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Valerie hatte der Szene aus einiger Entfernung zugesehen. Lorenz. Sie erkannte ihn sofort, seine große, schlanke, fast magere Gestalt; offensichtlich hatte er keinen Bauch angesetzt wie die meisten Männer seines Alters, aber sein früher dunkelblondes Kraushaar war ziemlich grau geworden. Sie hatte ihn schon seit Jahren nicht mehr getroffen. Nach ihrer Trennung vor, sie rechnete, etwa vor acht Jahren, hatten sie sich aus den Augen verloren. Und doch waren sie sich lange Zeit nahe gewesen. Vor ein paar Jahren waren sie sich zufällig über den Weg gelaufen. Das war wenige Monate nach dem Mord im FahrGut gewesen. Valerie hatte sich noch nicht wirklich von jenen Ereignissen erholt gehabt, aber sie war frisch verliebt in Beat und sie hatte sich gefreut, Lorenz anzutreffen. Aber er war kühl gewesen und hatte ganz reserviert getan. Hatte überhaupt nicht gefragt, wie es ihr ginge, dabei musste er doch aus den Medien erfahren haben, was ihr zugestoßen war. Offenbar wollte er wirklich gar nichts mehr mit ihr zu tun haben.
Deshalb zögerte sie jetzt. Sollte sie hinübergehen oder hier mit Seppli warten, bis die arme Angela abtransportiert und Lorenz gegangen war? Ach was, das wäre doch blöd. Sie war mit Streiff hier und hatte keinen Grund, sich zu verstecken. Und einen freundlichen Satz zu Angela würde sie sich wohl noch abringen können. Auch wenn ihr Verhalten denkbar unvernünftig gewesen war, war es nicht in Ordnung, dass sie so drangekommen war. Sie schlenderte mit ein wenig Herzklopfen zu dem Grüppchen.
»Hallo, Lorenz.«
Streiff zuckte zusammen. Stucki. Valeries Quacksalber. Ausgerechnet. Sie waren sich noch nie begegnet und Stucki hatte auch nie von der Affäre zwischen Valerie und ihm erfahren.
»Valerie!«, rief Stucki. Stand rasch auf und strahlte sie an. »So eine Überraschung. Schön, dich zu sehen. Gehts dir gut?«
Valerie nickte, ein wenig verwirrt und verlegen. Das waren ja völlig neue Töne. »Dir auch?«
»Ja, bestens. Aber du weißt, ein Arzt hat nie richtig frei.«
Ein Polizist auch nicht, dachte Valerie. Offenbar gerate ich immer an Männer, auf deren jederzeitige Einsatzbereitschaft die Welt nicht verzichten kann.
Sie kauerte bei Angela Legler nieder. »Hi, Angela. Tut mir leid, was da passiert ist.«
Das klang hölzern, sie wusste es. Aber mehr als ein unpersönliches Mitgefühl brachte sie für die Frau nicht auf.
Die lag jetzt still da, offenbar nicht mehr in der Stimmung, groß aufzutrumpfen. Sie war blass, ihre Wange blutverschmiert, die Frisur in Unordnung. Seppli schnupperte interessiert. Valerie riss ihn weg, bevor er etwa auf die Idee kam, Angela das Blut wegzulecken. Bei diesem Hund wusste man nie.
Glücklicherweise kam jetzt der Krankenwagen hergefahren, Stucki orientierte die Pfleger, die Angela Legler behutsam einluden.
»Sie ist übrigens Kantonsrätin.« Diese Anmerkung kam von Streiff. Valerie unterdrückte ein Lachen.
Die beiden jungen Pfleger sahen ihn empört an. »Wir behandeln alle Patientinnen und Patienten gleich«, erklärte der eine dezidiert. Dann fuhren sie weg.
Stuckis Handy flötete. »Na, ich muss«, sagte er, »habe heute Notfalldienst. Valerie, stehst du im Telefonbuch? Ich ruf dich mal an, okay?« Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte er sich das Handy ans Ohr und entfernte sich. Der Streifenwagen traf ein. Streiff informierte die beiden Beamten, die ohne Begeisterung ihre Notizbücher zückten und zu den Befragungen schritten.
