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Kiwi? Streiff wunderte sich.
»Sicher, so schnell lasse ich mich nicht unterkriegen«, hörte Streiff sie antworten. Offenbar fand sie es völlig in Ordnung, Kiwi genannt zu werden.
Lina Kováts setzte den Kopfhörer auf und drückte auf die Playtaste. Die Kantonsratssitzung war zu Ende, sie hatte von der Tonaufnahme der Sitzung noch im Rathaus eine CD gebrannt und ging nun in ihrem Büro im Kaspar-Escher-Haus daran, das Protokoll zu schreiben. Nach einleitenden Worten der Präsidentin, der Ansage, welches Geschäft behandelt wurde, war der erste Redner dran, der sich zur Steuersenkung äußerte. Lina hörte Heinrich Leuzinger, einen SVP-Vertreter: »Das Rezept der Linken, mit dem man die finanzielle Situation des Kantons beheben soll, lautet, sie zu erhöhen.« Lina brauchte nicht lange für die Korrektur, sie schrieb: Das Rezept der Linken, mit dem sie die finanzielle Situation des Kantons verbessern wollen, lautet, die Steuern zu erhöhen. Sie konnte sich noch daran erinnern, dass er den Satz gesagt hatte. Manchmal kam sie sich bei ihrer Arbeit vor wie in einer Art Zeitschleife. Das erste Mal erlebte sie die Situation live, in Echtzeit, mit Bild und Ton, das zweite Mal auf den Ton reduziert, der aus dem Kopfhörer in ihren Kopf strömte, und das dritte Mal in abstrahierter Form, als Text auf dem Bildschirm oder als Papierausdruck. Jedes Mal war sie ein Stück weiter davon entfernt. Aber innerlich konnte sie sich die Stimmen der Ratsmitglieder auch noch vergegenwärtigen, wenn sie den redigierten Text auf Papier Korrektur las. Es war, als könnte sie die Sprechenden in einem bestimmten Moment in ihrer Vergangenheit festhalten, obwohl diese in ihrer Gegenwart schon ganz woanders waren und nicht ahnten, dass sie auf Linas CD gefangen waren in einem ewigen Montagmorgen.
Sie korrigierte die Unvollkommenheit des gesprochenen Wortes. Druckreif reden – darüber konnte sie nur lächeln. Das hatte sie nur ein einziges Mal erlebt. Das Normale waren, auch bei Rednern, die gut rüberkamen und sich verständlich ausdrückten, angefangene Sätze, die syntaktisch im Nirgendwo endeten, Kaskaden von verschachtelten Nebensätzen, die abrupt geschnitten wurden von einer ganz anderen Konstruktion, Präpositionen, die ihr Verb im Stich ließen, Verben, die sich davongemacht hatten, als Nominative verkleidete Akkusativobjekte, falsche Bezüge, hinkende Vergleiche, Aussagen, die sich verzweifelt durch eine aus dem Ruder laufende Grammatik kämpften. Lina liebte das. Sie ging mit einer Mischung aus kühlem Sachverstand und Fürsorglichkeit ans Werk, verbesserte Verbformen und Fallfehler, glättete behutsam Holprigkeiten, strukturierte endlos lange Sätze, rückte ein schiefes Sprachbild gerade, fügte ein fehlendes ›nicht‹ ein, strich Füllwörter oder fügte eines ein, um eine akustische Betonung, die im Schriftlichen nicht direkt abzubilden war, nachzuvollziehen, stellte Satzteile um, um den Satz flüssiger zu machen. »Es gibt Überflüssiges, das nicht immer seinem Zweck zugeführt wird«, hörte sie aus dem Kopfhörer. Solche seltenen sprachlichen Kostbarkeiten gefielen ihr besonders. Unbeabsichtigte Paradoxa, die in der Debatte untergingen, aber bei ihr zum Vorschein kamen und die nur sie zu würdigen wusste. Was sie daraus machen sollte? Vielleicht würde sie es stehen lassen, einfach, weil sie es schön fand.
