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»Was sagen die Kollegen vom Staatsschutz? Spricht das für Islamisten?«
»Bedingt«, antwortete Markus. »Wie Johannes sagte: Es wird gerne vom IS verwendet, aber die haben kein Copyright darauf. Der Tatmodus ist nicht sehr typisch für Islamisten, doch wir wissen ja, dass die in Europa eher lose organisiert sind. Es gibt, sagen die Staatsschützer, kein verbindliches Handbuch für Sprengstoffanschläge. Abweichungen im Vorgehen sind zu erwarten.«
»Wie steht es mit dem Zünder?«
»Noch nichts. Die Kriminaltechnik arbeitet daran, zusammen mit einigen Spezialisten vom BKA.«
»Gut. Was machen die Vernehmungen?«
»Marie und ich waren bei der Familie des Gemüsehändlers Ibrahim Kabaoglu«, sagte Harald.
»Hat sich der Verdacht auf seine Täterschaft erhärtet?«
»Nicht wirklich.« Marie und Harald berichteten von ihren Vernehmungen und der Suche nach Altay Kabaoglu.
»Scheint, als wäre der Sohn eine heiße Spur«, sagte Arthur. »Was meint ihr?«
»Kann sehr gut sein«, sagte Marie. »Es ist auf jeden Fall vielversprechender als alles, was wir bisher hatten. Ibrahim Kabaoglu können wir nicht hundertprozentig ausschließen, aber wenn du mich fragst – ich glaube nicht, dass er’s war.«
»Was sagt POLAS über den Sohn?«
POLAS, das Polizei-Auskunftssystem, enthielt zu allen polizeilich bekannten Personen Daten wie Anschrift, Straftaten, verbüßte Haftstrafen und mehr. Das digitale Kerbholz jedes Sünders, den die Polizei in die Finger bekommen hatte.
»Nichts. Wir gehen gleich hoch zu den Kollegen vom Staatsschutz, vielleicht wissen die mehr.«
»Gut, macht das.« Arthur Thewes schabte sich mit der Hand über die Bartstoppeln am Kinn. »Ich schätze, ich schulde euch eine Erklärung, warum ich mir ausgerechnet heute den halben Tag freigenommen habe.«
Harald winkte ab. »Du wirst deine Gründe haben.«
»So ist es. Die beste Freundin meiner Frau war gestern am Flughafen.«
»Oh, Scheiße«, entfuhr es Markus, sein Partner nickte.
»Kann man wohl sagen. Dorothee hatte Frühschicht am Infoschalter in Terminal 1. Ihr könnt euch vorstellen, dass sie ordentlich was abgekriegt hat.«
Marie erinnerte sich an die türkische Stewardess. »Was ist mit Dorothee passiert?«, hatte sie gefragt. Jetzt wussten sie es. »Furchtbar«, sagte sie.
»Ja, ist es. Sie liegt im künstlichen Koma, und die Ärzte haben keinen Schimmer, was passiert, wenn sie versuchen, sie zu wecken. Susanne sitzt die eine Hälfte des Tages im Krankenhaus, die andere kümmert sie sich um Dorothees Mann und ihre Tochter.«
»Schon in Ordnung, wenn du dir freinimmst und Susanne unterstützt«, sagte Harald.
»Wenn’s nur das wäre. Ich muss mindestens zweimal am Tag mit der blöden Töle raus.«
Die blöde Töle hieß eigentlich Minnie, war eine Hundedame und Arthurs Zugeständnis an seine Frau, weil er ständig Überstunden machte. Auslöser waren Karten für die Elbphilharmonie gewesen, die Arthur zum Hochzeitstag mühsam und vermutlich unter Einsatz seiner Dienstwaffe beschafft hatte, die er aber wegen eines ganz mies getimten Doppelmords sausen lassen musste. Susanne war letztendlich mit Dorothee gegangen. Der Dorothee.
