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»Wo ist eigentlich Ihr Sohn? Sollte er nicht bei Ihnen sein?«, fragte Harald.
Şahika antwortete für ihre Mutter. »Er war gestern hier und sagte, er müsse heute arbeiten und könne nicht freinehmen.«
»Könnten Sie uns bitte seine Anschrift und seine Telefonnummer geben? Wir würden uns gerne auch mit ihm unterhalten.«
Harald notierte die Nummer, die Şahika nannte.
Marie stand auf. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Gibt es noch etwas, was wir für Sie tun können?«
»Mein Ibrahim«, sagte Frau Kabaoglu. »Können wir ihn bald bekommen? Der Koran sagt, Tote sollen schnell begraben werden. Ist schon ganzer Tag jetzt.«
»Es tut mir leid, aber das wird leider dauern. Der Leichnam Ihres Mannes muss genau untersucht werden.«
»Wird mein Ibrahim gut behandelt?«
»Wie bitte?«
»Gut behandelt. Ich habe gehört, dass Deutsche sagen, Tote sind nur noch …«, sie suchte nach einem passenden Wort, »… Ding. Für Moslem, Toter muss Respekt bekommen, weil Seele noch da ist.«
»Frau Kabaoglu, ich versichere Ihnen, die Rechtsmediziner werden Ihren Mann mit dem größten Respekt behandeln. Die Untersuchungen sind wichtig. Ihr Mann beziehungsweise sein Körper kann uns Hinweise darauf geben, was geschehen ist. Er hilft uns.«
Frau Kabaoglu nickte. »Das ist gut. Dann wird Allah vergeben, dass er so spät begraben wird.«
Marie und Harald verabschiedeten sich. Şahika brachte sie bis zur Wohnungstür. Kaum hatten sie das Wohnzimmer verlassen, kamen die drei Besucherinnen aus der Küche, verabschiedeten sich höflich von den beiden und liefen ins Wohnzimmer, wo sie das unterbrochene Gespräch fortsetzten. Marie konnte sie nicht verstehen, aber sicher wollten sie jedes Detail über den Besuch der Polizei wissen.
»Vielen Dank für die Hilfe«, sagte Marie zum Abschied. »Wir werden uns wieder bei Ihnen melden. Bis dahin wünsche ich Ihnen alles Gute und viel Kraft.«
Sie gingen zurück zum Auto. »Kommt dir das nicht auch seltsam vor?«, fragte Harald. »Dass der Sohn sagt, er bekomme nicht frei, obwohl sein Vater gestorben ist? Ich meine, selbst wenn es so wäre – jeder normale Mensch pfeift doch auf so etwas.«
Marie warf Harald den Schlüssel zu. »Schon. Vielleicht ist er einer von der ganz ehrgeizigen Sorte?« Sie stiegen ein.
»Also …« Harald ließ den Motor an.
»… auf zu Altay Kabaoglu«, ergänzte Marie.
Harald zog vom Parkplatz auf die Fahrbahn und steuerte in Richtung der Wilhelmsburger Reichsstraße, der Schnellstraße von Wilhelmsburg nach Harburg.
Sie fuhren eine Viertelstunde bis zum Mercedes-Werk. Obwohl hier nur Teile und keine kompletten Autos gefertigt wurden, hatte das Gelände eine beeindruckende Größe. Sie brauchten weitere 20 Minuten, bis sie die richtige Halle, und noch einmal fünf, bis sie den Vorarbeiter gefunden hatten.
»Altay?«, fragte der Vorarbeiter und stemmte die Arme in die Hüften. »Wenn Sie den finden, dann sagen Sie ihm, er soll auf der Stelle antanzen und sich seinen Einlauf abholen. ’tschuldigung, seine Abmahnung.« Er blinzelte zu Marie.
»Sie meinen, er ist nicht aufgetaucht?«
»Nee. Gestern nicht und heute auch nicht. Was hat er denn ausgefressen?«
»Wir führen nur einige routinemäßige Befragungen durch. Ist Ihnen in den letzten Tagen etwas an Altay aufgefallen?«
Der Vorarbeiter spitzte die Lippen und ließ den Atem entweichen. »Also, ein bisschen komisch war er schon.«
Marie und Harald wechselten einen raschen Blick.