Aber jetzt war es 15.30 Uhr. Kaffeepause, ihr Arbeitskollege Carlo Freuler hatte seinen Kopfhörer bereits abgestreift und stand auf. Nach der Pause musste sie noch zu einer kurzen Sitzung der AG KVK, um das Protokoll zu schreiben. Darauf freute sie sich, denn da würde sie Valerie treffen, die als Expertin in dieser Arbeitsgruppe saß; Valerie und sie waren seit Schulzeiten miteinander befreundet. Es gab im Kaspar-Escher-Haus für die Mitarbeitenden der Parlamentsdienste keinen eigentlichen Pausenraum, nur eine winzige, düstere Teeküche, an deren Tür die Farbe abblätterte, und auf dem Flur zwischen den Büros standen ein paar Tischchen und ein Getränkeautomat. DDR hatten sie dieses Gebiet getauft, bis vor einiger Zeit eine futuristisch aussehende Raucherkabine installiert worden war. Nun passte dieser Name nicht mehr ganz. Sie fanden sich bei der Teeküche zusammen, Carlo Freuler, der zweite Protokollführer, Mario Bianchera, der Kommissionssekretär der Parlamentsdienste, der Sitzungen organisierte und Berichte für die Kommissionen schrieb, und Raffaela Zweifel, die erst seit zwei Monaten da war. Sie ersetzte im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms für Arbeitslose des RAV die ständige Administrativsekretärin, die einen unbezahlten Urlaub genommen hatte, um in England einen Sprachkurs zu besuchen. Die junge Frau hatte es nicht ganz einfach im Sekretariat. Die anderen wunderten sich, warum Angela Legler, die Präsidentin der Verkehrs- und Umweltkommission und Ratslektorin und deshalb häufig auf dem Sekretariat anzutreffen war, so unfreundlich mit ihr umging. Lina, die es wusste, sagte nichts. Legler war ohnehin nicht die Herzlichkeit in Person, sondern eher der raubeinige Typ, aber Raffaela wurde von ihr regelrecht schikaniert. Gut, sie war kein Mäuschen, wusste sich schon zu wehren und konnte Legler recht spöttisch anblicken, aber oft sagte sie nichts, wenn diese an ihrer Arbeit herumkrittelte. Sie konnte nicht das Risiko eingehen, rausgeworfen zu werden, denn das hätte ihr bei der weiteren Stellensuche geschadet.
Carlo hatte ein Protokoll einer Sitzung der Verkehrskommission, die über Mittag stattgefunden hatte, in Arbeit.
»Die Noser hat ja keine Ahnung«, regte er sich auf. »Hat einen ellenlangen Antrag vorgetragen und nicht gemerkt, dass sie da etwas verwechselt hatte und er überhaupt nicht zum Thema passte. Was soll ich damit jetzt machen?«
»Einfach streichen«, meinte Lina friedlich und nahm einen Schluck Tee.
Aber Carlo hörte ihr gar nicht zu. »Und die Legler ist ja komplett unfähig, eine Sitzung zu leiten«, schimpfte er weiter, »keine Ahnung, wie man eine Diskussion strukturiert.«
Lina sagte nichts, Raffaela kräuselte spöttisch die Lippen.
»Also komm, die ist doch mit den Nerven runter wegen der Geschichte vom Samstag«, verteidigte sie nun Mario. »Da wäre jeder etwas mitgenommen.«
Mario Bianchera war ein liebenswürdiger Mensch, der sich nie über andere das Maul zerriss. Er war Mitte 30, dunkelhaarig, etwas rundlich, von Beruf Politologe und Historiker. Seit seiner Scheidung vor zwei Jahren, die ihm arg zugesetzt hatte, lebte er allein. Seine achtjährige Tochter sah er am Wochenende. Er war ein Familienmensch und hatte Mühe gehabt, sich an diese Situation zu gewöhnen. Nachdem er längere Zeit melancholisch und still gewesen war, war er seit einigen Monaten wieder fröhlicher, momentweise fast übermütig. Ab und zu bekam er ein SMS, das, seiner Reaktion nach zu schließen, nicht von seiner Tochter stammte. Er liebte sie zwar zärtlich, aber das verträumte Lächeln deutete auf etwas anderes hin. Lina hatte sich