»Ach herrje«, sagte Harald, »mein Beileid!«
»Keine dummen Scherze, Dorothee ist schwer in Ordnung«, mahnte Arthur. »Ich mach’s ja nicht wegen der Töle, ich mach’s für Dorothee. Und Susanne natürlich.«
Klar. Wenn Marie sich recht erinnerte, war das grundlegende Problem mit der Töle, dass sie und Arthur einander heiß und innig liebten, was weder ihm noch Susanne recht war. Vor Zeugen würde er niemals zugeben, dass Minnie sein Herz im Sturm erobert hatte. Arthur gab nicht einmal zu, dass er überhaupt ein Herz hatte.
»Ein Grund mehr, diesen Fall so schnell wie möglich aufzuklären. Ich bin es Dorothee schuldig. Und ihr seid es mir schuldig. Bevor mich das Vieh wahnsinnig macht. Also, an die Arbeit.« Er stand auf.
Es klopfte und ein Kollege streckte den Kopf herein. »Ist Marie hier? Besuch für dich.«
»Besuch? Wer?«
Der Kollege stieß die Tür auf und trat beiseite, um dem Gast Platz zu machen.
Sie stöhnte. »Was willst du hier?«, fragte sie.
»Kann ich dich sprechen?«, fragte Tim. »Es hat mit dem Fall zu tun. Am Flughafen.«
Harald klopfte auf den Tisch. »Kollegen, wir haben zu tun. Marie, der Raum gehört dir.« Er ging hinaus, Arthur, Johannes und Markus folgten ihm, nicht ohne einen fragenden Blick auf Tim zu werfen.
Marie machte die Tür hinter ihnen zu. »Sag mal, hast du noch alle Tassen im Schrank? Mich hier im Büro zu stalken? Hast du eine Ahnung, wie viel wir hier um die Ohren haben?«
Tim verschränkte die Arme. »Jetzt mach mal halblang. Stalken – du hast doch einen an der Waffel.«
»Was willst du?«
»Wie gesagt: über den Fall reden.«
»Aha. Über den Fall.«
Tim warf sich auf einen der Stühle und stützte die Unterarme auf den Tisch. »Mir sind da ein paar Sachen aufgefallen.«
Marie lehnte sich an die Wand und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich höre.«
»Hast du mal darüber nachgedacht, wo genau die Bombe losgegangen ist?«
»Was?«
»Wo die Bombe losgegangen ist. Am Flughafen.«
»Komm, zieh hier keine Show ab. Worauf willst du hinaus?«
»Turkish Airlines.«
»Und?«
»Wieso sprengt ein Islamist ausgerechnet den Schalter der einzigen Airline in die Luft, die aus einem islamischen Land stammt?«
Marie stutzte einen Moment, dann fing sie sich wieder. »Wie kommst du auf die Idee, dass es ein islamistischer Anschlag war?«
»Sag mir nicht, dass ihr das nicht auch glaubt.«
»Du bist hier bei der Polizei, nicht in der Kirche. Wir brauchen Beweise.«
»Trotzdem. Seltsam, oder?«
»War das alles?«
Tim schwieg.
»Nochmal: Ist noch was?«
»Ist ein bisschen dumm gelaufen am Flughafen, oder?«, brummte er.
Sie stieß sich von der Wand ab. »Was?«
»Dumm gelaufen«, wiederholte er. »Mit uns beiden.«
»Mann, mit uns beiden ist schon viel früher was Dummes gelaufen.« Sie schüttelte den Kopf und lachte auf. »Ich fasse es nicht. Du kommst wirklich hier ins Präsidium und stalkst mich. Unglaublich.«
»Ich stalke nicht, ich würde nur gerne wissen –«
»Ich nicht«, sagte sie und öffnete die Tür.
Tim stand mit einem Seufzen auf, stützte sich auf den Tisch und sah Marie eindringlich an.
»Ich habe viel zu tun. Wenn du …«
»Ihr seid tatsächlich noch nicht auf die Idee gekommen, oder?«
»Was?«
»Turkish Airlines. Ich hab’s an deiner Reaktion gesehen. Du bist eine lausige Pokerspielerin.«
»Komm, lass gut sein. Wir machen unsere Arbeit, du machst deine.«
Er ging an ihr vorbei auf den Flur, sie folgte ihm und begleitete ihn zum Ausgang, wie es Vorschrift war. Im Fahrstuhl schaute sie demonstrativ an ihm vorbei, spürte aber genau, dass er sie ansah. Die 20 Sekunden vom dritten Stock bis ins Erdgeschoss zogen sich ewig hin. Als sich die Türen endlich öffneten, ging sie rasch voran zur Ausgangsschleuse.