»Inwiefern?«, fragte Harald.
»Na ja, er war irgendwie nicht richtig bei der Sache. Ist sonst ein prima Kerl und immer voll dabei. Leistet gute Arbeit, wirklich. Aber in den letzten Tagen … Er war ganz woanders mit seinem Kopf. Und in jeder Pause ist er raus, dabei raucht er gar nicht mehr. Ich glaube, er hat telefoniert.«
»Wissen Sie, mit wem?«
»Nee, keine Ahnung.«
»Könnten Sie uns bitte informieren, wenn Herr Kabaoglu wiederauftaucht? Wir würden ihm gerne ein paar Fragen stellen. Hier ist unsere Visitenkarte.«
»Klar«, sagte der Vorarbeiter und steckte die Karte in die Brusttasche seiner Latzhose.
»Vielen Dank.«
»Ist ein guter Kerl.«
»Wie bitte?«
»Altay. Ist ein guter Kerl. Das mit der Abmahnung nehmen Sie man nicht zu ernst.«
»Natürlich.«
Sie fuhren zu Altays Wohnanschrift und klingelten. Keine Antwort.
»Habe ich mir schon gedacht«, sagte Harald und drückte zum dritten Mal den Klingelknopf.
»Zu wem wollen Sie?«, fragte jemand hinter ihnen.
Sie drehten sich um. Eine ältere Frau blickte halb misstrauisch, halb neugierig zwischen ihnen hin und her.
»Zu Herrn Kabaoglu«, sagte Marie.
»Der ist nicht da. Soll ich ihm etwas ausrichten?«
»Nein, danke. Wir kommen später wieder.«
»Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?«
»Wir wollten mit Herrn Kabaoglu über die Bibel sprechen«, sagte Marie. »Es ist nie zu spät, gerettet zu werden. Wie steht es um Ihr Seelenheil?«
»Gott bewahre«, schnaubte die Frau und verschwand im Haus.
»Marie«, tadelte Harald sie, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen.
»Ach, ich kann diese neugierigen alten Schachteln nicht ab.«
»Und wenn wir sie noch befragen müssen?«
»Schicken wir die Evangelisten Johannes und Markus.«
Sie setzten sich in den Wagen. Harald zog sein Telefon heraus und wählte Altays Mobilnummer. Über die Freisprechanlage hörten sie die Ansage: »Diese Nummer ist zurzeit nicht erreichbar.«
»Aha«, sagte Harald. »Allmählich wird es auffällig, meinst du nicht?«
»Ja, scheint fast, als wolle er nicht gefunden werden.«
»Mich würde interessieren, mit wem er die letzten Tage telefoniert hat.«
»Lass es uns herausfinden.«
Seit dem Anruf am Vortag hatte Altay gebetet, so oft er konnte und die Vorschriften es zuließen. Um Vergebung, dass er seinen Vater getötet hatte. Um Verständnis, dass er es nicht mit Absicht getan hatte. Aus Dankbarkeit, weil Schwester und Mutter lebten. Und für eine Eingebung, wie er mit seinen Glaubensbrüdern umgehen sollte.
Es war nicht recht, was sie getan hatten. Ungläubigen den Tod zu bringen, war gerecht und gottgefällig, aber es waren nicht nur Ungläubige in die Hölle geschickt worden. Sein Vater und viele der Toten waren gläubige Moslems – manche zwar nicht auf dem rechten Pfad der Tugend, den Versuchungen der Heiden anheimgefallen, schwach im Glauben und unwillig zu kämpfen. Aber musste ein gerechter Krieg nicht bei den Leugnern und Heiden, den falschen Propheten und Verkündigern der Sünde anfangen? Das Übel an der Wurzel ausreißen?
Wie konnten sie ihn nur so benutzen? Sie wollten ihm nicht sagen, was in dem Paket war, das er in den Koffer gelegt hatte. Was du nicht weißt, kannst du nicht verraten, hatten sie gemeint. Was sollte in so einem Paket schon sein? Geld wahrscheinlich. Oder Drogen, um ihren heiligen Krieg zu finanzieren. Das hatte er vermutet und es nicht genauer wissen wollen.
