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Wenige Minuten später saßen die beiden Verdächtigen bereits in Handschellen im Polizeiauto, und vier Polizeibeamte – zwei in Zivil, zwei in Uniform – postierten sich mit gezückten Dienstwaffen vor der Tür zum Lieferraum des Vans. Vorsichtig öffnete einer der Polizisten die Tür. Der Van war, abgesehen von ein paar Befestigungsgurten und zwei Wolldecken, leer. Nach einer kurzen Schrecksekunde funkte Bertini die Kollegen vom TPC an.
»Die gute Nachricht ist, dass wir den Van gestoppt und die zwei Insassen verhaftet haben. Die schlechte Nachricht ist, dass sich in dem Van kein Gemälde befindet. Bis sie hier sind, knöpfen wir uns mal die zwei Burschen aus dem Van vor. Wir haben den Van übrigens nur geöffnet und hineingeschaut, aber sonst nichts angefasst. Das überlassen wir den Kunstprofis.«
Lezzerini atmete tief durch.
»Trotzdem, gute Arbeit. Ich glaube, wir sehen schon den Rückstau, den ihr verursacht. Wir fahren am Pannenstreifen zu euch vor.«
Beim Fahrer und beim Beifahrer des Mondo-Animali-Vans handelte es sich, wie sich schnell herausstellte, um zwei Autostopper, die auf Höhe der Autobahnraststation Firenze Nord einen Mondo-Animali-Mitarbeiter dabei beobachtet hatten, wie er den Lieferwagen abgestellt, ein großes Paket entnommen, dieses in einen weißen Van umgeladen und den Autoschlüssel schließlich in einen Mülleimer versenkt hatte. Mit dem Gemäldediebstahl hatten sie, wie es aussah, nichts zu tun. Sie hatten wohl bloß die Gunst der Stunde genutzt, die Schlüssel aus dem Mülleimer geholt, und wollten eine Spritztour in Richtung Mittelmeer unternehmen. Wie der weiße und fensterlose Van, mit dem der Mondo-Animali-Mann weitergefahren war, genau ausgesehen hatte, konnten die beiden nicht sagen. Weder die Marke noch das Modell und schon gar nicht das Kennzeichen hatten sie sich gemerkt.
»Und was konnten die zwei über den Mann sagen?«, wollte Lezzerini wissen.
»Nichts, was wir nicht auch schon wissen: Recht groß, Mondo-Animali-Kluft, Schnauzbart, Wuschelkopf«, antwortete Bertini.
»Große Hilfe sind uns die zwei also nicht. Außerdem haben sie eventuelle Spuren in der Fahrerkabine verwischt«, knurrte Lezzerini. »Wir lassen jetzt mal den Mondo-Animali-Van abschleppen und von der Spurensicherung untersuchen. Die zwei Typen gehören Ihnen. Wenn wir sie noch einmal vernehmen müssen, wende ich mich an Sie. Halten Sie die beiden also ein paar Tage fest. Jetzt sollten wir hier aber keine Zeit mehr verschwenden. Schließlich hat der Kunsträuber ohnehin schon einen Vorsprung von mehreren Stunden.«
ANGST VOR ALLEINGÄNGEN
Nachdem ihm von Brigadiere Donati mitgeteilt worden war, dass die Autobahnpolizei den Lieferwagen von Mondo Animali leer vorgefunden hatte, widmete sich OPD-Direktor Maurizio Collocini erstmals dem Gedanken an eine Presseerklärung. Collocini war bewusst, dass nun eine Heerschar an Wichtigtuern auf kommunaler, regionaler und staatlicher Ebene auf den Plan treten würde. Ihm graute vor den politischen Würdenträgern, die sich in einem Fall wie dem vorliegenden in den Vordergrund spielen und ihre mehr als entbehrlichen Meinungen von sich geben würden. Besonders ekelte ihn vor den Assistenten und Aktenträgern, die fast noch unsympathischer waren als die eigentlichen Politiker. Er hasste diese Nichtsnutze, die das Unglück anderer weidlich ausnutzten, um ihre Profilierungssucht zu befriedigen. Gemeinsam mit dem kaufmännischen Leiter Massimo Poletti und seinem Sekretär Cesare Rizzoli tüftelte Collocini nun seit 30 Minuten an einer geeigneten Kommunikationsstrategie.