gefragt, ob er wieder verliebt war. Sie hätte es ihm gönnen mögen. Hoffentlich ist es eine Frau, die zu ihm passt, hatte sie gedacht. Denn so umgänglich und friedfertig Mario war, hatte er doch auch seine Ecken und Kanten. Er hatte eine fast strenge Liebe zur Wahrheit. Notlügen oder Lügen aus Höflichkeit, mit deren Hilfe sich ja die meisten Menschen durch ihr Sozialleben hangelten, kamen für ihn nicht infrage. Wenn er einen Fehler gemacht hatte, stand er dazu, und wenn er Kritik anzubringen hatte, tat er es, zwar sacht, aber klar, auch wenn es sich um den Ratspräsidenten oder ein Regierungsmitglied handelte. Auch seine kleine Tochter erzog er zur Ehrlichkeit. Lina hatte ihr einmal einen Lebkuchen geschenkt. Die Kleine hatte sich bedankt und dann hinzugefügt: »Es ist schade, dass ich Lebkuchen nicht so gern esse.« Das hatte sie in einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und Charme gesagt, sodass Lina ganz beeindruckt gewesen war. Mario war allgemein beliebt, aber, mutmaßte Lina, in einer Beziehung mochte Marios Hang zu Offenheit und Gerechtigkeit vielleicht manchmal auch anstrengend sein. Jeder war doch darauf angewiesen, dass man einmal fünf gerade sein ließ, dass man etwas ein bisschen zurechtbog, verschwieg oder im Unklaren beließ. Jedenfalls hatte Mario durchaus Verständnis für menschliche Schwächen und war der Einzige, der Angela Legler in Schutz nahm.
Carlo zuckte die Schultern. »Dann soll sie sich krankschreiben lassen. Wäre eh eine Wohltat für alle«, brummte er.
Es war nichts Neues, dass Carlo in Rage geriet. Nicht nur wegen Angela Legler, aber wegen ihr besonders. Er hasste seine Arbeit, und mit Legler war er in einen zähen Kleinkrieg verwickelt, in dem beide einander nichts schenkten. Legler war Ratslektorin, was bedeutete, dass sie es war, die das fertige Ratsprotokoll nochmals las und letzte Korrekturen anbrachte, die Lina oder Carlo dann ausführen mussten. In dieser Funktion, das war auch Lina klar, war sie eine Fehlbesetzung. Sie hatte kein Sprachgefühl, keine soliden Grammatikkenntnisse, dafür ein großes Durcheinander mit der neuen Rechtschreibung im Kopf. Das hatten Carlo und Lina zwar nach dem Hin und Her der letzten Jahre mittlerweile ebenfalls, aber im Unterschied zu Madame Legler waren sie nicht zu stolz, in Zweifelsfällen den Duden zu konsultieren. Die Politikerin war rechthaberisch und stur und da man kein fehlerhaftes Ratsprotokoll im Internet wollte, war es immer wieder eine heikle diplomatische Mission, sich einvernehmlich auf die richtige Lösung zu einigen. Eine Mission, die immer öfter Lina übernehmen musste. Denn von Carlo Freuler ließ sich Angela Legler gar nichts sagen. Das, zusammen mit deren Falschkorrekturen, trieb Carlo zur Weißglut. Lina nahm das Ganze nicht so persönlich und sie wurde nicht ganz so von oben herab behandelt, aber angenehm war der Job auch für sie nicht.
Lina und Carlo hatten einmal Esther Jenny, die Leiterin der Parlamentsdienste, um Vermittlung gebeten. Aber sie, kurz vor der Pensionierung stehend, hatte keine Lust gehabt, sich in fremde Händel einzumischen.
»Der Geschäftsleitung einen Antrag stellen, Frau Legler als Ratslektorin abzusetzen?«, hatte sie entsetzt gerufen. »Kinder« – Carlo war 55 und Lina immerhin 48 – »nein, das können wir unmöglich machen. Dafür sind wir überhaupt nicht zuständig. Seid einfach höflich zu ihr und zeigt ihr, was im Duden steht.«
Also schlugen sich Carlo und Lina irgendwie durch.
Carlo trank seine Ovomaltine aus und wandte sich an Lina: »Du gehst doch nachher noch auf diese Sitzung der AG KVK.«
Lina wusste, was kommen würde.