Aber Sprengstoff? Er war bereit, Ungläubige zu töten, ja, das war er. Sie hätten ihn nur fragen müssen, und er hätte den Sprengstoff am Flughafen versteckt und eigenhändig gezündet. Aber so?
»Allah ist mit dir. Du hast Großes vollbracht. Unsere Bewunderung und Dankbarkeit wird dir für immer sicher sein.«
Lächerlich! Bewunderung? Dankbarkeit? Wofür? Dafür, dass er ein nichtsahnender nützlicher Idiot war? Dafür, dass er keine Fragen stellte?
Sie hatten ihn geopfert. Ein Bauernopfer, das sie jetzt mit Geld und falschen Papieren abspeisen wollten. Ihm zur Flucht verhelfen, ja, das war bequem. Wahrscheinlich wäre es ihnen am liebsten gewesen, wenn er gleich mit in die Luft geflogen wäre. Oder war das sogar ihr Plan gewesen? Die ganze Familie am Flughafen, fröhlich, vollkommen unverdächtig, und dann – bumm!
Und jetzt hing die verdammte Polizei vor seiner Wohnung herum. Sie trugen Zivil, aber es waren Polizisten, ganz sicher. Er hatte nur ein paar Sachen von zu Hause holen wollen, bevor er endgültig untertauchte, doch daraus wurde nun nichts mehr. Sie waren auf seiner Fährte. Er konnte nirgends mehr hin, wo man ihn vermutete, mit niemandem reden, den er kannte, nichts tun, was verdächtig war. Nicht einmal seinen Vater zu Grabe tragen.
Und das war nur ihre Schuld.
Tim schloss die Wohnungstür hinter sich und warf den Schlüssel auf die Flurkommode. Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich aufs Sofa, legte die Füße hoch und trank einen großen Schluck.
Der heutige Tag war im Vergleich zu gestern ruhig gewesen. Einiges an Kleinkram – ein umgeknickter Knöchel, eine Platzwunde und ein Verkehrsunfall mit einer Person, die Schmerzensgeld witterte, jedoch offensichtlich unverletzt war. Dazu einige ernst zu nehmende Einsätze – Asthma, Herzprobleme, ein gebrochenes Bein nach Motorradunfall.
Trotzdem war Tim rechtschaffen fertig, und er fragte sich warum. Klar, das Ding am Flughafen war nicht ohne gewesen, aber kein Grund, in den Seilen zu hängen. Lag es an der Sache mit Marie?
Er stand auf, ging zum Schlafzimmer und lehnte sich an den Türrahmen. Er hatte das Bett gestern Abend noch frisch bezogen – er hatte es nicht ertragen, ihren Geruch um sich zu haben. So großartig die Nacht gewesen war, so ernüchternd war der Morgen. Machte ihm die Abfuhr so zu schaffen? Er überlegte. Nein, sicher nicht. Damit konnte er leben. Auch er war das eine oder andere Mal vor dem Frühstück gegangen – das war halt so bei One-Night-Stands.
Er ging zurück ins Wohnzimmer und ließ sich wieder aufs Sofa fallen. Die Bierflasche schäumte über, und er bemühte sich, den Schaum aufzuschlürfen, bevor er auf den Boden tropfte.
One-Night-Stand – ja, das war es wohl gewesen. Von Zeit zu Zeit ganz okay, wenn man solo war, aber nur, solange keiner von beiden mehr erwartete.
Und nun hatte es ihn erwischt. So fühlte sich das also an.
Er ging in die Küche und holte Gemüse aus dem Kühlschrank. Kochen, fand er, war eine wunderbare Sache, um die Nerven zu beruhigen. Gemüse schnippeln hatte für ihn etwas geradezu Meditatives. Er hatte das Gefühl, die Pesto-Gemüsepfanne würde heute Abend ziemlich groß ausfallen.
Das Telefon klingelte. Er ging ran, ohne vorher auf die Nummer zu sehen. Großer Fehler.
