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»Das hatte ich vor. Aber danke für den Hinweis.«
Sie drehte sich um und ging, ohne auf ihre Kollegen zu warten.
Harald schloss zu ihr auf. »Was war das denn gerade? Oder besser: Wer war das?«
»Frag nicht. Bitte.«
»Zumal er recht hat. Was ist in dich gefahren, die Retter herumzukommandieren?«
»Ich mache nur meinen Job.«
Harald blieb stehen, griff nach ihrer Schulter und drehte sie zu sich. »Vergiss nicht, dass ich 20 Jahre mehr auf dem Buckel habe als du. Du bist eine brillante Ermittlerin, aber in Sachen Menschenkenntnis stecke ich dich in die Tasche. Also?«
Sie fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht. »Ach, ich weiß auch nicht. Das hier ist einsatztaktisch der pure Horror.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Einsatztaktisch.«
»Ja, und ansonsten auch, klar. Und ich bin … nicht richtig fit heute. Sieh dich doch um – wie soll ich hier jemals den Überblick bekommen? Überall Opfer, Spuren, Hinweise, und sie werden schneller zertrampelt, als wir sie sichern können. Du weißt so gut wie ich, dass es mit jeder Sekunde schwieriger wird. Wir können nicht einmal den Tatort vernünftig absperren. Der Mann ist die beste Spur, die wir haben.«
Er drückte ihre Schulter. »Dein erster Einsatz in dieser Größenordnung, was?«
»Bei den Mordermittlern, ja. Im Streifendienst ging’s da eher mal rund. Ich habe es immer gehasst.«
»Ich weiß. Es ist nicht schön, wenn man das Gefühl hat, keine Kontrolle zu haben.«
»Ach, das ist es nicht. Es ist nur …« Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sofort sprangen sie die Bilder an: Nacht. Nasser Asphalt. Ein zerstörtes Auto. Zuckende Blaulichter. Und das Gefühl, die Zeit zurückdrehen zu müssen. Rasch öffnete sie die Augen wieder. »Es erinnert mich an etwas. Ist lange her. Lass uns mit der Stewardess reden.«
Harald kniff die Augen leicht zusammen. Marie kannte den Blick. Er setzte ihn immer auf, wenn er spürte, dass ein Zeuge mehr wusste, als er preisgab. »Okay«, sagte er.
Sie drehten sich zu der jungen Frau in der blauen Uniform der Turkish Airlines um, die einige Schritte hinter ihnen unschlüssig stehen geblieben war.
Marie zog ihr Notizbuch heraus und las den Namen der schwarzhaarigen Frau ab. »Frau Sayin, dürften wir Ihnen noch einige Fragen stellen?«
»Muss das sein? Ich möchte lieber nach Hause, bitte. Kann ich nicht morgen zu Ihnen kommen?«
»Ich weiß, es ist eine schlimme Situation, und ich glaube Ihnen, dass Sie mit Ihren Kräften am Ende sind. Aber die Erfahrung zeigt, dass unmittelbar nach einem Ereignis die Erinnerung am frischesten ist. Wenn es möglich ist, würde ich gerne alles mit Ihnen durchgehen. Es dauert nicht lange.«
Die junge Frau schluckte. »Muss das sein? Es ging alles so schnell und es war so furchtbar …«
»Nur ein paar Minuten, dann sind Sie uns los. Versprochen!«
Seufzen. »Na gut.«
»Vielen Dank. Sie arbeiten hier für Turkish Airlines?«
»Als Check-in-Agent, ja. Aber das habe ich Ihnen schon gesagt.«
»Natürlich. Erzählen Sie bitte trotzdem noch einmal, was sich zugetragen hat.«
»Also, ich hatte Check-in-Dienst seit 6 Uhr heute Morgen, direkt in Reihe drei, wo die Bombe explodiert ist.« Sie zeigte auf die lange Zeile von Check-in-Schaltern, die sich von vorne nach hinten durch die Halle zog. Der rückwärtige Bereich war nahezu unversehrt, der vordere Teil hingegen lag in schwarzen Trümmern: Die Schwingtüren, die dem Personal Zugang zum Arbeitsbereich gewährten, hingen schief in den Angeln oder waren abgerissen, die metallene Überdachung der Schalter war zerfetzt und sah aus wie Papier, das mitten in einem Windstoß eingefroren war. Die elektronischen Anzeigetafeln, die daran gehangen hatten, lagen kreuz und quer auf dem Schalter und dem Fußboden. Von den Countern war die hölzerne Verkleidung abgerissen und hatte sich gemeinsam mit Bildschirmen, Druckern, Papieren und Gepäckstücken im Raum verteilt. Dazwischen lagen stumme Zeugen der so jäh unterbrochenen morgendlichen Geschäftigkeit: umgerissene Absperrungen und Gepäcktrolleys, aufgeplatzte Koffer, Kleidung, Schuhe, Brillen. Und Blut. Sehr viel Blut.