Valerie und Beat sahen sich an. »Und dabei wollten wir doch nur einen gemütlichen Flohmarktbummel machen und einen Kerzenständer kaufen«, meinte Valerie.
»Und eine Kaffeemaschine«, ergänzte Beat.
Sie schauten sich um. Auf dem Flohmarkt ging es zu wie immer. Ein Gewusel von Menschen, die von Stand zu Stand flanierten, einander etwas zuriefen, feilschten, sich stritten, lachten, sich über einen gelungenen Kauf oder Verkauf freuten. Der Aufruhr schien vergessen, obwohl, da war sich Streiff sicher, er heute noch viel Gesprächsstoff abgeben würde. Aber wohl nicht, solange die Polizei vor Ort war. Streiff ließ seinen Blick nochmals über die Leute schweifen. Aber es gab keine Chance, den Steinewerfer zu entdecken. Der war sicher längst weg. Und verraten würde ihn hier keiner.
»Das ist das einzig Gute an der Sache«, stellte Valerie fest, »dass du heute kein lebensgefährliches Ding heimträgst. Wir kaufen dir nachher in einem Fachgeschäft eine Kaffeemaschine. Hier bleiben mag ich nicht. Für einen Kerzenständer schaue ich ein anderes Mal.«
»Das war jetzt also Lorenz«, sagte Beat.
»Ja. Stimmt, du kennst ihn ja gar nicht. Ist auch nicht nötig. – Ist was?«
»Nein, wieso? Hat sich enorm gefreut, dich zu treffen.«
»Sag mal, bist du eifersüchtig?«
»Nein. Das heißt, früher schon. Als du nach unseren Treffen immer zu ihm nach Hause gegangen bist.«
»Ach, das hast du aber damals gut verborgen. Komm, wir gehen ins Celia rüber und trinken eine heiße Schokolade. Ich friere. Komm, Seppli.«
Valerie hängte sich bei Beat ein und zog ihn über die Straße. Mit diesem Stucki hat sie also zusammengewohnt, dachte er. Sie fanden im Café einen Fensterplatz und bestellten Schokolade und Kaffee.
»Ein freier Samstag«, meinte Valerie, »es kommt mir vor, als ob ich Ferien hätte.«
»Wird dir im Winter nicht langweilig im Geschäft?«, fragte Beat.
»Nein. Ich bin froh, dass wir nicht mehr den Stress haben wie im Sommer. Aber ich habe trotzdem genug zu tun. Priska und ich können uns mehr um Alban kümmern. Und nächste Woche will ich mich ans Budget fürs nächste Jahr machen.« Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und schaute an Beat vorbei auf die Straße.
»Ich bin am Überlegen, ob ich Miniscooters ins Angebot nehmen soll. Oder ob ich wieder einmal ein Kinderfest veranstalten soll, um die Kindervelos und -anhänger mehr zu propagieren.«
Beat hörte gespannt zu. Valerie war eine gewiefte Geschäftsfrau. Sie war nicht der Typ, der sich auf den Lorbeeren ausruhte.
»Oder ich könnte«, fuhr sie fort, laut zu denken, »Sonderanfertigungen machen, zum Beispiel Räder für besonders große Männer. Das könnte ankommen, aber ich habe es noch nicht berechnet.«
Dann wandte sie sich ihm zu. »Und du? Ist dir nicht langweilig? Du hattest doch schon länger keinen richtig verzwickten Fall mehr. Bei den letzten paar Tötungsdelikten in der Stadt Zürich war es doch ziemlich schnell klar, wer es gewesen war. Du bräuchtest mal wieder einen richtig raffinierten Mörder, an dem du deine Hirnzellen messen kannst.«
Angela Legler betastete das dicke Pflaster, das an ihrer linken Schläfe klebte. Sie war eben erwacht, zwei Stunden hatte sie geschlafen. Ihr Kopf schmerzte ein wenig, aber nicht allzu stark. Am frühen Nachmittag war sie aus dem Spital entlassen worden. Sie hatte keine Gehirnerschütterung und auch sonst keine Verletzungen außer einer tüchtigen Schramme. Sie solle sich übers Wochenende schonen, hatte ihr die Ärztin geraten, dann könne sie am Montag wieder arbeiten. Angela stand auf und ging ins Badezimmer. Der Spiegel zeigte ihr ein etwas blasses Gesicht, ihre dunklen, kurzen Haare waren zerwühlt, sonst sah sie okay aus.