»Roth.«
»Ich muss mit dir reden.«
Natürlich. Welchen Grund sollte man sonst haben, jemanden anzurufen? Von Liebesgeflüster konnte sicher keine Rede sein, wenn die Ex anrief.
Tim verbiss sich einen Kommentar. »Was gibt’s?«, fragte er.
»Das Wochenende. Es wird nichts.«
»Aber …« Er rammte das Gemüsemesser ins Brett und ging ins Wohnzimmer. »Es ist mein Wochenende! Das kommt überhaupt nicht infrage!«
»Melanie will unbedingt auf diesen Reiterhof. Du kannst ihr gerne sagen, dass das nicht geht. Soll ich sie holen?«
»Und auf die Idee mit dem Reiterhof ist sie ganz alleine gekommen, richtig?«
»Jaqueline geht da hin und sie möchte Melanie mitnehmen.«
»Schackeline ist eine dumme Ziege, genau wie ihre Mutter.«
»Jaqueline ist zufällig Melanies beste Freundin.«
»Nein, Schackelines Mama ist deine beste Freundin. Gib ihr einen Tritt von mir, sie sitzt ja garantiert neben dir.«
Kurze Stille. »Es ist besser, wenn du auf das Wochenende verzichtest. Für Melanie.«
»Für dich, meinst du. Weil du mir mal wieder eins auswischen willst.«
»Das ist doch lächerlich. Warum sollte ich dir eins auswischen wollen?«
»Lass mich überlegen … Weil du mich zwingen wolltest, meinen Job aufzugeben?«
»Wenn man eine Familie will, muss man eben Zugeständnisse machen.«
»Komisch. Meine Kollegen kriegen das prima unter einen Hut.«
»Also, was ist jetzt mit dem Wochenende?«
»Ich hole sie am Freitag ab. Punkt.«
»Tja, das wird leider nichts, wir fahren am Donnerstag.«
»Petra, möchtest du, dass ich mit dem Jugendamt vor der Tür stehe? Frau Berger hat deine Nummer doch schon auf der Kurzwahltaste.«
»Du willst wirklich die Mutter deines Kindes beim Jugendamt denunzieren? Was bist du nur für ein Vater!«
»Gib mir die Adresse des Reiterhofs, ich hole …«
Es klickte im Telefon, dann war die Leitung unterbrochen.
Fassungslos sah Tim den Hörer an, dann feuerte er ihn auf das Sofa und fluchte, was das Zeug hielt.
Anschließend nahm er die Jacke vom Haken. Er brauchte jetzt keine meditative Gemüsepfanne, er brauchte Ablenkung. Und ein paar Bier. Beides würde er im »Eden« finden. Plus einen fetten Burger.
Kapitel 4
22. Mai
»Rechts ran, du Schnarchnase!«, brüllte Tim.
»Nun mal sachte«, sagte Mark. »Wo soll er denn hin?«
»Weg.« Tim hieb auf die Hupe, aber deren Laut ging im Lärm des Einsatzhorns unter. Quälend langsam sortierten sich die Autos vor ihnen, bis sich der Rettungswagen endlich wieder in Bewegung setzen konnte.
»Nur Sonntagsfahrer unterwegs«, brummte Tim, lehnte sich vor und blickte links und rechts in die Kreuzung, bevor er über die rote Ampel fuhr.
»Rechts ist frei«, sagte Mark. »Hast du schlecht geschlafen oder was?«
»Nee. Weiß nicht. Nicht mein Tag.«
»Wir sollten dich in die Leitstelle setzen, dann traut sich keiner mehr, die 112 anzurufen.«
»Ist ja gut. Wir sind da.«
Die Leitstelle hatte ihnen eine »Hilope« hinter dem Einkaufszentrum Hamburger Meile gemeldet – eine hilflose Person. Das konnte alles Mögliche heißen, aber in den meisten Fällen bedeutete es einen sturzbesoffenen Patienten.
Und auch dieses Mal wurden ihre Erwartungen nicht enttäuscht.