Der Summer ertönte, Tim ging hindurch. Dann drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Marie, ich –«
»Vielen Dank für Ihre Information. Wir sind auf aktive Hilfe aus der Bevölkerung angewiesen und werden Ihrem Hinweis gewissenhaft nachgehen.«
Er schüttelte den Kopf und ging.
Der Kollege hinter der Glasscheibe der Pförtnerloge sah Marie sehr seltsam an.
Vor dem Ausgang des Polizeipräsidiums blieb Tim stehen und holte tief Luft. Was hatte er dieser undankbaren Zicke getan? Was glaubte die, wer er war? Als ob er es nötig hätte, einer Frau hinterherzulaufen.
Er blinzelte hoch zum dritten Stock, hinter dessen spiegelnden Fenstern sich die Mordkommission befand. Nein, entschied er, das war die beste Nacht nicht wert.
Mit hochgezogenen Schultern, die Hände in den Hosentaschen vergraben und den Blick auf die Füße gerichtet, stapfte er die Zufahrt hinunter. Abzublitzen war die eine Sache, aber derartig von der Platte geputzt zu werden, war mies.
An der Einfahrt hob er den Kopf und blickte geradewegs in den Scheinwerfer eines Kamerateams. Auch das noch. Der Reporter deutete auf das Polizeipräsidium und sagte irgendwas von »hoch qualifizierten Spezialisten, die jedem Hinweis aus der Bevölkerung sorgfältig nachgehen«. Tim schnaubte unwirsch und drehte zum Fußgängerausgang ab, der Reporter eilte ihm hinterher.
Draußen auf der Straße sprach er Tim an. »Sie haben kein Vertrauen in das Ermittlerteam, wie es scheint«, stellte er fest.
Tim blickte rasch zum Kameramann, aber der hatte die Kamera von der Schulter genommen. »Na ja«, sagte er, »sagen wir mal so: nicht in jedes Mitglied.«
»Sind Sie selbst dabei?«
Tim lachte. »Gott bewahre, nein!«
»Aber Sie sind mit der Sache befasst.«
Eine Idee keimte in Tim auf. »Ich war bei den Einsatzkräften, die gestern Morgen am Flughafen waren.« Was ja nicht gelogen war.
»Großartig.« Der Reporter winkte seinen Kameramann heran. »Ich würde Ihnen gerne für unsere Zuschauer ein paar Fragen stellen.«
»Ich glaube nicht, dass ich Ihnen etwas erzählen kann, das Sie noch nicht wissen.«
»Schauen wir mal. Was haben wir zu verlieren außer fünf Minuten für das Interview?«
Tim kratzte sich am Kopf. »Also, ich weiß nicht.«
»Meinen Sie nicht, dass Sie mir das schulden, nachdem Sie mir die letzte Aufnahme versaut haben?«
»Habe ich? Oh, das tut mir leid.«
»Das ist Ihre Chance, es wiedergutzumachen.« Er gab dem Kameramann ein Zeichen, ohne auf eine Antwort von Tim zu warten. Der Mann hatte Biss.
Er hob das Mikro und schaute in die Kamera. »Ich befinde mich hier vor dem Polizeipräsidium, nur wenige Kilometer vom Hamburger Flughafen entfernt, wo gestern Morgen ein schreckliches Attentat Deutschland erschütterte. Neben mir steht Herr …«, er hielt Tim das Mikrofon hin.
»Ähm … Tim Roth.«
»Herr Roth war unter den ersten Einsatzkräften, die den Ort der Tragödie erreicht haben. Was können Sie uns zum Hergang des Anschlags sagen?«
»Es gab eine Explosion in Terminal 1, in der Nähe des Check-in von Turkish Airlines.«
Er versuchte, die letzten Worte besonders bedeutsam klingen zu lassen. Wenn Marie schon nicht auf ihn hörte, dann vielleicht die Presse. »Wir stellen uns die Frage, ob das von Bedeutung ist«, ergänzte er.