Aber innerlich fühlte sie sich nicht okay, ganz und gar nicht. Sie war aufgewühlt und wütend. Dass jemand es wagen konnte, sie anzugreifen! Sie, die Kantonsrätin Angela Legler! Was waren das für Zustände! Dieser Flohmarkt musste geschlossen werden, jetzt erst recht. Nicht nur Diebe und Hehler trieben sich da herum, sondern auch Gewalttäter; Leute, die sich der demokratischen Ordnung nicht fügen wollten. Aber ihre Erschütterung ging tiefer. Sie ganz persönlich war angegriffen worden, nicht nur die Politikerin, sondern die Person Angela Legler. Was hatte das zu bedeuten? Wurde ihre Autorität nicht anerkannt? Konnte man so mit ihr verfahren, weil sie eine Frau war? Sie hatte es zu etwas gebracht, sich durchgesetzt, und das würde sie sich nicht nehmen lassen. Sie ging ins Schlafzimmer zurück, setzte sich in den Sessel, der am Fenster stand, und schaute in den Garten hinaus. Der Apfelbaum hatte seine Blätter schon verloren, über der Stadt hing zäher Hochnebel.
Seit zwei Jahren war sie im Kantonsrat und war alles andere als eine Hinterbänklerin, sie hatte eine Position in der Fraktion und im Rat – und sie hatte eine gute Medienpräsenz. Es hatte sie jahrelang geärgert, dass sie nicht studiert, sondern nur eine kaufmännische Lehre absolviert, einen Beruf hatte, bei dem die Aufstiegschancen sehr beschränkt waren. Und Pfarrersfrau zu sein, sich gemeinnützig um die Schäfchen ihres Mannes zu kümmern, war nicht ihr Ding. Das hatte sie Fritz schon am Anfang ihrer Ehe klargemacht. Mit den Jahren war sie mehr und mehr unzufrieden geworden mit ihrem Leben und hatte mit Mitte 30 beschlossen, dass sich etwas ändern musste. Sie hatte Weiterbildungen erwogen, sich aber schließlich für die Politik entschieden. Es war gut gelaufen. Die CVP arbeitete daran, sich ein frauenfreundliches Image zu geben und eine energische, engagierte Newcomerin, die bereit war, sich in Dossiers zu knien, und auch auf einem Podium eine gute Figur machte, war willkommen. Man muss nur wollen, dachte sie, dann erreicht man auch etwas. Aber ein Steinwurf passte nicht in ihr Programm. Sie hatte zäh gearbeitet, sich ein parteiübergreifendes Netz von Kontakten geschaffen, sich profiliert. Man musste flexibel sein: hier kleine Kompromisse machen, dort sich knallhart durchsetzen. Mit den linken Frauen hatte sie zusammengespannt, als es um die Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs ging. Ein bürgerliches Thema hatte sie mit dem Vorstoß, den Flohmarkt zu schließen, besetzt. Mit dem Präsidium der AG KVK hatte sie sich im Umweltbereich gut positioniert. Aber dort wollte sie auch die Interessen von Wirtschaft und Gewerbe einbringen. Ein Spagat? Selbstverständlich, Politik war immer ein Spagat. Kritik, die in den Medien ab und an geäußert wurde, bestärkte sie. Sie verfolgte eben ihre eigene Linie. Der Vorfall von heute Morgen war der erste empfindliche Dämpfer in ihrer politischen Karriere. Das war eine Grenzverletzung, die es nicht geben durfte. War sie verwundbar? Ganz unvermutet tauchte dieser Gedanke auf. Er erschreckte sie und sie schob ihn rasch beiseite. Angela Legler war nicht der Typ, der sich groß darüber Gedanken machte, ob man sie mochte, ob sie beliebt war. Zeitverschwendung, fand sie. Sie war ehrgeizig, sie hatte Erfolg, selbstverständlich gab es da Neid und Eifersucht. Man hatte Gegner, aber man hatte auch Anhänger, Wähler, nicht nur aus ihrer Partei, die ihr schrieben, ihr gratulierten zu ihrer Unerschrockenheit.