Als sie ausstiegen, wurden sie von einer besorgten jungen Frau auf ein paar Füße aufmerksam gemacht, die aus einer Hecke ragten. »Ich habe ihn gefragt, ob es ihm gut geht, aber er antwortet nicht richtig«, sagte sie. »Er macht einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Ich will ihm nicht Unrecht tun, aber ich glaube, er ist betrunken.«
»Na, dann schauen wir ihn uns mal an.« Mark dankte der jungen Frau, die davoneilte, froh, die Verantwortung los zu sein.
Den Patienten hätten sie auch ohne die Füße in der Hecke schnell gefunden: immer dem Geruch nach. Eine wilde Mischung aus verschüttetem Fusel, Eau de Ungewaschen und altem Urin.
Sie traten an die kniehohe Hecke, über die ihr Kunde offenbar hintenüber gekippt war. Er war weich auf einem Bett aus immergrünen Bodendeckern gelandet und schien kein Problem damit zu haben.
»Mohoin!«, sagte Mark. »Alles klar bei dir?«
Der Angesprochene, dessen Aussehen seinem Geruch um nichts nachstand, lallte heiser. Tim und Mark zogen Latexhandschuhe an und stiegen über die Hecke in das Beet. Sie fassten den Mann unter den Armen und setzten ihn auf.
»Wir haben heute aber reichlich früh angefangen, was? Ist ja noch nicht mal elf.«
»Kannst du stehen?«, fragte Tim.
Der Mann öffnete mühsam die Augen, blinzelte Tim an und fluchte auf Russisch. Oder Polnisch. Oder so. Tim hielt die Luft an, denn der Mundgeruch des Mannes war noch unerträglicher als seine sonstigen Ausdünstungen.
»Sprichst du Deutsch?«, fragte Mark.
»Hä?«
»Deu-heutsch!«, sagte Tim. »Verstehst du mich?«
»Fick dich in Arsch, Hurensohn!«, lallte der Mann.
»Dir auch einen schönen guten Morgen. Aufstehen?«
»Fick dich!«
»Eins, zwei, drei!« Sie hoben den Mann auf die Beine.
»Na bitte, geht doch«, sagte Mark zufrieden. Ein Besoffener, der noch auf zwei Beinen stehen konnte, war nichts für den Rettungswagen und damit auf jeden Fall erfreulich.
Ihr Schützling wirkte weniger enthusiastisch. Er riss sich von Mark los und schlug mit der Faust nach Tims Gesicht, der ihn mit dem Unterarm abwehrte.
»Hey, was soll der Scheiß?« Tim stieß den Kerl von sich.
Der Mann taumelte rückwärts durch das Beet, brachte aber das Kunststück fertig, nicht umzufallen. »Fick dich, Hurensohn!«, brüllte er.
Tim hatte die Nase voll. »Schluss jetzt, Mann, benimm dich!«
Der Betrunkene lallte etwas, das wie »Hau auf Maul« klang, es konnte aber auch Russisch sein. Er holte wieder aus und machte einen Schritt auf Tim zu.
Tim trat zur Seite und sah seelenruhig zu, wie der Kerl das Gleichgewicht verlor, über die Hecke fiel und lang hinschlug. Vom Alkohol aller Schutzreflexe beraubt, bremste nur sein Gesicht den Sturz.
»Super«, sagte Mark. »Ganz toll, danke.« Er sprang über die Hecke, drehte den Mann auf die Seite und untersuchte ihn. Blut lief ihm aus der Nase, eine heftige Schürfwunde zierte seine Stirn.
»Was denn? Hätte ich mir noch eins in die Fresse geben lassen sollen?« Tim öffnete den Notfallrucksack und entnahm ihm Packungen mit Zellstoff-Mullkompressen, die er aufriss und Mark reichte.
»Lass uns das im Wagen diskutieren. Denn jetzt, und dafür noch einmal vielen Dank, haben wir den Knaben endgültig an der Backe.«
Der Besoffene pöbelte und ruderte mit den Armen. Offenbar hatte er die Verletzung noch nicht bemerkt – kein Wunder bei seinem Pegel. Tim holte die Trage, und ohne viel Federlesens packten sie den Mann bei den schmutzstarrenden Klamotten und hoben ihn darauf. Eine erneute osteuropäische Schimpfkanonade war die Folge. Sie schnallten ihn fest und schoben ihn in den Wagen, aber er ruderte wild mit Armen und Beinen, versuchte, sich an allem festzuhalten, was ihm in die Finger kam, und lallte Obszönitäten in verschiedenen Sprachen.