Aber der Reporter überging den Satz. »Gibt es Erkenntnisse, wo die Bombe untergebracht war? Handelt es sich um einen Selbstmordattentäter?«
»Das … Also, das entzieht sich meiner Kenntnis.«
»Es soll angeblich ein Überwachungsvideo geben, auf dem zu sehen ist, dass zwei Männer um einen Koffer kämpfen. Können Sie uns dazu etwas sagen?«
Das war Tim neu. Aber ihm fiel ein, was Lars über seinen Patienten, diesen Boskop, gesagt hatte: »Der war genau da, wo’s geknallt hat.« Und Boskop hatte etwas von einem Koffer und einem Streit gefaselt. Die Puzzleteile passten.
»Möglich wäre das«, sagte er langsam.
»Können Sie uns Genaueres zum Ablauf sagen? Hat eventuell einer der Männer versucht, den Anschlag zu verhindern? Sind die beiden Männer unter den Toten?«
»Wir vermuten stark, dass einer der Männer zwar schwer verletzt ist, aber überlebt hat.«
»Obwohl er so nahe bei der Explosion war?«
»Also … Ja.«
»Wie können Sie sich das erklären?«
»Er … er hätte tot sein müssen.«
»Aber er lebt.«
Tim schüttelte nachdenklich den Kopf. »Er hätte tot sein müssen«, murmelte er mehr für sich.
Der Reporter drehte sich zur Kamera. »Was für eine spektakuläre Wendung. Es scheint, dass ein unmittelbarer Zeuge der Tat überlebt hat. War er der Attentäter? Oder hat er versucht, den Anschlag zu verhindern?«
Die nächste Frage richtete er wieder an Tim. »Schwebt er noch in Lebensgefahr? Glauben Sie, dass er bald vernommen werden kann?«
Tim hob die Hände. »Da bin ich überfragt.«
»Vielen Dank, Herr Roth.« Der Reporter gab dem Kameramann einen Wink und beendete das Interview.
»Und Sie meinten, Sie können mir nichts Neues erzählen.« Er zog eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Hemds und reichte sie Tim. »Falls Sie noch mal nichts zu erzählen haben.«
Tim las die Karte. Martin Kolditz, freier Journalist. Er steckte sie ein. »Beruht auf Gegenseitigkeit«, sagte er. »Von dem Video wusste ich noch nichts.«
»Nicht? Bei welchem Dezernat arbeiten Sie denn?«
»Feuerwehr.« Tim grinste.
»Feuer…« Kolditz schüttelte den Kopf, dann lachte er. »Sie haben mich ganz schön verladen.«
»Habe ich das? Ich habe nicht gelogen!«
»Nein, das haben Sie nicht. Mal sehen, vielleicht kann ich die Informationen trotzdem gebrauchen.«
»Machen Sie damit, was Sie wollen.«
Das hätte Tim nicht sagen sollen.
Kapitel 6
23. Mai
Der nächste Morgen brachte einige Überraschungen.
Marie besuchte die Kollegin Zander im Dezernat für Staatsschutz im vierten Stock, um die neuesten Erkenntnisse mit ihr auszutauschen.