Angela hörte, wie unten die Tür aufgesperrt wurde. Fritz kam nach Hause. Ob er es schon gehört hatte? Das Lokalradio hatte eine kurze Meldung gebracht. Er rief nicht nach ihr, vermutlich dachte er, sie sei nicht da. Auch sie gab kein Zeichen. Fritz, dachte sie, und nicht zum ersten Mal kam ihr als Bild für ihre Ehe der Mathematikunterricht ihrer Jugend in den Sinn. Mengenlehre. Zwei Kreise, die sich überschnitten. Der gemeinsame Bereich war die Schnittmenge. Dieses Oval war in ihrer Ehe im Laufe der Jahre immer magerer geworden. Woraus bestand diese Schnittmenge noch? Sie verbrachten die bei beiden spärliche Freizeit und die Ferien miteinander. Sport. Velotouren. Das Häuschen in den Bergen. Dabei verstanden sie sich ganz gut. Beide waren ehrgeizig und ausdauernd, wenn sie einen Pass hinaufpedalten, beide wollten das Rennen gewinnen. Und es war gar nicht immer Fritz, der die Nase vorn hatte, denn Angela war, obwohl eher klein, muskulös und zäh. Aber im Alltag drifteten sie immer mehr auseinander. Er hatte seine Gemeinde, sie die Politik. Gemeinsame Freunde hatten sie kaum. Selten begleiteten sie einander zu Anlässen. Beide führten sie ihr eigenes Leben und trafen sich manchmal zu einem improvisierten Abendessen am Küchentisch. Sie erzählten einander nicht viel. Angela hatte den Eindruck, dass Fritz ihre politische Arbeit nicht ganz ernst nahm. Und er war ihr in seiner beruflichen Entwicklung fremd geworden. Aus dem wissbegierigen, offenen Theologiestudenten war ein moralisch strenger evangelikaler Pfarrer geworden, der sich von der Landeskirche abgewandt hatte und in eine Freikirche übergetreten war, die eine schwärmerische und autoritätsgläubige Religiosität pflegte. Was war da bloß in ihm vorgegangen? Sie redeten nie darüber. Sie sprachen über Fahrradausrüstungen, über die Heizung ihres Häuschens in den Bergen, über Urlaubstermine. Manchmal fragte Angela sich, ob es anders gekommen wäre, wenn sie Kinder gehabt hätten. Ob er enttäuscht war, weil es nicht geklappt hatte? War sie enttäuscht? Es war müßig, darüber nachzudenken. Sie hatte jetzt andere Sorgen.
Sie erhob sich und ging langsam hinunter. Fritz saß im Wohnzimmer.
»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte er, als er ihr Pflaster sah. Angela erzählte es ungern, es kam ihr vor wie das Eingeständnis einer Niederlage. Gleichzeitig ärgerte sie sich darüber, dass sie es so empfand.
»Irgendein … ein Krimineller hat einen Stein nach mir geworfen, auf dem Flohmarkt«, rief sie. Tränen des Zorns stiegen ihr in die Augen. »Muss ich mich so behandeln lassen?«
»Du musst Anzeige erstatten«, riet ihr Mann.
»Habe ich natürlich gemacht.«
»Hast du dir überlegt, dass das ein Zeichen sein könnte?«, fragte er.
»Ein Zeichen?« Sie sah ihn verständnislos an.
»Ich zweifle schon seit einiger Zeit daran, ob es das Richtige ist, was du machst, diese Politik«, sagte er. »Tut dir das wirklich gut? Ist es das, was Gott mit dir vorhat?«
Angela starrte ihn an. Ihr Kopf begann plötzlich heftiger zu schmerzen.
»Spinnst du?«, rief sie. »Das erste Mal in meinem Leben mache ich etwas wirklich Spannendes. Wie kannst du?«
Er blieb ganz ruhig, beobachtete sie. »Ich habe den Eindruck, dass du überlastet bist, du hast keine Zeit mehr, du entziehst dich mir, du hast keinen festen Boden mehr unter den Füßen.«
»So ein Unsinn! Mir gehts prima. Mein Problem ist, dass ich angegriffen worden bin, nichts anderes!« Sie schwieg. Es stimmte, dass sie sich ihrem Mann entzog. Aber hatte sie kein Recht auf ein eigenes Leben, das sie ausfüllte?