»Oh nein, wie furchtbar!«, sagte die junge Frau mit erstickter Stimme. Offenbar nahm sie das ganze Ausmaß der Zerstörung erst jetzt wahr. »Das kann doch nicht sein! Da, da habe ich gestanden! Das ist …« Sie sah an sich herunter, als müsse sie sich vergewissern, dass sie wirklich bis auf ein paar Schrammen unverletzt war.
»Frau Sayin, es scheint, als hätten Sie großes Glück gehabt. Sie sagen, Sie haben dort gestanden?«
»Bei Schalter vier, genau.«
»Beschreiben Sie bitte, was Sie vor der Explosion gehört und gesehen haben. Bitte versuchen Sie, sich an alle Details zu erinnern und nichts auszulassen, auch wenn Sie es im Moment für unwichtig halten.«
Frau Sayin nickte tapfer. »Wir waren gerade beim Check-in für den Flug um 9.35 Uhr nach Istanbul. Die Schlange war lang, der Flug war ausgebucht.« Sie schluckte schwer und sah wieder zu den zerstörten Schaltern hinüber. »Viele Familien. Bald ist das muslimische Zuckerfest, das feiern viele bei ihren Verwandten in der Türkei.«
»War etwas anders als sonst? Ist Ihnen etwas oder jemand aufgefallen, aus welchem Grund auch immer? Hat sich jemand verdächtig benommen?«
Sie dachte kurz nach, schüttelte dann den Kopf. »Nein, es war alles normal.«
»Was ist vor der Explosion geschehen?«
»Ich habe gerade eine Familie eingecheckt. Der Vater hat die Koffer aufs Band gestellt, sie haben die Bordkarten genommen und sind weggegangen.«
»In welche Richtung?«
»Nach hinten. Also weg von …« Sie sah flüchtig über die Schulter zum Ort der Explosion. »Ich glaube, sie haben es geschafft. Ich hoffe es.«
Marie biss die Zähne zusammen. Ja, schön, das hoffte sie auch. Jetzt vielleicht mal was Relevantes? Ihnen lief die Zeit davon!
»An der Stelle, wo die Explosion war«, sprang Harald ein, »ist Ihnen da etwas aufgefallen? Geräusche, Bewegungen, Personen?«
Marie entspannte sich. Auf Harald war Verlass.
»Ja, der Herr, bei dem wir gerade waren. Der, den die Rettungswagenleute behandelt haben.«
Tim. Tim hieß der Knackar…, der Feuerwehrmann. Sie erinnerte sich. Oh Mann.
»Sie sagten, dieser Herr stand direkt bei der Explosion?«, fragte sie.
»Ja. Er hat mit einem anderen Mann um einen Koffer gestritten.«
»Gestritten?«
»Sie haben beide an dem Koffer gezogen. Und sich angeschrien.«
»Wem gehörte der Koffer denn?«, fragte Harald.