»Schön, dass du vorbeikommst«, sagte Zander und reichte Marie die Hand. »Ich bin Elke.«
»Marie. Sag mal, hast du den Sohn des Gemüsehändlers in deiner Kundenkartei? Er heißt Altay.«
»Altay Kabaoglu?«, fragte Elke Zander. »Moment. Den Namen habe ich schon mal gehört.«
Sie drehte ihren Bürostuhl zum PC und tippte. Dann wartete sie und klickte etwas an. Ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, sagte sie: »Wusste ich es doch. Altay Kabaoglu, 24 Jahre, deutsche Staatsbürgerschaft. Wir haben ihn bei einer als Drogenrazzia getarnten Großkontrolle in einem Lokal erwischt, das uns als Treffpunkt radikaler Moslems bekannt ist. Das war … Moment … vor einem Dreivierteljahr, im letzten August.«
»Mit wem hat er sich dort getroffen?«
»Hier steht nichts. Das ist seltsam … Ach, ich erinnere mich: Er war gerade auf der Toilette, als wir den Laden stürmten. Sicher war er im Lokal mit anderen Leuten verabredet, aber wir wissen nicht mit wem.«
»Und danach? Habt ihr ihn nicht im Auge behalten?«
»Nein, dazu war er nicht auffällig genug. Wir haben seine Personalien aufgenommen, ihn in die Kartei eingetragen und laufen lassen. Wir haben ihn noch ein- oder zweimal beobachtet, als er eine der von uns überwachten Moscheen besucht hat, aber nie in Begleitung.«
»Wir wissen also nicht, ob oder mit wem er den Anschlag gemeinsam geplant haben könnte.«
»Richtig. Beides ist möglich, doch wir kennen seine Kontakte nicht.«
»Wie viele waren denn in dem Lokal, in dem er euch zum ersten Mal über den Weg gelaufen ist?«
»Willst du die alle vorladen?«
»Auf jeden Fall. Es geht um 19-fachen Mord!«
Elke hob die Hände. »Das kannst du gerne machen, aber ich sage dir gleich, dass das nichts bringt. Von denen wird dir keiner sagen, mit wem Kabaoglu zusammen war oder ob die was im Schilde führten. Wenn es um was Handfestes wie Alibis ginge, wäre ich bei dir, aber so …«
Marie seufzte. »Könnten eure Teams die Augen nach Altay offen halten?«
»Natürlich. Ich gebe sein Bild und die Informationen gleich weiter.«
Kaum war Marie wieder an ihrem Arbeitsplatz, erwartete sie die nächste Überraschung: Arthur Thewes kam herein und legte ihr einen Notizzettel auf den Tisch.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Stations- und Zimmernummer von Wolfgang Boskop im Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus Boberg.«
»Was soll ich damit?«
»Hinfahren. Es scheint, als gehe es stramm bergauf mit ihm. Er hat heute Morgen selbst darum gebeten, mit der Polizei zu sprechen, und wir als Freund und Helfer …«
»Ist das nicht Markus’ und Johannes’ Aufgabe?«
»Die machen gerade eine Zeugenbefragung in Norderstedt. Ich möchte nicht, dass Boskop oder seine Ärzte es sich anders überlegen, deshalb ist es jetzt dein Job. Also los, worauf wartest du?«
Die dritte Überraschung des Tages war Boskop selbst: Er war kaum wiederzuerkennen. Er saß im Bett, das Rückteil fast senkrecht, und begrüßte Marie freundlich. Ruß, Staub und Blut hatten ihn am Ort der Explosion offenbar schlimmer verunstaltet als die Brandwunden. Zwar war seine linke Gesichtshälfte von der Schläfe bis zum Kinn mit Verbänden abgedeckt, aber die Nase und die rechte Seite des Gesichts wirkten komplett unbeschädigt.
»Guten Morgen«, sagte er. Er nuschelte ein wenig; vermutlich schränkte die Verletzung die Kieferbewegung ein. Trotzdem klang seine Stimme fest, der Blick aus seinen Augen war klar. »Sie sind von der Polizei, nehme ich an?«
»Kriminaloberkommissarin Schwartz von der Mordkommission.« Marie zeigte ihren Dienstausweis.
Boskop schaute nur flüchtig darauf, dann nickte er. »Setzen Sie sich.« Er deutete auf die Stühle aus Metallrohr und Plastik, die an einem kleinen Esstisch in der Ecke standen.