»Gönnst du mir meine Karriere nicht?«, fragte sie misstrauisch. »Du wolltest schon immer im Mittelpunkt stehen, mich dominieren. Und jetzt nimmst du diesen Angriff zum Anlass, mich kleinzumachen, statt dass du zu mir hältst.« Ihre Schläfe pochte.
Sein Blick war durchdringend. »Selbstverständlich halte ich zu dir. Du bist meine Frau. Aber ich glaube, dass du auf einem falschen Weg bist.«
»Was sollte ich denn deiner Ansicht nach tun? Wieder als Sekretärin arbeiten? Musik auflegen auf deinen Jugendpartys? Oder Taschentücher verteilen, wenn die Jugendlichen ihre Bekehrungserlebnisse haben?« Sie brach ab. So verächtlich hatte sie sich noch nie über seine Arbeit geäußert.
»Es wäre sicher nicht die schlechteste Aufgabe für eine Ehefrau, ihren Mann bei seiner Arbeit zu unterstützen«, gab er ungerührt zurück. Sie fühlte sich schwindlig und er schien es zu bemerken.
»Komm, leg dich wieder hin«, sagte er sanfter, »ich mache dir einen Tee.«
Angela legte sich aufs Sofa. Soll ich mich von ihm trennen, fragte sie sich. Nein, das würde sich nicht gut machen, eine geschiedene CVP-Politikerin. Die Situation ist so schon kompliziert genug. Fritz stellte ihr eine Tasse Tee und ein Tellerchen mit Zwieback hin. Einen Moment lang kam ihr die Szene ganz unwirklich vor und sie fragte sich, ob er fähig wäre, ihr Gift in den Tee zu schütten. Meine Nerven sind wirklich überreizt, dachte sie und nahm einen Schluck. Er schaltete den Fernseher ein.
Montag
Lina Kováts saß an ihrem Pult im Kantonsratssaal. Sie hatte die Tonaufnahme der Debatte in Gang gesetzt, die Liste der Ratsgeschäfte, die an diesem Tag behandelt wurden, lag vor ihr, vor einer Viertelstunde hatte die Ratssitzung begonnen. Das Thema, es ging um Steuersenkungen für Kleinbetriebe, interessierte sie nicht besonders. Sie gab sich keine Mühe, sich zu konzentrieren, ohnehin würde sie das alles in den folgenden Tagen nochmals hören, ab CD, wenn sie es schrieb und redigierte. Lina arbeitete seit einem Jahr nicht mehr als Zeitungskorrektorin, sondern als Protokollführerin im Kantonsrat. Nun musste sie nicht mehr dauernd bis spät abends arbeiten, sondern hatte Zeit, nach dem Job in ihrem Atelier zu malen. Sie ließ ihren Blick über die Reihen schweifen. Die meisten Plätze waren besetzt, was nicht hieß, dass alle Ratsmitglieder auch zuhörten. Einige lasen Zeitung, andere tippten etwas in ihre Laptops oder hackten eine Kurznachricht ins Handy, ordneten Unterlagen oder zwängten sich durch die engen Sitzreihen, um mit einem Kollegen flüsternd etwas zu besprechen. Anfangs hatte Lina diese Undiszipliniertheit verwundert, bis sie verstanden hatte, dass hier nicht die eigentliche politische Arbeit gemacht wurde. Die Knochenarbeit, die Erarbeitung von Gesetzen, wurde in den Kommissionen geleistet. Der Ratssaal, so sah es Lina, war die Bühne für die Öffentlichkeit, die montägliche Sitzung das Stück, das über die politische Arbeit Auskunft und den Darstellern die Gelegenheit gab, sich ins rechte Licht zu rücken. Man musste ja alle vier Jahre wiedergewählt werden. Der Saal gab eine würdige Bühne ab. Ein hoher Raum in einem schönen Renaissancebau, die Wände mit Porträts von ehemaligen Bürgermeistern von Zürich und einem hellblauen Wandteppich geschmückt, der das Kantonswappen, flankiert von zwei Löwen, zeigte. Durch die Fenster auf der einen Seite sah man die Limmat vorbeifließen.