»Mann, jetzt halt doch einfach mal die Flossen still«, schnauzte Tim. »Glaubt du, uns macht das Spaß?«
Endlich hatten sie die Trage drin. Sie kletterten hinterher und schlugen die Türen zu. Tim ging ans Kopfende und tastete dem Mann den Gesichtsschädel ab, um festzustellen, ob etwas gebrochen war. Auch das stieß auf wenig Gegenliebe.
»Hast du mich gerade angespuckt?«, brüllte Tim. »Hast du mich ernsthaft gerade angespuckt? Versuch das noch einmal, und du lernst mich richtig kennen, Freundchen!«
»Heil Hitler«, grölte der Penner und knallte Tim den ausgestreckten Arm an den Kopf.
»So, jetzt ist Feierabend, Junge, ich …«
Mark packte Tim am Kragen und zog ihn vom Patienten weg. »Schluss jetzt, klar? Geh nach vorne und fahr los!«
»Mann, der Wichser hat versucht, mich anzuspucken!«
»Der Typ ist nicht das erste und nicht das letzte Arschloch auf dieser Trage. Reiß dich zusammen!«
»Ist ja gut.« Er schaute ihren Patienten an. »Und wehe, du kotzt mir in den Wagen! Ich feudel den mit dir aus, klar?«
»Fick dich, Hurensohn!«
Tim zeigte ihm den Mittelfinger und stieg aus, um zum Fahrerhaus zu gehen.
Sie brachten den Mann ins Krankenhaus Barmbek und kippten ihn dort nach der Übergabe unzeremoniell von der Trage auf eine der gummiüberzogenen Matratzen auf dem Boden des Ausnüchterungsraums. Das hatte Vorteile: Man musste die Patienten nicht noch einmal anfassen, und wenn man es geschickt anstellte, landeten sie recht sanft in der stabilen Seitenlage.
Zurück im RTW steckte Mark den Schlüssel ins Zündschloss, ließ den Wagen jedoch nicht an, sondern drehte sich zu Tim. »Was ist los mit dir?«
»Was soll los sein?«
»Junge, du kannst ein ziemliches Arschloch sein, aber heute bist du echt ein Mega-Arschloch.«
»Danke für die warmen Worte.«
»Du weißt, was ich meine. Liegt’s immer noch an deiner missglückten Liebschaft?«
»Quatsch, die kann mich an die Füße fassen. Und außerdem ist das meine Sache.«
»Ist es nicht, wenn es dich zum Arschloch macht. Du solltest darüber reden.«
»Bist du jetzt meine beste Freundin?«
»Ich bin zwar schwul, aber aufs Maul hauen kann ich dir trotzdem.«
»Ist ja gut. Nein, das ist es nicht.« Er lehnte sich zurück und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. »Petra hat gestern angerufen.«
»Sag nicht, sie hat schon wieder das Wochenende abgesagt.«
»Wundert dich das?«
»Mich wundert, dass du dir das gefallen lässt.«
»Was soll ich denn machen?«
»Dich nicht verarschen lassen.«
»Brillante Idee, danke. Können wir dann?«
Mark machte keine Anstalten, den Wagen zu starten.