Sie zog sich einen heran und nahm Platz. »Herr Boskop«, begann Marie, »ich weiß, Sie haben selbst um das Gespräch gebeten, aber ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir jederzeit abbrechen können, wenn es Ihnen zu viel wird.«
Boskop lächelte, soweit es sein verschorftes Gesicht zuließ. »Vielen Dank, es wird schon gehen. Die Ärzte hier leisten fantastische Arbeit.«
»Das ist schön zu hören. Herr Boskop, würden Sie mir bitte die Geschehnisse vorgestern früh am Flughafen aus Ihrer Sicht erzählen?«
»Also, da war dieser Koffer –«
»Bitte fangen Sie weiter vorne an. Wann sind Sie in den Flughafen gekommen?«
»Das muss kurz vor sieben gewesen sein … Der Mann, der mit dem Koffer, ist der tot?«
»Was? Ja, er ist … Wieso wollen Sie das wissen?«
»Ich habe Angst. Das … in dem Koffer war eine Bombe! Das war doch ein Terrorist! Wenn der mich erkennt, dann … Aber er ist ja tot. Das ist … schrecklich, natürlich ist das schrecklich, aber …«, er lachte heiser, »was soll ich sagen – es ist mein Glück. Das ist … Das klingt ganz furchtbar, oder?« Er drehte den Kopf zur Seite.
»Herr Boskop, Sie können beruhigt sein. Der Mann ist bei der Explosion ums Leben gekommen, und wir gehen mit hoher Wahrscheinlichkeit davon aus, dass es sich um einen Einzeltäter handelte. Sie haben nichts zu befürchten.« Dass sie nicht sicher waren, welche Rolle der flüchtige Altay in der Sache spielte, verschwieg Marie fürs Erste. Der wiederum wusste aller Wahrscheinlichkeit nach nichts von Boskop, also war dieser so oder so nicht gefährdet.
»Wirklich?«, fragte Boskop.
»Auf jeden Fall. Sie waren also etwa um sieben am Flughafen. Was wollten Sie dort?«
»Einkaufen.«
»Einkaufen?«
»Ja, der Supermarkt am Flughafen hat ab morgens um sechs geöffnet, auch sonntags. Ich hatte keine Wurst mehr und keinen Kaffee, und ich wohne in der Nähe des Flughafens.«
»Was haben Sie dann im Terminal 1 gemacht? Der Supermarkt ist ein Stockwerk tiefer.«
»Ich liebe die Atmosphäre dort. Alle sind so aufgeregt, sie brechen auf in ferne Länder, alle freuen sich … Ich lebe alleine, wissen Sie. Ich nehme gerne Anteil an der Freude und Aufregung anderer Leute. Können Sie das verstehen?«
»Ich weiß nicht. Ich finde es sehr hektisch dort.«
»Jedem das Seine, Frau Schwartz. Oder muss es Frau Kommissarin heißen?«
»Was hatten Sie mit dem Koffer zu tun? War es Ihrer?«
»Wozu sollte ich denn einen Koffer zum Einkaufen mitnehmen?«
»Also, was war mit dem Koffer?«
»Nun ja … Der Koffer stand da, ein paar Meter von den ganzen Warteschlangen entfernt, und keiner war da, der auf ihn aufpasste. Verstehen Sie, er war … herrenlos. Man hört ja allerlei über herrenlose Gepäckstücke, und dazu diese ganzen Durchsagen: ›Lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt.‹ Da habe ich mich gefragt, ob das alles mit rechten Dingen zugeht.«
»Und was haben Sie dann gemacht?«
»Ich wusste nicht recht, was man in so einer Situation macht, da habe ich mir den Koffer erst einmal angesehen.«
»Sie haben ihn sich angesehen? Wieso haben Sie nicht der Polizei Bescheid gesagt?«
»Ach, das wäre doch peinlich gewesen. Ich meine, wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass da tatsächlich eine Bombe drin war? Nachher hätten die meinetwegen den Flughafen evakuiert, nur wegen eines Koffers voller dreckiger Unterhosen oder was die Türken sonst so einpacken. Nein, ich dachte, ich schaue mir das erst genauer an.«
»Was vermuteten Sie denn zu sehen?«
»Ja, was weiß ich – irgendwas. Wie wenn man bei einem kaputten Auto die Motorhaube aufmacht und reinschaut, auch wenn man keine Ahnung davon hat.«
»Und was ist danach geschehen?«, fragte Marie.
