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und hol uns allzumal …
Gern würde er sie begleiten durch das finstere Tal des Todes. Da schaute ihn Paul Friedrich mit großen Augen an.
Betroffen nickte der Vater ihm zu. – Ja, er brauchte von jetzt an seine ganze Fürsorge, seine Liebe und göttlichen Ermahnungen.
Schon am 28. Februar 1668 hatte Anna Maria ihren ersten Blutsturz. Röchelnd lag sie auf ihrem Bett, als Sabina, ihre Schwester, sie suchte. Sie sah die hellrote Blutlache, die das ganze Tuch durchtränkt hatte.
»Gerechter Gott!«, schrie sie auf. »Anna – was ist das?«
»Sei still, Sabina, bitte mach keinen Lärm. Bitte, sag es niemand …« Schwer rang sie nach Luft.
Sabina stürzte zum Fenster und öffnete es. Dann sprang sie wieder zurück zum Bett. »Du sahst in den letzten Monaten so blass und bleich aus. Dein Husten wurde auch nicht besser. Anna – was hast du?«
»Meine Lungen sind nicht gesund. Paul weiß es – seit der Geburt von Paul Friedrich habe ich unsagbare Schmerzen in der Brust.«
»Soll ich nicht Paul rufen …?«
»Nein – bitte noch nicht. Denk an sein Alter. Er leidet schwer. Meine Krankheit – seine Arbeitslosigkeit … ich fürchte, er könnte einen Schlaganfall bekommen.«
»Aber wir müssen es ihm doch sagen. Es muss dir doch geholfen werden.«
»Mir kann nur noch der Herr helfen. – Wenn er kein Wunder tut, dann werde ich bald heimgehen.« Sie atmete etwas befreiter.
»Es geht mir auch schon etwas besser.«
»Aber solch ein Bluthustenanfall kann sich doch schnell wiederholen«, sagte Sabina.
»Darf ich denn wenigstens den Arzt verständigen?«
»Nein, bitte nicht! Ich kann und ich will noch nicht krank sein! Wer soll denn für unser Kind sorgen?«
Wachsbleich lag sie auf ihrem Bett. Sabina wischte ihr den kalten Schweiß von der Stirn. Anna Maria nahm alle Kraft zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen. Nachts aber wurde sie von qualvoller Unruhe gepackt. Heimlich schlich sie aus dem Schlafzimmer. Sie schlug das Feuerzeug an und entflammte die Kerze am Hausaltar. Hastig griff sie nach ihrer Bibel und dem Gebetsbuch. Sie las einen Psalm: »Ich rufe zu Gott und schreie um Hilfe; zu Gott rufe ich, und er erhört mich. In der Zeit meiner Not suche ich den Herrn; meine Hand ist des Nachts ausgestreckt und lässt nicht ab; denn meine Seele will sich nicht trösten lassen.« Einen Hustenanfall nach dem anderen versuchte sie zu unterdrücken; schnell presste sie ein Tuch vor den Mund. Ließ dann der quälende Hustenreiz nach, las sie weiter: »Ich denke an Gott – und bin betrübt; ich sinne nach – und mein Herz ist in Ängsten. Meine Augen hältst du, dass sie wachen müssen; ich bin so voll Unruhe, dass ich nicht reden kann.«
Erneut wurde ihr die Luft knapp. Ein hastiges, pfeifendes Röcheln drang aus ihrem Brustkorb. Sie riss sich das beengende Halstuch ab – dann wurde es ein wenig besser. Nun sank sie auf die Knie und hauchte wie eine Erstickende:
»Allmächtiger, gütiger Gott! Hilf mir, ach, hilf mir doch! Du Hoffnung der Schwachen. Ich bin so schwach, voller Angst und Furcht. Deshalb rufe ich zu dir, damit ich am Kreuz deine göttliche Hilfe und Beistand erhalte. Verleihe mir doch die Gnade, dass ich fest im Glauben überwinden kann. Gib mir Kraft in dieser Leidenszeit! Allmächtiger, höre mein Schreien, damit ich die Trübsal nicht als ein Zeichen deiner Ungnade ansehe und nicht murre oder ungeduldig werde. Ich erkenne, welchen du liebst, den züchtigst du …«
Noch einmal kamen die furchtbaren Krämpfe im Brustraum, diese unermessliche Atemnot und lebensbedrohende Erstickungsangst. Doch dann röchelte sie etwas erleichterter: »Denn Trübsal bringt Geduld, Geduld aber Erfahrung, Erfahrung bringt Hoffnung …« Ein Schwall heißen, hellroten Blutes ergoss sich in das große Tuch; sie wischte sich das Gesicht. Seufzer der Erleichterung brachten sie wieder zu sich. Sie setzte sich aufrecht, nahm einen Stift und schrieb zitternd: »Heute fühle ich es, meine Kräfte schwinden mit jedem Augenblick. Es wird wohl der Bote sein, der mich von hier abruft.«
Sie drückte mit der flachen Hand gegen ihr Brustbein. Wie eine Ertrinkende rang sie nach Atem, dann kritzelte ihre Hand weiter:
»Soll es also sein, so gib, Herr, dass ich die Schwachheit meines Herzens besiege! Dir befehle ich meinen lieben Ehemann und mein einziges Kind, das du mir aus Gnaden gelassen hast, an.«
Sie wand sich erneut wie eine Gefesselte. Die Konturen verwischten sich vor ihren Augen. – Es dauerte Minuten, ehe sie weiterschreiben konnte:
»In deine Hände befehle ich Seele und Leib. Ich kann nicht mehr.« Die Hand zitterte. »Christus ist mein Leben und Sterben mein Gewinn.«
Langsam schlich sie durch den Flur zum ehelichen Schlafraum. Auf Schritt und Tritt befürchtete sie eine Wiederholung des Bluthustens. Sie musste sich an den Wänden halten, so taumelte sie. Wie eine Blinde tappte sie durch das Schlafzimmer und fiel kraftlos in ihr Bett.