»Wir müssen Capitano Dal Fiesco und Capitano Lezzerini davon überzeugen, dass von den Begleitumständen des Diebstahls so wenig wie möglich an die Öffentlichkeit dringt. Man hört und liest doch immer von ›ermittlungstaktischen Gründen‹, deretwegen man auf keine Details eingehen könne«, schlug Poletti vor. »Und vor allem müssen wir die anderen Beteiligten darauf einschwören: die gesamte Belegschaft, den Schlangenexperten Bianchi, Uffizien-Direktor Ferro, die Leute von Mondo Animali sowie die Dame von der AEIOU. Es geht jetzt um Schadensbegrenzung auf der ganzen Linie.«
Cesare Rizzoli, der zuvor im Büro von Collocini die Visitenkarten aller handelnden Personen eingesammelt hatte, schrieb dienstbeflissen mit und gelobte seinem Vorgesetzten, die notwendigen Schritte zu tun.
»Als Ersten holen Sie mir bitte Capitano Dal Fiesco ans Telefon«, gab Collocini seinem Assistenten mit auf den Weg.
Eine Viertelstunde später fand sich das Direktorenduo Collocini und Poletti wieder in der hell erleuchteten Restaurationswerkstätte des Opificio delle Pietre Dure ein. Capitano Dal Fiesco hatte Collocini im Telefongespräch versichert, dass es auch im Interesse der Polizei war, »den Ball so flach wie möglich zu halten«, wie er sich ausgedrückt hatte.
»Weder dem OPD noch den Uffizien und schon gar nicht den ermittelnden Behörden ist gedient, wenn die Institutionen der Lächerlichkeit preisgegeben werden«, hatte Direttore Collocini gegenüber dem Capitano betont. »Genauso wünsche ich mir von Ihnen, dass es zu keinerlei Alleingängen kommt. Und wollen wir gemeinsam hoffen, dass auch Signora Frattini nicht die Pferde durchgehen. Ich kenne sie nicht, aber bei einem Diebstahl dieser Größenordnung kann es schon mal sein, dass der eine oder andere in den Medien ganz groß rauskommen will, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Capitano Dal Fiesco verstand zwar, was Collocini meinte, teilte dessen Meinung allerdings nicht. »Ich glaube, im Fall von Signora Frattini können Sie einigermaßen unbesorgt sein. Aber ich gebe Ihnen recht: Man kann nie vorsichtig genug sein. Ich werde sie beobachten.«
»Cesare, wo sind eigentlich Signora Frattini und Signore Bianchi abgeblieben? Sind die beiden noch im Haus?«, wollte Direttore Collocini gleich darauf von seinem Sekretär Rizzoli wissen.
»Signora Frattini ist meines Wissens unten bei den Portieren und schaut sich die Videoaufnahmen der Sicherheitskameras an. Und Signore Bianchi hat das Haus vor rund einer Stunde verlassen. Die Transportkiste von Mondo Animali hat er mitgenommen. Er wollte sie hier in Florenz in einem Labor untersuchen lassen. Und die beiden jungen Herren aus dem Tierheim sind auch schon weg. Sie stimmen sich aber mit Bianchi ab, und eventuell kommen sie heute um 18 Uhr wieder, um gemeinsam mit ihm Ausschau nach der Schlange zu halten. Natürlich ist es in hohem Maße wahrscheinlich, dass es nie eine Schlange gegeben hat – aber ganz ausschließen kann man es nicht, hat auch Bianchi gemeint. Von der Analyse der Transportkiste erwartet er sich weitere Anhaltspunkte.«
»Ok, danke, Cesare«, sagte Collocini, fixierte Poletti und raunte ihm zu: »Und wir zwei müssen jetzt bei Uffizien-Direktor Ferro zu Kreuze kriechen. Sonst bekommen wir von ihm nie wieder einen Auftrag. Sei so gut und schlage ihm vor, dass er sich morgen Mittag um 13 Uhr in der Cantinetta Antinori mit mir treffen möge.«
Zwei Etagen tiefer blätterte Chiara Frattini in der Besucherliste des Vortages und ließ sich von Chefportier Bruzzo erläutern, aus welchen Beweggründen jeder Einzelne in der Liste das Opificio delle Pietre Dure besucht hatte. Frattini lauschte aufmerksam und machte sich zu diesem oder jenem Besucher Notizen. Auf den ersten Blick erschien ihr – und da ging sie mit Bruzzo konform – nichts und niemand auffällig. Sämtliche eingetragene Besucher waren aus der Liste auch wieder ausgetragen worden.