»Könntest du nicht diesen Protokollauszug da mitnehmen und Legler vorlegen? Sie sagt hier oben auf der Seite das Gegenteil von dem, was sie hier unten behauptet. Kannst du das mit ihr klären?«
»Okay, mach ich.«
Insgeheim hielt Lina auch Carlo für eine Fehlbesetzung in diesem Job und fragte sich, warum er ihn nicht einfach aufgab. Seine Frau war eine Zahnärztin mit einer gut laufenden Praxis. Sie verdiente sicher genug für die ganze Familie. Carlo, der Philosophie studiert hatte, war eigentlich Schriftsteller. Er schrieb seit Jahren an einem Roman, der immer dicker, aber nie fertig wurde. Er wäre sicher glücklicher, dachte Lina, wenn er den ganzen Tag unbehelligt in seiner Klause sitzen und schreiben könnte. Die Arbeit im Kantonsrat betrachtete er als eine Zumutung, als eine ständige Beleidigung seiner Fähigkeiten. Es machte ihm keine Freude, abgestürzte Sätze zu retten, aus einem unbeholfenen Sprachgebilde etwas Schönes zu machen, aus unzusammenhängenden Sprachfetzen einen Sinn herauszuschälen. Er verachtete die Ratsmitglieder, die er allesamt für strohdumm hielt. Es kränkte ihn tief, hierarchisch unter ihnen zu stehen und für sie eine Dienstleistung erbringen zu müssen, die sie nicht einmal zu würdigen wussten.
Aber vielleicht brauchte es Carlo für sein Selbstwertgefühl, auch etwas zum Familienunterhalt beizutragen. Jedenfalls sprach Lina nie mit ihm darüber, es ging sie ja nichts an. Sie packte ihre Sitzungsunterlagen und den Protokollauszug von Carlo in eine Kartonmappe, klemmte sich den Laptop unter den Arm und machte sich auf den Weg zum Sitzungszimmer.
Es ging gegen 17.30 Uhr. Die Luft im Sitzungszimmer war verbraucht. Angela Legler, die als Präsidentin der AG KVK oben am Tisch saß, sah sich um.
»Noch Wortmeldungen?«
Niemand sagte etwas.
»Dann sind die Meinungen also gemacht. Wir stimmen ab.«
Die Kommission hatte die Linienführung des Fahrradwegs durch das Seefeldquartier diskutiert. Auf der mehrspurigen, dicht befahrenen Bellerivestraße kam ein Radweg nicht infrage. Es musste also entweder in der Dufourstraße oder der Seefeldstraße eine Lösung gefunden werden. Einfach war es nicht. Die Fläche, die zur Verfügung stand, war gegeben, Fußgänger, Autos, Räder mussten irgendwie aneinander vorbeikommen. Peter Spälti vom Raumplanungsamt hatte anhand von Skizzen erläutert, welche Varianten möglich waren. In der Seefeldstraße war der Platz auch wegen der Tramgleise eng. Besser sah es in der Dufourstraße aus. Aber die zweispurige Straße war nicht besonders breit, das Trottoir auch nicht, links und rechts hatte es, vor allem im oberen Teil, Restaurants, Geschäfte und Firmensitze. Der Zankapfel waren die Parkplätze. Würde man die aufheben, wäre Platz für einen Veloweg. Valerie Gut erklärte, wie wichtig es sei, in diesem langgezogenen Wohnviertel, in dem viele Familie lebten, eine durchgehende, sichere Radwegverbindung zu schaffen. Ruth Noser von der SP und der Grüne Simon Hefti plädierten für die Streichung der Parkplätze. Die Freisinnige Nora Beglinger und der SVP-Vertreter Heinrich Leuzinger, ein Gewerbler, waren strikt dagegen. Man müsse auch an die Restaurantbesitzer und Ladeninhaber in der Umgebung denken. Aber mit der Stimme der Präsidentin würde der Radweg siegen. Sie hatte sich in der Diskussion zurückgehalten, ihre Aufgabe war es, die Diskussion zu strukturieren und zu leiten, aber es war bekannt, dass die CVP in dieser Debatte eine fahrradfreundliche Haltung einnahm.
»Wer ist für die Aufhebung der Parkplätze zugunsten des Velowegs?«
Zwei Stimmen.
Valerie und Lina sahen sich über den Tisch hinweg überrascht an.
»Gegenstimmen?«
Drei Stimmen.
Angela Legler hatte dagegen gestimmt.