Lina wurde aufmerksam auf das Geschehen. Eine Sprecherin hatte geendet, die Ratspräsidentin erteilte einem anderen Kantonsrat das Wort, der zu reden begann, ohne sein Mikrofon einzuschalten.
»Mikrofon!«, rief Lina. Typisch, dachte sie. Hefti. Ein junger Grüner, dessen Vater in Wiedikon eine Hausarztpraxis führte. Der war so eifrig darauf aus zu reden, dass er es jedes zweite Mal vergaß.
»Ach ja, Tschuldigung«, lachte Hefti fröhlich zurück, drückte den Knopf und begann, sein Manuskript abzulesen. Immerhin. Er redete nicht frei wie andere, die dachten, das mache einen souveränen Eindruck, sondern kannte seine Grenzen und trat gut vorbereitet zu seinen Voten an. Seine Grenzen traten zutage, wenn er spontan auf einen Antrag reagierte oder eine Frage stellte. Dann verhedderte er sich heillos in einem Wust von Haupt- und Nebensätzen, Appositionen, Ellipsen, verunglückten Metaphern und verwechselten Fremdwörtern. Es war dann hinterher Linas Aufgabe, das in Ordnung zu bringen, dem Ganzen eine Syntax zu unterlegen, zu spüren, was Hefti inhaltlich hatte sagen wollen, und das, behutsam seinen eigenen Wörtern entlang balancierend, aber ohne in die von ihm aufgerissenen Gräben abzustürzen, zu formulieren. Hefti dankte es ihr. Wenn die redigierten Voten vor dem Ratssaal zur Einsicht auflagen, fischte er sich seine heraus, kam bei ihr vorbei und strahlte: »Super haben Sie das wieder geschrieben, Frau Kováts, super! Nicht wahr, Deutsch müsste man können«, und er zwinkerte ihr zu. Lina lächelte jeweils höflich und dachte: in der Tat. Aber im Grunde genommen mochte sie Hefti.
Heute war die Stimmung im Ratssaal unruhiger als sonst. Vor Sitzungsbeginn hatte der Angriff auf Angela Legler Gesprächsstoff gegeben. Diese saß tapfer im Saal, an der linken Schläfe ein großes Pflaster, mit geradem Rücken, als ob sie ein Brett verschluckt hätte, und mit einem Blick, der sagte: Ich lasse mich nicht mundtot machen. Der Fraktionspräsident hatte eine Debatte zum Vorfall vom Samstag verlangt, was aber von der Ratspräsidentin abgelehnt worden war. Sie hatte ihm nur eine kurze Erklärung zugestanden, in der er die Attacke verurteilte, ohne genauer auf die Ursache und den Kontext einzugehen. Es war eine heikle Angelegenheit, denn die CVP stand mehrheitlich gar nicht hinter Leglers Vorstoß, den Flohmarkt zu schließen, und war nicht glücklich über das Sonderzüglein, das sie in dieser Sache fuhr.
Die Debatte plätscherte weiter, noch immer ging es um die Steuersenkungen. Lina sah sich um. Wen sollte sie sich heute aussuchen? Vielleicht – ja, Ruth Noser. Die hatte ein interessantes Gesicht. Wenn Lina sich langweilte, fertigte sie manchmal kleine Bleistiftskizzen von den Kantonsräten an, keine Karikaturen, sondern Porträts, in denen sie versuchte, Stimmung und Ausdruck einzufangen. Obwohl sie diskret vorging, war das nicht verborgen geblieben. Es gab Ratsmitglieder, die misstrauisch darauf reagierten, im Vorbeigehen einen Kontrollblick warfen, um zu schauen, ob etwa sie das Opfer waren, aber auch andere, die ganz versessen darauf waren, von Lina gezeichnet zu werden, und ihr anboten, ihr Porträt zu kaufen. Denn es war bekannt, dass Lina Kováts auch Malerin war; eine kleine Galerie in Zürich stellte regelmäßig ihre Bilder aus. Lina fasste Ruth Noser ins Auge und begann, die Form ihres Kopfes zu skizzieren.