»Gestern war eigentlich ein ganz normaler Tag, wenn man von der Lieferung der Boa constrictor absieht«, zuckte der korpulente Chefportier mit den Schultern. »Ins OPD wird ja alles Mögliche geliefert: Gemälde, Vasen, Möbel, Lampen, Skulpturen, Material für Restauratoren, Bücher, Unterlagen und natürlich auch mal eine Pizza oder Sushi. Aber schauen Sie sich ruhig auch die Besucherlisten vergangener Tage an! Die sehen ganz genau so aus. Ich kann da keine Abweichungen erkennen.«
Frattini dankte Bruzzo, erbat vom Chefportier lediglich eine Kopie der Besucherliste vom Vortag und gesellte sich zu den Carabinieri Gianni De Luca und Enrico Calabrese, die sich seit fast zwei Stunden mit den Überwachungsvideos beschäftigten: Aufzeichnungen vom Eingangsbereich innen und außen sowie Aufzeichnungen von der Etage, auf der sich die Restaurationswerkstätten befanden. Nach einem groben Scan der Videos im Schnelldurchlauf achteten De Luca und Calabrese nun in der Feinanalyse auf jedes Detail und drückten nur an jenen Stellen auf »Fast Forward«, wo offensichtlich gar nichts geschah. Das Hauptaugenmerk der beiden Carabinieri lag – und das war der erklärte Auftrag ihrer Vorgesetzten Dal Fiesco und Donati – auf den Abend- und Nachtstunden. »Findet heraus, ob jemand das Gebäude zwischen 18.00 und 22.40 Uhr über den Haupteingang betreten hat. Denn um 22.40 Uhr ging der erste Alarm beim Nachtportier ein«, lautete ihre Mission.
»Na, wie geht’s euch? Schon etwas gefunden?«, wollte Frattini von den beiden Jungpolizisten wissen, die ihre Uniformjacken und ihre Kappen abgelegt hatten.
»So richtig aufschlussreich war das jetzt noch nicht«, meinte Calabrese. »Aber ein paar Dinge sind doch interessant. Erstens: In der Transportkiste von Mondo Animali war sehr wohl etwas Lebendiges, und die Wahrscheinlichkeit, dass es eine kleine Schlange oder zumindest ein Tier mit einem langen, dünnen Schwanz war, ist sehr groß. In einer Einstellung ist ganz klar zu sehen, dass sich etwas aus der Kiste in Richtung Treppenhaus bewegt. Wenn ich es richtig verstanden habe, kommt der Schlangenexperte aus Rom heute Abend ohnehin noch einmal hierher. Zumindest kennen wir die Richtung, aus der der Gemäldedieb mitten in der Nacht in die Werkstatt gekommen ist. Es ist zwar nur ein undeutlicher Schatten, den man bei genauem Hinsehen erkennen kann, aber wenn man sich dort oben umsieht und dann noch einmal den Nachtportier interviewt, dann sollte man eruieren können, wo sich der Dieb versteckt hat. Und wenn man erst einmal sein Versteck gefunden hat, dann stößt man im Idealfall auch auf Spuren«, ereiferte sich Calabrese.
Dass er und De Luca vergleichsweise offen mit Chiara Frattini plauderten, hatte seinen Grund: Capitano Dal Fiesco hatte die beiden dahingehend gebrieft, dass man mit der Versicherungsdetektivin eng zusammenarbeiten solle, da sie sich erstaunlich gut in Kunstdiebe hineinversetzen könne.
»Wenn wir mit ihr kooperieren, wird sie auch mit uns kooperieren, und vor allem wissen wir dann immer, wo sie gerade ist und welche Spur sie gerade verfolgt«, hatte Dal Fiesco mit einem Augenzwinkern angemerkt.