Die Stewardess zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Wer war der andere Mann?«
»Ich weiß es nicht. Es war ein Türke, ein älterer Mann.«
»Und dann ist die Bombe explodiert?«
»Ein paar Sekunden später, ja.«
»Konnten Sie sehen, wo genau die Explosion war? War es vielleicht der Koffer?«
»Nein, ich musste mit dem Check-in weitermachen. Einer der Koffer der Familie war auf dem Band hängen geblieben, und ich bin ein Stück nach hinten gegangen, um ihm einen Schubs zu geben. Dazu habe ich mich runtergebeugt. In dem Moment hat es diesen gewaltigen Schlag gegeben. Mich hat es einfach umgeworfen, ich bin aufs Gepäckband gefallen, alles um mich herum ist zusammengekracht und überall war Qualm und …« Sie stockte und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich lebe nur noch, weil ein Koffer geklemmt hat. Verstehen Sie das? Ich wäre tot, wenn nicht … Da vorne war der Infoschalter. Was ist mit Dorothee passiert? Die hatte heute Morgen Dienst. Ist sie …«
Vom ehemals halbrunden Infoschalter an der Stirnseite der Check-in-Reihe war nichts als Trümmer übrig. Marie schaute kurz hin und sah Holz, Stahl und Blut. »Ich weiß es nicht«, sagte sie leise und räusperte sich. »Sie haben also nicht gesehen, wo genau die Explosion …«
Harald stieß ihr den Ellenbogen in die Rippen.
Marie räusperte sich abermals. »Gut, das wäre fürs Erste alles. Hier ist meine Visitenkarte, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Ich werde Sie in den nächsten Tagen anrufen. Vielen Dank.«
Geistesabwesend nahm die junge Frau die Karte und ging ohne einen Gruß. Marie konnte es ihr nicht übel nehmen.
»Meinst du, die Bombe steckte in dem Koffer?«, fragte Harald.
»Das wird die Spurensicherung herausfinden.«
»Was sagt dein Instinkt?«
»Dass sie in dem Koffer war.«
»Ja, das glaube ich auch. Aber was hat es mit diesem Streit auf sich?«
»Meine Vermutung: Einer der beiden war der Bombenleger, und der andere wollte ihn stoppen.«
»Oder beide dachten, der Koffer gehöre ihnen.«
»Ausgerechnet der mit einer Bombe drin?«
Harald zuckte die Schultern. »Schon Pech irgendwie.«
»Wissen wir, wer der türkische Mann war?«
»Noch nicht. Es scheint aber keinen Verletzten zu geben, auf den die Beschreibung passt.«
»Also tot?«
»Schauen wir mal.«
Sie gingen zur Leichensammelstelle. Harald deutete auf einen Leichnam. »Der da könnte es sein.«
Der Tote hatte offensichtlich die volle Wucht der Explosion abbekommen. Vom Gesicht war nicht mehr viel übrig, ebenso wie vom Rest der vorderen Körperseite. Harald reichte Marie ein Paar Einmalhandschuhe. Sie seufzte, zog sie an und durchsuchte die Taschen des Toten – oder was davon übrig war.
In der Brusttasche des Jacketts wurde sie fündig. Mit spitzen Fingern holte sie eine schwer beschädigte, blutige Brieftasche hervor. Sie klappte sie auf. »Hier ist ein Personalausweis.«
»Türkisch?«
»Deutsch. Ibrahim … Den Rest kann ich nicht lesen. Geboren 57.«
»Kannst du die Ausweisnummer entziffern?«
Marie nickte und las sie vor.
Harald schrieb sie auf, zog sein Mobiltelefon heraus und wählte eine Nummer. »KHK Grossmann, LKA 41«, sagte er. »Ich habe hier eine Perso-Nummer, dazu bräuchte ich Name, Anschrift, Strafregister. Ja, kann losgehen.« Er schrieb, bedankte sich und legte auf.
»Ibrahim Kabaoglu«, sagte er. »Wohnt in Wilhelmsburg. Verheiratet, ein Sohn, eine Tochter. Keine Einträge.«
Marie sah auf den Toten hinunter und runzelte die Stirn. »Glaubst du, ein unbescholtener Familienvater wird auf einmal zum Bombenleger?«
»Bist du jetzt nicht ein bisschen voreilig?«
»Hast du mich nicht nach meinen Instinkten gefragt?«
Harald schüttelte langsam den Kopf. »Ist das Instinkt oder Vorurteil?«
Marie seufzte. »Ich weiß es nicht. Aber wir werden diese Frage sehr schnell beantworten müssen. Dir ist klar, was morgen in der Bild-Zeitung stehen wird, oder?«
»Die ›Bild‹ interessiert mich nicht. Was mich interessiert, ist –«
Marie hob den Arm und winkte. »He, hierher!«, rief sie und lief los.