Kurz vor 10 Uhr betrat Streiff das Rathaus. Um 10 Uhr war Sitzungspause und er war mit Angela Legler verabredet, die ihm die Drohbriefe zeigen wollte, die sie in Sachen Flohmarktschließung erhalten hatte. Punkt 10 Uhr gingen die Türflügel des Ratssaals auf und die Politiker strömten heraus – in Richtung Café. Eine Frau mit einem dunklen Pagenkopf ging an ihm vorbei und grüßte ihn. Streiff nickte unverbindlich zurück. Wer war das bloß? Ach ja, vielleicht Lina Kováts, Valeries beste Freundin. Die arbeitete doch hier. Mit ihr kam er gar nicht gut zurecht, ihre oft wechselnden Haarfarben überforderten ihn heillos. Er war froh, dass Valerie und Lina keinerlei Neigung zeigten, ihre Freundschaft auf die zugehörigen Männer, ihn und diesen Hannes Neubauer, auszudehnen. Er schaute ihr nach. Sie ging auf einen Mann zu, der die Treppe hinaufkam. »Carlo«, rief sie, »kann ich rasch etwas mit dir besprechen?« Er hörte, dass der Mann sie mit Lina ansprach und wandte sich ab. Da erschien auch schon Angela Legler. Streiff hoffte, dass sie sich nicht mehr an seinen Sarkasmus vom Samstag erinnerte. Er fragte nach ihrem Befinden, aber Legler hatte keinen Sinn für Konversation.
»Kommen Sie«, sagte sie, »dort drüben sind wir ungestört.«
Er folgte ihr und sie reichte ihm zwei Briefe. Der eine war von Hand geschrieben, eine leicht lesbare, flüssige Schrift, der Brief gut formuliert. In deutlichen Worten wurde der Politikerin vorgeworfen, dass sie ein wichtiges Stück Alternativkultur abwürgen wolle, dass sie sich nicht schere um die Bedürfnisse der finanziell Minderbemittelten in dieser Stadt, dass ihr der direkte Draht zur Bevölkerung fehle. Der Brief war unterschrieben und mit einer Absenderadresse versehen.
»Das ist doch gar kein Drohbrief«, bemerkte Streiff. Hat die mich deswegen antraben lassen, fragte er sich gereizt.
»Bitte«, Legler hielt ihm einen zweiten Brief hin.
Dieser war auf dem Computer geschrieben und trug keine Unterschrift. Sie solle ihre Pfoten vom Flohmi lassen, wurde der Politikerin grob beschieden, sonst werde etwas passieren …
Streiff nahm die Briefe an sich und versprach, der Sache nachzugehen. Besonders beeindruckt war er nicht, es gab erstaunlich viele Leute, die ihrem Unmut über behördliche oder politische Entscheide in anonymen Briefen Luft machten. Aber immerhin, Angela Legler war am Samstag ein Stein nachgeworfen worden.
»Haben Sie einen konkreten Verdacht, von wem der Drohbrief stammen könnte?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Mit Leuten von diesem Niveau verkehre ich nicht«, stellte sie klar. »Meine Wählerschaft benimmt sich anders.«
Streiff ging darauf nicht ein. »Haben Sie am Samstag auf dem Flohmarkt jemanden bemerkt, der den Stein geworfen haben könnte? Haben Sie jemanden in einem bunten Pullover gesehen?«
»Jeder aus dieser unerzogenen Bande könnte mich angegriffen haben«, fuhr Legler auf. Wirklich weiterhelfen konnte sie nicht.
»Haben Sie Angst? Fühlen Sie sich persönlich bedroht?«, fragte er.
»Ich lasse mich nicht einschüchtern«, erklärte Legler stolz. »Ich habe einen Wählerauftrag.«
»Bei der Flohmarktschließung haben Sie aber vor allem Unterstützung von der SVP, nicht von Ihrer Partei«, konnte sich Streiff nicht verkneifen anzumerken.
»Das geht Sie gar nichts an«, klemmte sie ihn ab. »Sorgen Sie dafür, dass man sich in dieser Stadt frei bewegen kann, ohne zusammengeschlagen zu werden.« Sie wandte sich ab.
»Zu Befehl«, murmelte Streiff.
Die Pause ging dem Ende zu. Die Parlamentarier kamen grüppchenweise aus der Kaffeepause zurück. Ein großer massiger Mann mit Bürstenschnitt ging auf Angela Legler zu. »Na, geht es besser, Kiwi?«, fragte er.