EIN PERFEKTER ARBEITSPLATZ
Seit rund zehn Minuten starrten die beiden nun auf das 246 x 243 Zentimeter große Bild. Weder der Mann, der sich Francesco nannte, noch Gabriele Schillaci machten Anstalten, die feierliche Stille an diesem April-Abend zu stören. Bevor die beiden das Bild vorsichtig aus der Transportkiste genommen und auf die vorbereitete Staffelei gestellt hatten, hatte Francesco einen Chianti Classico Riserva aus Lamole geöffnet, zwei Gläser eingeschenkt, und die beiden hatten sich zugeprostet. Die unterschiedlichsten Gedanken schossen Schillaci durch den Kopf. Vor allem aber stellte er sich die Frage, was wohl seine Aufgabe in Zusammenhang mit dem weltbekannten Gemälde sein werde.
»So könnte die ›Anbetung der Könige‹ tatsächlich einmal ausgesehen haben«, meinte Schillaci schließlich. »Wer immer diese Kopie angefertigt hat, versteht etwas von seinem Handwerk, vor allem, weil er die längst fällige Restaurierung des Gemäldes vorweggenommen hat.«
»In der Tat«, erwiderte Francesco, dessen Blick sich noch immer nicht von Leondardo da Vincis Meisterwerk gelöst hatte. Er strahlte über das ganze Gesicht. Jeden Quadratmillimeter des Gemäldes schien er mit seinen glänzenden Augen abzutasten.
Seit zwei Stunden war Schillaci nun bereits vor Ort, wobei der schlacksige Kunststudent keine Ahnung hatte, wohin ihn Franceso denn nun eigentlich gebracht hatte. Ein paar Tage zuvor hatte dieser ihn mit unterdrückter Telefonnummer angerufen und erklärt, dass er ihn am 5. April pünktlich um neun Uhr Vormittag am Flughafen in Bologna abholen werde, dass er sich auf einen Aufenthalt von zumindest drei Monaten einstellen und sein Umfeld entsprechend von einem Forschungsaufenthalt in Südamerika informieren solle.
Als Schillaci dann zum vereinbarten Zeitpunkt mit seinem Koffer vor dem Ankunftsbereich des Flughafens von Bologna wartete, fuhr ein fensterloser weißer Lieferwagen vor. Francesco saß am Steuer des Vans, wies ihn an, vorne einzusteigen und sich anzuschnallen, und reichte ihm, nachdem sie losgefahren waren, eine Flasche Wasser zur Erfrischung. Wenige Minuten später hatte ihn die Müdigkeit übermannt. Das Nächste, woran er sich erinnern konnte, war Francesco, der vor der geöffneten Beifahrertür stand, ihn anstupste und sagte: »Signore, wachen Sie auf! Wir sind da.«
Instinktiv blickte Schillaci auf seine Armbanduhr und sah, dass fast zwei Stunden vergangen waren, seit er in Bologna in den Van gestiegen war. Er griff in seine Jackentasche nach dem Smartphone. Es war nicht mehr an seinem Platz.
»Keine Sorge, ich habe es Ihnen vorsorglich abgenommen. Sie bekommen es wieder«, beschwichtigte Francesco, der Schillaci beobachtet hatte, und half ihm gleich darauf mit dem Gepäck. Schillaci war zu müde, um zu protestieren. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das Tageslicht. Und schließlich hatte er noch ein zweites Mobiltelefon im Koffer.
Der Van parkte vor einem inmitten einer Gartenlandschaft gelegenen Haus, das – so erklärte ihm Francesco – in den nächsten Wochen seine Heim- und Arbeitsstätte sein würde. Schillacis Schlafzimmer lag im ersten Stock, gleich daneben befand sich das Badezimmer, und wenn er es richtig verstanden hatte, durfte er es sich auch in den unteren Räumen bequem machen, schließlich würde er das Haus für die Zeit seines Aufenthalts ganz alleine bewohnen.