Harald Grossmann seufzte.
Marie stoppte die drei Männer in orangen Overalls, die mit einer Trage und Notfalltaschen beladen durch eine der rückwärtigen Türen in die Halle traten und sich suchend umblickten.
Sie zeigte ihren Dienstausweis. »Schwartz, Kriminalpolizei. Die leitende Notärztin hat uns gebeten, Ihnen einen Patienten mit hoher Priorität zu übergeben.«
Der Notarzt – ein älteres Semester mit gepflegtem grauem Bart – sah sie über den Rand seiner Nickelbrille prüfend an. »Machen Sie neuerdings Botengänge für die Notärzte?«
»Nur ausnahmsweise. Es ist wirklich dringend.«
Er nickte knapp. »Zeigen Sie mal.«
Gemeinsam liefen sie zu Boskop. »Der da«, sagte Marie.
»Provisorisch drainierter Spannungspneu, Verdacht auf Milzriss«, brüllte jemand über den Lärm hinweg. Es war Tim, der neben einem anderen Patienten aufgestanden war und auf Boskop deutete. Die Finger seines Latexhandschuhs waren blutrot. »Dormicum und Ketanest sind drin. Schnappt ihn euch und gebt Gas, dann hat er noch eine Chance!«
Mit geübten Bewegungen untersuchte der Notarzt den Mann, dann nickte er seinen Kollegen zu. »Er hat recht. Das muss jetzt schnell gehen. Pit, lauf los und bereite den Start vor.«
Der Hubschrauberpilot nickte knapp. »Anmeldung in der Unfallklinik Boberg?«, fragte er.
»Ja. 20 bis 30 Prozent Verbrennungen zweiten und dritten Grades und Polytrauma.«
Der Pilot eilte davon. Der Arzt tauschte die leere Infusion gegen einen frischen Beutel und hob den Patienten gemeinsam mit seinem Sani auf die Trage. »Vier Mann, vier Ecken. Rollen geht hier nicht«, sagte er.
Marie und Harald packten mit an, und zu viert trugen sie den Patienten, so schnell es ging, über die Trümmer zu einem Durchgang in der Rückwand der Halle. Kaum hatten sie ihn passiert, war es, als träten sie in eine andere Welt: glänzender Steinfußboden, verglaste Wartezonen, schicke Boutiquen. Und Stille. Nichts deutete darauf hin, dass keine 50 Meter weiter die Hölle losgebrochen war. Abgesehen von den Hubschrauberbesatzungen und Feuerwehrleuten, die an ihnen vorbeihasteten.
»Da vorne die Treppe runter«, sagte der Notfallsanitäter, der am Kopfende neben Harald trug.
Unten befand sich ein weiteres Gate mit einem direkten Zugang zum Vorfeld. Draußen erwartete sie bereits der Pilot, der Marie die Trage abnahm.
Der Doc deutete auf die Infusion, die auf dem Bauch des Patienten lag. »Zusammenpressen«, sagte er. »Ich will, dass die leer ist, wenn wir am Heli sind.«
Marie drückte den Beutel mit beiden Händen zusammen, während sie neben der Trage über das Rollfeld lief. Als sie an dem orangefarbenen Rettungshubschrauber ankamen, schmerzten ihre Finger.
Eine Minute später hoben Marie und Harald die Arme schützend vor das Gesicht, während der Helikopter abhob und der Wind der Rotoren an ihnen zerrte.
Die LNA fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Kommt, lasst es. Hat keinen Zweck.«
Mark drückte noch einige Male auf den Brustkasten des Endzwanzigers vor ihm, warf einen prüfenden Blick auf den EKG-Monitor, der eine schnurgerade Linie zeigte, und richtete sich auf. »Ach, Scheiße!« Er zog die Latexhandschuhe aus und warf sie heftig auf den Boden.