»Da war was am Griff«, sagte Boskop. »So was wie ein Schalter. Mit Kabeln.«
»Sind Sie sicher?«
»Natürlich! Ich wollte zur Polizei, aber dann kam dieser Mann, der sah arabisch aus oder vielleicht türkisch, ich weiß es nicht, und der schrie mich an und stieß mich weg.«
»Und was dann?«
»Er hat nach dem Koffer gegriffen, und ich dachte, er will den Schalter drücken und die Bombe in die Luft jagen. Ich hatte Angst um mein Leben, verstehen Sie? Deshalb habe ich versucht, ihm den Koffer wegzunehmen, damit er nicht an den Schalter kommen kann. Ich konnte doch nicht zulassen, dass jemand einfach so aus fehlgeleitetem Fanatismus diese ganzen Menschen umbringt!«
»Wie kommen Sie darauf, dass er ein Fanatiker war?«
»Das … nun ja, es war ein südländischer … Welchen Grund sollte sonst so jemand haben, ein Selbstmordattentat zu begehen? Das kann doch nur ein Islamist gewesen sein. Und im Fernsehen sagen sie auch, dass der IS dahintersteckt.«
»Ich verstehe«, sagte Marie. »Aber konkrete Hinweise auf das Motiv des Täters haben Sie nicht, richtig?«
»Konkrete Hinweise – er hat nicht ›Allahu Akhbar‹ gerufen, wenn Sie das meinen. Doch es war ein Türke oder sonst so ein Orientale, und er hatte eine Bombe. Und ich kann eins und eins zusammenzählen.«
»Sie wollten ihm also den Koffer wegnehmen?«
»Ja, richtig. Ich habe am Koffer gezogen, und er hat am Koffer gezogen, oben am Griff, und dann muss ich abgerutscht sein. Ich fiel nach hinten, bin noch einige Schritte weggestolpert und dann gestürzt. Und plötzlich war es, als ob die ganze Welt zusammenstürzen würde. Ich wusste sofort: Das war die Bombe, jetzt stirbst du.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, berührte dabei die verbrannte Gesichtshälfte und zuckte zusammen. »Wissen Sie, ich bin nicht besonders religiös, aber Gott scheint seine schützende Hand über mich gehalten zu haben, sonst wäre ich nicht mehr hier.« Er lachte matt.
»Können Sie sich erinnern, was nach der Explosion passiert ist?«, fragte Marie.
Boskop schüttelte den Kopf, so gut er konnte. »Nein. Nur noch an einen Sanitäter, der mir sagte, dass alles gut wird.«
»Ist Ihnen noch mehr aufgefallen?«
»Nein. Zurzeit fällt mir nichts mehr ein.« Boskop tastete nach der Bedienung für das Bett und stellte das Rückenteil auf Liegeposition. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen. Ich würde mich gerne ausruhen. Ein andermal mehr.«
»Natürlich. Ich lege Ihnen meine Visitenkarte auf den Nachttisch. Sie können mich jederzeit anrufen.«
Boskop nickte und wedelte schwach mit der Hand.
Marie trat hinaus auf den Krankenhausflur mit den grellen Neonröhren und dem quietschenden Linoleum. In einer Nische stand ein Wasserspender; sie füllte einen Pappbecher, trank und dachte nach. Was Boskop berichtet hatte, klang glaubhaft und schlüssig. Sie würde es überprüfen, aber sie hatte keinen Grund, an seinen Aussagen zu zweifeln. Für einen verhinderten Selbstmordattentäter hielt sie ihn auf jeden Fall nicht.
Ein Stück den Flur hinunter fand sie das Dienstzimmer und klopfte an. Eine Schwester öffnete, Marie zeigte ihren Dienstausweis und bat um ein Gespräch mit dem Stationsarzt. Der kam rund zehn Minuten später, führte sie in den Aufenthaltsraum und bot ihr Kaffee an, den sie dankend annahm.
»Schwesternkaffee«, sagte der Arzt, ein jungenhaft wirkender Mann Mitte 30 mit Kunststoffbrille und weißem Polohemd statt Arztkittel. Auf seinem Namensschild stand »Dr. Kreuzer, Stationsarzt«. »Benutzen wir hier auch zur Wiederbelebung.« Er gab reichlich Milch in den Kaffee, dann schob er ihr die Packung hinüber. »Was kann ich für Sie tun?«