»Richten Sie sich ein, verstauen Sie Ihre Sachen. In einer halben Stunde essen wir zu Mittag.« Und schon hatte Francesco die Fahrertür des Lieferwagens – eines Fiat Talento mit Hochdach – geschlossen, sich ans Steuer gesetzt und war davongebraust. Von dem Mittel, das man ihm offensichtlich verabreicht hatte, noch leicht benommen, blickte Schillaci dem weißen Van hinterher. Rund 20 Meter vom Haus entfernt, fuhr das Auto in eine Kurve und war wenige Sekunden später zwischen einigen Zypressen verschwunden. Exakt 30 Minuten danach stand hinter dem Haus auf einem hölzernen Gartentisch das Mittagessen bereit. Wie es dorthin gekommen war, wusste Schillaci nicht. Es war einfach da. Und es war gut.
Als Francesco wieder zurück war, aßen sie Panzanella und tranken Wasser und Weißwein – einen Capsula Viola von Antinori. Schillaci begann sich wohlzufühlen. Es war angenehm warm, und er hatte ein rundum gutes Gefühl. Allerdings fragte er sich langsam, welcher Auftrag nun eigentlich auf ihn wartete.
»Gemach, gemach, Signore Schillaci. Jetzt trinken wir noch einen Cappuccino, und dann zeige ich Ihnen Ihren Arbeitsplatz. Ich hoffe, dass er Ihnen gefallen wird. Und noch was: Bitte, bitte, verzeihen Sie meine kleinen Sicherheitsmaßnahmen. Sie werden sehen, dass sie zu Beginn einfach notwendig sind.«
Gabriele Schillaci war mit der Ausstattung des anscheinend eigens für ihn eingerichteten Ateliers mehr als zufrieden. Er hatte zwar seine eigenen Malereiutensilien mitgebracht, die würde er aber wohl gar nicht brauchen. Das im Keller seiner Unterkunft gelegene, über eine steinerne Treppe erreichbare Atelier ließ keine Wünsche offen: Mehrere mächtige Staffeleien waren aufgebaut, unzählige Farbtuben lagen bereit, Pinsel und Skalpelle in allen Größen harrten ihrer Verwendung. Francesco hatte an alles gedacht. An einer Wand stand ein Bücherschrank mit rund 40 Bänden einschlägiger Fachliteratur. Das Ganze erinnerte Schillaci an einen Malereibedarfsladen. Und wenn der Keller je modrig gewesen war, dann war ihm jetzt jegliche Muffigkeit ausgetrieben worden: Eine Klimaanlage sorgte für eine angenehme Temperatur, Abzugsrohre beförderten die verbrauchte Luft nach draußen, das Licht ließ sich stufenlos verstellen, und in der Ecke stand sogar eine Infrarotlampe für die Analyse verschiedener Farbschichten bereit. Hier würde es sich vorzüglich arbeiten lassen, überlegte Schillaci, die professionelle Ausstattung und die Aussicht auf das fürstliche Salär würden ihn über die paar Wochen in Einsamkeit und Abgeschiedenheit hinwegtrösten. Mit Francesco, den er für einen kunstsinnigen Experten und einen geradlinigen Zeitgenossen hielt, würde er gut auskommen, und dass dieser ihn eindringlich gebeten hatte, sich nur im Umkreis des Nebenhauses der Villa zu bewegen, bereitete ihm kein Kopfzerbrechen. Warum auch. Rund um das ihm zugewiesene Häuschen ließ es sich sicher gut leben, auch wenn es hier weder Fernseher noch Computer gab. Irgendwie kommt mir das alles wie ein bezahlter Urlaub am Land vor, schmunzelte Schillaci bei sich und schüttelte den Kopf. Francesco würde sich auf ihn verlassen können. Wieder und wieder vergegenwärtigte er sich dessen Worte:
»Signore Schillaci, malen Sie mir ein möglichst perfektes Abbild dieser Kopie der ›Anbetung der Könige‹! Ich will zwischen den beiden Bildern keinen wie auch immer gearteten Unterschied erkennen können! Überraschen Sie mich! Und lassen Sie sich ruhig Zeit.«
EINE KULTURELLE KATASTROPHE ERSTEN GRADES
Auftritten römischer Politiker blickt man in der toskanischen Hauptstadt ungefähr so freudig entgegen wie dem Antreten von Juventus Turin im Stadio Artemio Franchi, der Heimstätte des AC Florenz. Als um 14.10 Uhr der italienische Kulturminister Guido Mancini mit seiner Entourage am Aeroporto Amerigo Vespucci landete, waren die Vorbereitungsarbeiten für die eilig einberufene Pressekonferenz im Museum des Opificio delle Pietre Dure im Zentrum von Florenz, rund zehn Autominuten vom OPD in der Fortezza da Basso entfernt, voll im Gange. Acht Kamerateams waren bereits vor Ort. In dem repräsentativen Saal mit wunderschönen Intarsien hatten sich rund 35 Journalisten eingefunden. Am Rednerpult waren Dutzende Mikrofone platziert. Grüppchenweise standen die Journalisten beisammen und tuschelten über den möglichen Grund für die Pressekonferenz.