»Kann man nichts machen«, sagte Tim.
»Sieh an, deine neue Flamme ist wieder da.«
»Was für eine Flamme, bitte schön?«
»Na, die Kriminalzicke mit der engen Jeans.«
»Na ja.«
»Was war das vorhin?«
»Wieso? Was soll gewesen sein?«
»Komm schon. Da läuft doch was.«
Tim sah Marie nach, wie sie mit ihrem Kollegen durch die Trümmer streifte und hin und wieder in die Knie ging, um etwas genauer zu untersuchen. »Schön wär’s.«
»Mann, du hast es echt mit den Frauen«, sagte Mark.
»Besser als du.«
»Deshalb bleibe ich bei den Männern.«
»Sollte ich auch mal versuchen. Würde manches vereinfachen.«
»Nee, lieber nicht«, sagte die LNA und stand auf.
»Was?«
Sie grinste und ging. »Kommt ihr? Die Arbeit ruft!«
Notärzte waren ein seltsamer Haufen.
Langsam ließ er den Wagen ausrollen, zog die Handbremse an und drehte den Schlüssel aus dem Zündschloss.
Er hatte es getan. Er hatte es wirklich getan.
Es war gar nicht schwer gewesen. Koffer auf, Paket rein, Koffer zu. Was war schon dabei?
Der Rest lag in Allahs Händen allein. Und die Wege des Allwissenden waren voller Wunder. Was der Schöpfer, der ewig Bleibende, der Glorreiche für ihn bereithielt, das hätte er niemals gedacht. Dass er ihn in seiner unendlichen Weisheit auf den gerechten Pfad führte und ihn mit Männern zusammenbrachte, die ebenso entschlossen waren, für ihren Glauben zu kämpfen, wie er. Männer, in deren Stärke, Mut und Unerschütterlichkeit er ein Vorbild gefunden hatte.
Sie würden stolz auf ihn sein.
Allah würde stolz auf ihn sein.
Er blickte aus dem Fenster auf die endlos lange, beige gestrichene Betonfront der Werkshalle vor ihm. Er war spät dran, Schichtbeginn war in nicht einmal 15 Minuten.
Aber arbeiten? Heute? Er brannte darauf, seinen Brüdern die guten Neuigkeiten zu überbringen. Er sah auf die Uhr. In ein, zwei Stunden konnte er sie in der Moschee treffen. Vorher noch zur Arbeit? Ach was. Kurz entschlossen ließ er das Auto wieder an, setzte zurück und schlitterte übermütig mit quietschenden Reifen auf die Straße.
Kapitel 2
20. Mai
Marie und Harald waren die letzten, die den Konferenzraum betraten. Sie grüßten und entschuldigten sich für die Verspätung.
»Macht nichts«, sagte Kriminaloberrat Decker. Er war heute Polizeiführer vom Dienst und hatte vor Ort den Einsatz geleitet. Ein hohes Tier, aber ein netter Mensch. Vorausgesetzt, man folgte seinen Anordnungen.
Mit Decker am runden Besprechungstisch saß ihr Team der dritten Mordbereitschaft: Leiter Arthur Thewes und die Kollegen Markus Schnittgereit und Johannes Tritscher. Außerdem ein Kollege und eine Kollegin, die Marie vom Sehen kannte, aber nicht einordnen konnte, und ein uniformierter Polizist, dessen fünf silberne Sterne an der Schulter ihn als Ersten Kriminalhauptkommissar auswiesen. Seinen Ärmel zierte ein Wappen mit dem Bundesadler. Bundespolizei also. Er war um die 50, hatte einen kahlgeschorenen Schädel und ausgeprägte Lachfalten. Es war nicht ein Staubkorn auf der Uniform, und er war der Einzige, der nicht nach Rauch und Tod stank wie alle anderen am Tisch, Decker eingeschlossen.
Marie und Harald setzen sich.
Decker räusperte sich. »Gut, dann können wir ja anfangen.« Er griff zu einer Fernbedienung und schaltete den Beamer ein, der unter der Decke hing.