Ruth Noser und Simon Hefti warfen der Präsidentin befremdete Blicke zu und flüsterten miteinander. Heinrich Leuzinger strahlte.
»Wir werden bei der Verkehrskommission also beantragen, die Parkplätze in der Dufourstraße nicht aufzuheben. Für einen Fahrradweg muss eine andere Lösung gesucht werden«, erklärte Angela Legler ungerührt.
Valerie runzelte die Stirn. Es gab keine andere Lösung, das wusste Legler doch haargenau. Die Kommission hatte sich lange genug mit diesem Problem herumgeschlagen.
»Die Sitzung ist aufgehoben.«
Peter Spälti packte seine Unterlagen zusammen. Simon Hefti redete auf ihn ein. Spälti zuckte die Schultern. Es war nicht Aufgabe der Verwaltung, die Entscheide einer politischen Kommission zu kommentieren. Ruth Noser wandte sich an Nora Beglinger.
»Das kann ja wohl nicht das letzte Wort in dieser Sache gewesen sein, Nora«, drängte sie. »In eurer Fraktion gibts doch auch Leute, die einsehen, dass es ein durchgehendes Velowegnetz braucht in dieser Stadt.«
»Sicher, aber ihr von der Linken denkt einfach nie ans Gewerbe«, konterte diese. »Eure Klientel braucht auch Arbeitsplätze.«
Heinrich Leuzinger winkte Legler fröhlich zu und verließ das Sitzungszimmer.
Lina packte ihre Sachen, ging rasch zu ihr, legte ihr Mäppchen auf den Tisch und zog den Protokollauszug hervor.
»Hier besteht eine Unklarheit«, meinte sie und deutete auf die beiden Textpassagen. Angela wirkte nervös. Klar, sie wusste, dass von der CVP-Vertreterin ein anderer Entscheid erwartet worden war. Sie bemerkte, dass Ruth Noser darauf wartete, mit ihr zu reden, nahm Lina ungeduldig das Blatt aus der Hand, ohne genau zuzuhören, und überflog es.
»Ja, ja, schreiben Sie das so, wie es hier oben steht, das ist schon richtig«, sagte sie kurzangebunden und schob das Papier zurück in die Mappe. Lina sah auf. Valerie gab ihr ein Zeichen, sie würde draußen auf sie warten. Ruth Noser räusperte sich. Angela Legler schob Lina ihr Mäppchen zu und ergriff ihr eigenes. Offenbar hatte sie wirklich etwas von ihrer Kaltschnäuzigkeit verloren, das waren wohl die Nachwirkungen vom Samstag. Sie wandte sich ihrer Kollegin zu.
Noser galt im Rat als integrative Person, die stets das persönliche Gespräch suchte und die Fronten durch Kompromissvorschläge aufzuweichen versuchte. Es gab in jeder Partei einige, die Extrempositionen besetzten, polarisierten, die Fronten markierten. Dann gab es andere, die als Go-Betweens vermittelten, den Konsens suchten, die über die Burggräben hinweg zähe Kleinarbeit leisteten, um Einigungen hinzukriegen. Ruth Noser gehörte zu diesen. Es war, fand Lina, entschieden der härtere Job, als kämpferisch Extremforderungen zu stellen und sich um ihre Realisierbarkeit zu foutieren.
»Darüber sollten wir nochmals reden, Angela«, hörte Lina sie noch sagen, bevor sie ging. Draußen wartete Valerie auf sie.
»Was war denn mit der los?«, fragte Lina. »Weißt du, warum sie plötzlich umgeschwenkt ist? Ihre Fraktion wird keine Freude haben daran.«
Valerie schüttelte den Kopf. »An der letzten Sitzung vor drei Wochen sah es noch ganz anders aus. Vielleicht rächt sie sich damit für die Demütigung vom Samstag.«
»Das wäre dumm«, stellte Lina fest.
»Ja, aber vielleicht verlockend«, meinte Valerie. »Gehst du auch nach Hause?«
Valerie und Lina wohnten nicht weit voneinander entfernt.