Dass es sich um eine Krise nationalen Ausmaßes handelte, war den Journalisten im Rahmen der Einladung erklärt worden, ebenso wie dass Kulturminister Mancini höchstpersönlich aus Rom anreisen werde. Beide Umstände sorgten für unterschiedlichste Spekulationen von Seiten der Medienvertreter: Die einen rechneten mit einem erneuten Wasserschaden und dem Verlust wertvoller Exponate im Keller des OPD-Museums, die anderen mutmaßten, dass man im Zuge der Restauration eines bekannten Gemäldes auf einen argen Kunstbetrug aufmerksam geworden war. Als unter lautem Quietschen eine Doppeltüre aufsprang, klemmten sich die Kameramänner hinter ihre Kameras, die Journalisten zückten ihre Schreibblöcke, die Tontechniker setzten ihre Kopfhörer auf. Es erschien, und nur als Erscheinung lässt sich der Auftritt des Ministers umschreiben, Guido Mancini, klein, dicklich und umweht von der Aura eines Intellektuellen. Flankiert wurde er von dem die ausgedruckte Rede in Händen haltenden Ministersekretär Michele Marchetti sowie OPD-Direktor Maurizio Collocini. Danach folgten, Sekundanten gleich, die ermittelnden Beamten Domenico Dal Fiesco von den Carabinieri und Luca Lezzerini vom Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale sowie, als oberster Repräsentant des Innenministeriums in Florenz, Colonello Andrea De Gennaro. Uffizien-Direktor Giuseppe Ferro betrat den Raum mit etwas Abstand, gesellte sich aber nicht zu den anderen, die sich rund um Minister Mancini gruppiert hatten, sondern stellte sich etwas abseits zu den Journalisten. Beachtet wurde Ferro dabei kaum. Alle Augen waren auf die fünf Herren gerichtet, die sich hinter den Mikrofonen aufgereiht hatten. Einzig Ministersekretär Marchetti stand etwas abseits und betätigte sich als Zeremonienmeister. Abrupt begrüßte er die Pressevertreter, dankte allen für ihr Erscheinen zur kurzfristig angesetzten Pressekonferenz und stellte, ohne auf Sinn und Zweck der Pressekonferenz einzugehen, der Form halber Kulturminister Mancini vor. Danach übergab er ohne weitere Erklärungen an seinen Chef, der mit ernster Miene und großem Gestus von einer »kulturellen Katastrophe ersten Grades« sprach und davon, dass »jetzt ganz Italien zusammenhalten« und man »alles unternehmen müsse, um ein beispielloses Verbrechen aufzuklären«. Als der Spannungsbogen dermaßen gestrafft war, dass selbst der abgebrühteste Journalist endlich wissen wollte, was denn nun überhaupt passiert sei, rückte der für seine melodramatischen Auftritte bekannte Minister mit der nackten Wahrheit heraus.