»Sie alle wissen, warum wir hier sind: Heute Morgen um 7.37 Uhr ist eine Bombe im Check-in-Bereich des Terminals 1 im Helmut-Schmidt-Flughafen Hamburg explodiert. Die Anzahl der Todesopfer beläuft sich derzeit auf 17, die Anzahl der Verletzten auf rund 140. Wir müssen damit rechnen, dass noch einige von ihnen ihren schweren Verletzungen erliegen werden. Der Ort der Explosion war genau hier.«
Decker drückte auf eine Taste an seinem Notebook. Der Beamer warf einen Grundriss des Terminals auf die Leinwand. Links schlossen sich die Sicherheitskontrollbereiche an, oben der Ladenbereich mit den Rolltreppen zu den Restaurants und unten die Zufahrt. In der rechten unteren Ecke war eine rote Markierung, auf die Decker jetzt deutete.
»Wie Sie sehen – und die meisten von Ihnen auch vor Ort feststellen konnten – ist der Bereich in unmittelbarer Nähe des Infoschalters vor Check-in-Bereich drei. Dieser wird von einer Reihe von Fluggesellschaften, unter anderem Turkish Airlines, genutzt. Der Bereich wird natürlich videoüberwacht, aber leider sind die Kameras ziemlich weit weg, sodass die Bildqualität nicht optimal ist. Die folgenden Aufnahmen setzen etwa 30 Sekunden vor der Detonation ein.«
Der Grundriss auf der Leinwand machte einem Videobild Platz. Die Kamera musste ungefähr in der Mitte der verglasten Hallenfront in einigen Metern Höhe montiert sein, sie zeigte den Check-in-Bereich schräg von oben. Noch war eine Totale des Bereichs zu sehen, aber einige Sekunden nach dem Start des Videos schwenkte und zoomte sie näher an die Szene. Offenbar hatte etwas die Aufmerksamkeit des Operators erregt.
»Bitte beachten Sie diese beiden Männer«, sagte Decker und markierte mit einem Laserpointer zwei Gestalten, die beide eine Hand am Ausziehgriff desselben Rollkoffers hatten.
Die Männer gestikulierten, offensichtlich im Streit. Die Gesten wurden ausladender, beide zerrten an dem Koffer, der zwischen ihnen hin und her gerissen wurde. Die Kamera ging nahe heran und folgte der Auseinandersetzung.
Einer der Männer ließ den Koffer los und fiel nach hinten, aus dem Sichtbereich der Kamera heraus.
Keine zwei Sekunden später wurde die Leinwand übergangslos grellweiß. Als das Bild zurückkehrte, zeigte es nur Rauch und Staub. Decker stoppte die Wiedergabe, bevor die Wolke sich gelegt hatte, und ersparte ihnen die grausigen Bilder, die sie ohnehin alle kannten und die sie noch lange mit sich herumtragen würden.
»Wie Sie sehen, können wir auf den Aufnahmen nicht unmittelbar erkennen, ob der Koffer, um den die beiden sich stritten, der Ausgangspunkt der Explosion war. Unsere Spezialisten hegen daran aber kaum Zweifel. Über die Machart der Bombe wissen wir noch nichts. Bei den Männern handelt es sich vermutlich um einen Wolfgang Boskop, deutscher Staatsbürger, und um einen Deutschtürken namens Ibrahim Kabaoglu. Boskop lebt, ist jedoch in kritischem Zustand. Kabaoglu ist tot. Er hinterlässt eine Frau und eine Tochter, die ebenfalls am Flughafen waren und derzeit psychologisch betreut werden, sowie einen Sohn. Sie alle wissen, dass wir mit massiven Vorverurteilungen vonseiten der Presse und der Bevölkerung konfrontiert sein werden. Wir haben einen Moslem und wir haben eine Bombe, für viele reicht das, um einen islamistischen Terroranschlag anzunehmen. Ich muss Ihnen sicherlich nicht sagen, dass uns das nicht zu interessieren hat. Unser Einsatz dient der Wahrheitsfindung, sonst nichts.
