden wir aller Voraussicht nach zuschlagen, also in rund drei bis fünf Minuten.«
»Sehr gut«, lobte Lezzerini: »Wenn Sie das Fahrzeug gestoppt haben und der Fahrer in Gewahrsam ist, stellen Sie sicher, dass niemand im Laderaum ist. Aber betreten Sie den Van unter keinen Umständen und fassen Sie um Gottes willen nichts an. Es handelt sich um ein Kunstwerk von sehr hohem Wert. Und halten Sie uns bitte über alle Entwicklungen auf dem Laufenden.«
Das Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale, eine Sektion im italienischen Kulturministerium zum Schutz des nationalen Kulturerbes, hatte sich seit seiner Gründung im Jahr 1969 nicht nur national, sondern auch international einen Namen gemacht, etwa bei der Ausbildung von Polizei- und Zollbeamten in Ländern, die eine ähnliche Institution aufbauen wollten. Erst kürzlich hatte Lezzerini einen Vortrag über die Arbeit des TPC vor albanischen Kollegen gehalten. Vordringlichste Aufgabe des TPC war es, illegal exportierte oder in ausländischen privaten Sammlungen und Museen befindliche italienische Kulturgüter nach Italien zurückzuführen sowie die illegale Ausfuhr von italienischen Kulturgütern aus Italien zu verhindern.
Eineinhalb Kilometer nach der Autobahnausfahrt nach Pistoia erfolgte schließlich der Zugriff der Autobahnpolizei: Die Zivilstreife drosselte auf der vierspurigen Autobahn unmittelbar vor dem Mondo-Animali-Van die Geschwindigkeit. Das Einsatzfahrzeug der Autobahnpolizei hatte sich rechts neben dem Van eingereiht, um dem Lieferwagen den Weg zu versperren. Blaulicht und Sirene waren mittlerweile eingeschaltet. Die drei Fahrzeuge wurden immer langsamer und kamen schließlich komplett zum Stillstand. Plötzlich öffnete sich die Fahrertür, ein Mann im Jogginganzug sprang aus dem Wagen. Fast zeitgleich wurde die Beifahrertür aufgerissen, und ein bärtiger Mann in Shorts und T-Shirt setzte zur Flucht an. Der Mann im Jogginganzug rannte in Fahrtrichtung davon und wurde wenige Meter nach seinem Ausstieg von einem Beamten der Zivilstreife zu Boden gerissen. Der Bärtige lief gegen die Fahrtrichtung und kletterte flink über die Mittelleitschienen. Lautes Hupen und quietschende Reifen begleiteten den Flüchtenden, während er sich Fahrspur um Fahrspur auf die andere Seite der Autobahn vorkämpfte. Vice Brigadiere Giuliano Bertini von der Autobahnpolizei hatte die Verfolgung aufgenommen, musste aber aufpassen, nicht überfahren zu werden, während er den Flüchtenden im Auge behielt. In der nächsten Sekunde stieg auf dem Pannenstreifen der A11 Richtung Florenz ein beherzter Autofahrer aus einem Toyota Van aus und stellte sich dem Flüchtenden entgegen. Er vermochte ihn zwar nicht zu stoppen, aber doch so weit abzulenken, dass Bertini sich auf den Mann stürzen konnte.