»Das bekannte Renaissancegemälde ›Die Anbetung der Könige‹ von Leonardo da Vinci wurde heute Nacht unter noch im Detail zu klärenden Umständen aus der Restaurationswerkstatt des Opificio delle Pietre Dure in der Fortezza da Basso in Florenz gestohlen. Der oder die Diebe haben sich anscheinend über Nacht in das OPD einschließen lassen und das Gemälde frühmorgens entwendet. Danach sind sie mit einem bereitstehenden Lieferwagen, wie es scheint, in Richtung Bologna geflohen.«
Dann ließ Mancini von seinem Sekretär einen Poster des berühmten Gemäldes ausrollen und hochhalten, und dieser versicherte den Journalisten auch gleich, dass in wenigen Minuten eine Presseinformation mit dem hochauflösenden Foto des Gemäldes per Mail an alle Anwesenden sowie alle relevanten Redaktionen in Italien verschickt werde. Bevor Minister Mancini an die anderen Redner übergab, nutzte er die ihm entgegengebrachte Aufmerksamkeit und wies noch einmal darauf hin, welch »dreistes Verbrechen« hier begangen wurde und dass man »kollektive Anstrengungen« unternehmen müsse, um des »einzigartigen Kunstschatzes aus der Hand des großen Meisters« wieder habhaft zu werden.
Nach dem groß inszenierten Auftritt des Ministers und während die Mikrofone für den nächsten Redner vorbereitet wurden, informierten einige Journalisten bereits hektisch ihre Redaktionen: Titelseiten mussten freigeschaufelt, die Nachrichtensendungen um 15 Uhr neu geplant werden. Minister Mancini stehe nach der Pressekonferenz selbstverständlich für kurze Einzelinterviews zur Verfügung, ließ Ministersekretär Marchetti noch wissen und betonte, dass die TV-Sender und Radiostationen dabei Vorrang haben würden.
In das Gemurmel der Printmedienvertreter mischte sich im nächsten Moment die Stimme von Colonello Andrea De Gennaro, dem obersten Exekutivbeamten der Stadt. De Gennaro beeindruckte mit mehr Sachlichkeit und weniger Pathos als sein Vorredner, erbat die Beteiligung der Bevölkerung bei der Aufklärung des Verbrechens und gab eine Hotline für Hinweise aller Art bekannt. Auch auf Anfrage waren ihm jedoch keine Details zum genauen Ablauf des Diebstahls zu entlocken. Dal Fiesco und Lezzerini wechselten während seiner Rede den Bruchteil einer Sekunde die Blicke: Auf De Gennaro war eben Verlass. Sein Hinweis auf »ermittlungstaktische Gründe« sollte primär den Druck von den Carabinieri und dem Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale nehmen, die nach ihm an die Reihe kamen. Niemandem war schließlich gedient, wenn Details rund um »Snakegate«, den Begriff hatte De Gennaro in der 25-minütigen Vorbesprechung geprägt, an die Öffentlichkeit gelangten. Wenn der Coup mit der Schlange zu früh nach draußen drang, bestand nämlich nicht zuletzt auch die Gefahr der Solidarisierung der Bevölkerung mit dem gewitzten Kunstdieb. Dal Fiesco war zwar bewusst, dass De Gennaro nicht der gewiefteste Polizeibeamte in der Geschichte von Florenz war, aber für delikate Angelegenheiten, wie das geschickte Aussteuern von Inhalten nach außen, war er eben eine absolute Top-Besetzung. Auch OPD-Direktor Collocini, der unmittelbar neben Dal Fiesco stand, war erleichtert. Wie mühelos De Gennaro die Formulierungen über die Lippen kamen, schoss es ihm durch den Kopf. Wenn man in derartigen Situationen mit Politikern zu tun hat, die nicht paktfähig sind oder ihre ganz eigene Agenda haben, können Karrieren und Unternehmen innerhalb weniger Sekunden vernichtet werden.
Direttore Collocini nutzte den ihm zugedachten Timeslot für eine kurze und präzise Vorstellung des Opificio delle Pietre Dure und einen Appell an die Öffentlichkeit, sich an der Suche nach der ›Anbetung der Könige‹ zu beteiligen und die kurz zuvor verlautbarte Hotline auch im leisesten Verdachtsfall zu nutzen. Auch Lezzerini und Dal Fiesco spulten ihre Auftritte souverän ab: Lezzerini berichtete vom Aufspüren des Mondo-Animali-Vans, ohne den Firmennamen zu erwähnen. Und Dal Fiesco betonte gegenüber den anwesenden Journalisten, dass im Fall von Kunstdiebstählen die Zeit eine ganz entscheidende Rolle spiele. Ein paar Fragen von Journalisten wurden noch zugelassen, dann wurde die Pressekonferenz für beendet erklärt.