»Was ist?«, fragte Tim. »Möchtest du noch ein paar von meinen Problemen lösen? Wir könnten mit dem Koffeinmangel anfangen.«
»Das ist nicht der einzige Grund.«
»Was?«
»Petra. Das kenne ich. Du brüllst den Verkehr an, du fährst wie ein Henker und du bist unausstehlich.«
»Ich fahre nicht wie –«
»Aber du lässt es nicht an den Patienten aus. Niemals.«
»Hör mal, der Typ hat’s verdient.«
»Bestreite ich nicht. Trotzdem ist das nicht deine Art. Macht dir der Einsatz am Flughafen zu schaffen?«
Tim zuckte die Schultern. »Nee. Nicht direkt.«
»Das klingt nicht überzeugend. Brauchst du wen zum Reden?«
»Quatsch. Alles im Lack. Aber irgendwie lässt mich die Sache nicht los.«
»Was für eine Sache? Der Einsatz? Deine Frau Kommissar?«
Tim schüttelte den Kopf und rieb sich die Schläfen. »Das ist es nicht. Ich komme einfach nicht drauf.«
»Dass die Notärztin dich angeflirtet hat?«
»Hat sie?«
»Ich bitte dich!«
»Nein, es ist … Kennst du dieses Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt, aber du weißt nicht, was?«
»Du meinst, außer dass ein Terrorist sich und das halbe Terminal 1 in die Luft gesprengt hat?«
Etwas machte »klick« in Tims Kopf. »Doch. Genau das.«
»Was willst du damit sagen?«
»Wenn du ein Islamist wärst und Ungläubige mit in den Tod reißen wolltest, wo würdest du das machen?«
»Na ja, Flughafen ist schon mal –«
»Turkish Airlines?«
Mark dachte kurz nach. »Eher nicht.«
Tim setzte sich kerzengerade auf. »Warum ist mir das nicht vorher aufgefallen? Das ist doch total widersinnig!«
»Bist du jetzt unter die Detektive gegangen? Vielleicht ist was schiefgelaufen. Terminal verwechselt oder Bombe zu früh explodiert.«
»Aber …«
»Ich bitte dich, Miss Marple, meinst du nicht, die von der Polizei kommen da von selbst drauf? Oder die vom Verfassungsschutz? Das sind Profis.«
»Und wenn nicht?«
»Und wenn doch? Tim, Selbstmordattentäter sind Idioten! Wer, der bei klarem Verstand ist, sprengt sich selbst in die Luft? Wie klar könntest du denken mit zehn Kilo Sprengstoff um den Bauch?«
Tim dachte nach. »Wahrscheinlich hast du recht.« Er drückte den Knopf für die Statusmeldung »wieder einsatzbereit« am Funkgerät.
Fast augenblicklich meldete sich die Leitstelle: »23 Berta für Florian Hamburg.«
Tim nahm den neuen Einsatz an, froh darüber, nicht weiter über das Thema reden zu müssen. Womöglich wäre das Gespräch erneut auf Marie gekommen, und darauf hatte er gar keine Lust.
Kapitel 5
22. Mai
Marie und die anderen Mitglieder der Mordbereitschaft – Harald, Johannes und Markus – saßen im Besprechungsraum und warteten auf ihren Chef. Es war 16.37 Uhr, auf 16.30 Uhr hatte Thewes eine Besprechung angesetzt.
»Hat Arthur gesagt, dass er später kommt?«, fragte Johannes.
Harald schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste.«
»Komisch. Ist doch sonst nicht seine Art.«
Die Tür flog auf und Arthur Thewes stürmte herein. »Sorry«, keuchte er, »bin zu spät.«
»Macht nichts«, sagte Johannes. »Kaffee?«
»Lieber ein Wasser. Danke!« Er nahm das angebotene Glas und trank es in einem Zug aus. »Wie sieht’s aus, was gibt’s Neues?«, fragte er.
»Es ist jetzt gesichert, dass die Bombe in dem Koffer war«, berichtete Markus. »Die Experten haben den Typ des Sprengstoffs ermittelt: Triacetontriperoxid, kurz TATP. Spitzname: ›Mutter des Satans‹. Hauptzutaten sind Nagellackentferner und Haarbleichmittel – einfach zu beschaffen, simpel in der Herstellung und hochwirksam. Es wurde bei den Terroranschlägen in London 2005 und Paris 2015 benutzt.«
»Also eine Substanz, mit der Islamisten Übung haben«, fügte Johannes hinzu.
»Nachteil: Der Sprengstoff ist höchst instabil. Erschütterung, Hitze oder Reibung reichen, und das Zeug fliegt einem gnadenlos um die Ohren.«
»Nichts für Amateure«, sagte Arthur.
»In der Handhabung nicht, in der Herstellung schon.«