»Nein, heute arbeite ich länger. Ich will mit dem Ratsprotokoll ein gutes Stück vorwärtskommen, weil ich ja noch dieses Sitzungsprotokoll schreiben muss. Carlo kann mir nichts abnehmen, der verliert ständig so viel Zeit damit, sich zu ärgern, dass er kaum vom Fleck kommt.«
Lina sah auf die Uhr. Fast 21 Uhr. Alle anderen waren längst gegangen. Fertig für heute, dachte sie, schloss das Dokument, beendete das Programm und stellte den Computer ab. Ob ich noch auf einen Sprung bei Valerie vorbeigehe? Oder ich könnte Hannes anrufen. Ach ja, ich sollte noch Carlo den korrigierten Protokollauszug hinlegen, der kommt morgen wahrscheinlich früher als ich. Sie öffnete ihre Kartonmappe. Eine Sekunde setzte ihr Denken aus. Verdammt! Was war denn das? Wie kam das hier hinein? Und wo war der Protokollauszug? Scheiße, das war überhaupt nicht ihre Mappe. Das war, das musste – Angela Leglers Mappe sein. Aber wieso lagen in Angela Leglers Kartonmappe sieben Tausendernoten? Trug sie ihr Haushaltsbudget mit sich herum? Kaum. Da war noch ein Zettel dabei, handgeschrieben: »Danke für dein Entgegenkommen. P.« Die Schrift kam ihr vage bekannt vor. Was für ein Entgegenkommen? Waren die 7000 Franken eine Belohnung für irgendein Entgegenkommen? Ging es hier um Bestechung? Um Erpressung? Oder einfach um eine Privatsache, die Lina nichts anging? Wer war P? Vielleicht war es gar nicht Leglers Mappe. Lina erinnerte sich an das Durcheinander an Leglers Platz nach der Sitzung. P. Spälti, der Raumplanungsexperte, hieß Peter. Hatte er Angela Legler 7000 Franken rübergeschoben? Das machte keinen Sinn. Aber niemand sonst in der Kommission hatte einen Namen mit P. Legler konnte die Mappe natürlich schon mit an die Sitzung gebracht haben. Was sollte sie jetzt tun? Esther Jenny anrufen? Nein, die saß wahrscheinlich in der Oper oder im Theater. Und sie könnte ja auch nichts machen. Angela Legler anrufen? Unmöglich. Das könnte ziemlich peinlich sein: Ach, Frau Legler, ich habe da 7000 Franken gefunden. Gehören die zufällig Ihnen? Überhaupt, jetzt war es schon gegen 21.30 Uhr. Diese komische Sache musste warten bis morgen. Plötzlich fühlte sich Lina nicht mehr wohl im Büro. Es war niemand mehr da. Aber irgendjemandem gehörte diese Mappe. Und dieser Jemand wollte sie bestimmt zurückhaben. War die Person schon auf den Gedanken gekommen, dass sie sich bei ihr befand? Lina schloss die Mappe mitsamt Inhalt in ihrer Pultschublade ein. Auf dem Heimweg würde sie Valerie anrufen. Sie schlüpfte in ihre Jacke und hängte sich die Tasche über die Schulter.
Lina wollte zu Fuß gehen. Ein bisschen Bewegung und frische Luft würden ihr nach dem langen Tag guttun. Und sie wollte nachdenken. Sie ging das Limmatquai hinunter, blieb ab und zu vor einem Schaufenster stehen. Dann überquerte sie die Rathausbrücke und bog in eine der Altstadtgassen ein, die zum Paradeplatz führten. Auch hier jede Menge Kleiderboutiquen, aber in der obersten Preisklasse. Es wäre Lina nie in den Sinn gekommen, ein solches Geschäft zu betreten, aber sie schaute sich ganz gern an, was ausgestellt war. Dann kombinierte sie Fundstücke aus Secondhand-Läden mit günstigen Warenhausteilen und brachte es fertig, ebenso top auszusehen wie die Frauen in den teuren Sachen, aber zu einem Zehntel des Preises. Heute waren ihre Gedanken woanders. Sie musste morgen im Verzeichnis der Ratsmitglieder nachschauen, wie viele Namen mit P. begannen. Purtscher, Piller, Pfammatter. Pius, Priska, Philipp. Sie wollte die Mappe zu Jenny bringen. Die würde sich freuen. Sie hatte es am liebsten, wenn alles ruhig und geordnet vor sich ging, ohne dass sie irgendwie eingreifen musste. Für Leute, die gern selbstständig arbeiteten, war sie eine ideale Vorgesetzte, aber Entscheidungen von ihr zu verlangen, war nie eine gute Idee.