In Absprache mit der Polizeiführung haben wir auf die Einrichtung einer Sonderkommission verzichtet. Der Grund: Nach allem, was wir bisher wissen, handelt es sich um einen Einzeltäter. Wir haben bislang keinerlei Hinweise gefunden, dass es Hintermänner gibt. Trotzdem wird dieser Fall ein wenig über den Rahmen des Üblichen hinausgehen: Wir haben eine große Menge an Zeugen und Betroffenen, die alle vernommen werden müssen, und die Presse wird jeden unserer Schritte genau beobachten, ganz zu schweigen von Polizeipräsident und Innensenator. Seien Sie sich dessen bitte bewusst, und fordern Sie bei Bedarf zeitig weitere Kräfte an. Mit dabei ist der polizeiliche Staatsschutz in Gestalt des LKA 7. Herr Behrend und Frau Zander waren heute vor Ort, vielleicht hat der eine oder andere sie schon am Flughafen gesehen.«
Die beiden Kollegen nickten in die Runde.
»Und da der Tatort der Flughafen war, ist auch die Bundespolizei mit an Bord. Im Grunde fällt die Angelegenheit in ihren Zuständigkeitsbereich, aber da die Bundespolizei keine Tötungsdelikte bearbeitet, sind wir übereingekommen, dass die Sache von uns geführt wird. Wenn Sie irgendetwas von der BuPol brauchen, wenden Sie sich am besten an Herrn Kubicki.«
Der Bundespolizist nickte. »Gerne. Und entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug. Hätte ich gewusst, dass es hier so leger zugeht, hätte ich mir kein Bein ausgerissen, um noch zu duschen und die Uniform zu wechseln.«
Alle lachten.
»Wie Herr Decker ganz richtig sagte, liegt der Fall eigentlich bei uns, aber wir sind ganz froh, dass Sie sich darum kümmern. Wenn Sie die Kollegen von der Flughafenwache vernehmen wollen oder Augen und Ohren vor Ort brauchen, koordiniere ich das gerne für Sie.«
»Sehr schön, vielen Dank«, sagte Decker. »Auch von meiner Seite kann ich Ihnen allen volle Unterstützung zusichern: Sagen Sie, was und wen Sie brauchen, und Sie werden es bekommen. Also alles wie immer.«
Verhaltenes Lachen. Die prekäre Finanz- und Personallage der Polizei war ihnen allen bekannt.
»Noch Fragen? Gut. Ich übergebe die Leitung des Einsatzes hiermit an Herrn Thewes von der Mordermittlungsgruppe drei.«
»Danke«, sagte Arthur. »Wie gesagt, sieht es vom ermittlungstechnischen Standpunkt her nicht kompliziert aus. Sprengstoffexperten und die Spürhunde haben jede Ecke und jeden Winkel des Flughafens abgesucht, ohne einen Hinweis auf Mittäter oder eine weitere Bombe zu finden. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich um einen Selbstmordanschlag handelt, womit wir keinen flüchtigen Täter mehr suchen müssten. Alleine der große Umfang des Tatorts, der Spuren und der Zeugen und nicht zuletzt, wie Herr Decker schon sagte, die große Aufmerksamkeit, die unserer Arbeit zuteilwird, machen die Sache aufwendig.« Er wandte sich an den Bundespolizisten. »Herr Kubicki, könnten Sie die Befragung der Angestellten am Flughafen übernehmen? Ihre Leute sind näher dran, man kennt sie, und Sie würden uns damit sehr helfen.«
Kubicki nickte. »Natürlich. Ich habe damit gerechnet, meine Leute sind bereits unterwegs.«
»Vielen Dank. Herr Behrend, Frau Zander, wie stellt sich die Sache aus Sicht des Staatsschutzes dar?«
Zander winkte ab. »Diffus. Ich wünschte, wir könnten Ihnen etwas anderes sagen, aber die Sache hat uns ziemlich kalt erwischt.« Sie war eine kleine rundliche Frau Anfang 40 mit kurzen dunklen Haaren. Obwohl sie entspannt auf die Unterarme gestützt am Tisch saß, strahlte sie eine ungeheure Dynamik aus.