Es waren nicht mehr viele Leute unterwegs in der Altstadt. Ein paar Meter neben Lina stand ein Paar vor einem Schaufenster, die Frau im Pelz, obwohl es noch gar nicht so kühl war. Wahrscheinlich Touristen, die im Baur au Lac abgestiegen waren.
Plötzlich nahm Lina im Schaufenster, das ein undeutliches Spiegelbild zurückwarf, eine Bewegung hinter sich wahr, dann erhielt sie einen heftigen Schlag. Sie taumelte, spürte, wie ihr die Tasche entrissen wurde. »Halt!«, schrie sie. Sie drehte sich um, aber sah nur noch, wie eine schmale Gestalt in Jeans, schwarzer Jacke und Mütze davonspurtete. Das Ganze hatte nicht mehr als ein paar Sekunden gedauert. Linas Schulter schmerzte und sie fasste sich an die Stirn. Sie war mit dem Kopf an die Scheibe gedonnert, fühlte schon die Beule, die sich bildete. Sie zitterte. Das Touristenpaar war immer noch da, wandte sich aber zum Gehen.
»Hallo«, rief Lina, »haben Sie den Dieb gesehen? Warten Sie doch. Ich bin beraubt worden.«
Der Mann drehte sich um und sagte in gebrochenem Deutsch: »Wir nichts gesehen. Wir Touristen. In der Schweiz viele Drogen. Mit das wir haben nicht zu tun. Komm, Flavia.« Sie entfernten sich rasch.
Lina blieb stehen, unfähig, vernünftig zu denken. Plötzlich bekam sie Angst. Bloß weg aus dieser dunklen, unbelebten Gasse, schnell zum Paradeplatz, wo es Menschen gab und Licht. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie rannte. Am Paradeplatz setzte sie sich erst mal auf eine Bank. Hier schien alles ganz normal. Ein Elfer fuhr ab, in Richtung Bellevue. Ein Dreizehner bog ein. Leute stiegen aus, andere warteten auf den Achter oder den Zweier. Das Touristenpaar war nirgends zu sehen. Vermutlich erholen sie sich in der Savoy Bar bei einem Cüpli von der schockierenden Konfrontation mit der Zürcher Gewaltkriminalität, dachte Lina wütend. Sie versuchte sich zu sammeln. Alles war weg. Geld, Ausweise, Handy, Skizzenblock. Nur die Schlüssel hatte sie noch, die trug sie in der Jeanstasche. Ich muss die Karten sperren lassen, dachte sie, aber ich habe die Telefonnummern nicht dabei und das Telefon ist auch weg. Ich muss Anzeige erstatten. Langsam, mit weichen Knien, ging sie in Richtung Urania, der Hauptwache der Stadtpolizei. Plötzlich blieb sie stehen. Die Mappe mit den 7000 Franken. Das hatte sie in den letzten zehn Minuten völlig vergessen. Konnte das mit dem Überfall zu tun haben? Sollte sie davon bei der Polizei etwas sagen? Sie entschied sich dagegen. Es wäre zu kompliziert, auch noch diese Geschichte aufzutischen.
Sie betrat das Polizeigebäude, wandte sich an den Schalter, der besetzt war, setzte zu einer Erklärung an und merkte beschämt, wie sehr sie zitterte.
»Meine Tasche ist«, begann sie und musste abbrechen, weil ihr plötzlich die Tränen kamen.
»Sind Sie überfallen worden?«, fragte der Beamte und musterte sie.
Lina fasste sich an den Kopf und spürte die Schwellung an ihrer Stirn. Sie nickte und schluckte. Sie kämpfte die Tränen nieder, beschimpfte sich innerlich: Lina, du legst hier keine Heulszene hin, reiß dich gefälligst zusammen, und dann gelang es ihr einigermaßen, geleitet von Fragen des Polizisten, den Tathergang zu schildern und ihre Tasche zu beschreiben.
Große Hoffnungen machte ihr der Beamte nicht. »Gut möglich, dass wir die Tasche finden, aber wahrscheinlich leer«, bedauerte er.