Paul Gerhardt fand sie am Morgen wie erstorben in den Kissen. Aus der unermesslichen Tiefe des Schlafes hörte man doch das oberflächliche rasende Atmen, das unregelmäßige, stoßartige Ringen nach Luft. Er beugte sich über die Schlafende. Er sah die matte Hand, die wachsweiße Haut an der Stirn, Nase und Wangen.
Erst zur Mittagszeit konnte Sabina sie emporziehen und waschen. Am Tisch saß Anna Maria fast unbeweglich; sie aß kaum etwas.
»Mutti, wenn du wieder gesund bist, dann machen wir eine Landpartie«, sagte Paul Friedrich. »Der Vati hat es versprochen.«
Tapfer nickte die Todgeweihte, strich dem Kind über den Kopf und drückte ihrem Mann gleichzeitig die Hand.
Nach dem Essen, Paul Gerhardt lag auf seinen Knien und betete, erbebte die Decke von einem dumpfen Schlag. Die Fenster klirrten, ein schurrendes Geräusch war zu hören. Im oberen Stockwerk musste seine Frau zu Boden gestürzt sein.
Schnell sprang der Pfarrer die ächzenden Stufen hinauf.
Mitten im Raum entdeckte er Anna Maria regungslos, auf den Boden hingeschmettert, die Augen geschlossen, auf dem Rücken liegend. Aus Mund und Nase floss helles Blut. Auch Sabina stürzte ins Zimmer. »Anna Maria!«, schrie sie in den höchsten Tönen. »Komm, hilf!«, herrschte Paul Gerhardt sie an. Beide versuchten, die Ohnmächtige aufzuheben und ins Bett zu bringen. Zu zweit legten sie den schwachen Körper quer über das Bett. Die Arme der Kranken hingen schlaff herab, wie die einer Toten.
Sabina stopfte schnell ein zusammengefaltetes Kissen unter den Nacken. »Entkleide sie bitte, und wasch ihr das Blut von dem Gesicht«, flehte Paul. »Ich laufe geschwind zum Arzt!«
Er stürzte die Treppe hinunter und rannte durch die Spandauer Straße, um Dr. Weise zu verständigen. Später wollte er auch Dr. Michael Sennert zu Rate ziehen. Mancher Bürger entblößte sein Haupt, als er den geliebten Seelsorger und ehemaligen Pfarrer wie von Sinnen durch die Straßen stürmen sah.
Dr. Weise und auch Dr. Sennert kamen und taten ihr Bestes, um der Kranken zu helfen. Sie versuchten das Blut zu stillen, aber die Schwindsucht war schon zu weit vorangeschritten; sie konnten den körperlichen Verfall nicht mehr aufhalten.
Anna Maria öffnete ihre Augen. Sie waren müde, fremd und wie erloschen. Paul Gerhardt beugte sich über sie. Ganz leise, es war wie ein Hauchen, sagte sie: »Vorbei – alles vorbei. Ich bin so elend … alles so dunkel …«
Der letzte Tag war der schwerste. Am Donnerstag, den 5. März 1668, rang ihr schwacher Körper zwischen Halbschlaf und Wachen, bis es dämmerte. Unruhig glitt ihre Hand zupfend und glättend über das Betttuch. Sabina hielt Wache. Oft betete sie, dass doch bald die Erlösung nahen möge. Wenn die Erstickungsanfälle kamen, sah ihre Haut grüngrau aus. Doch sobald sie aus der Ohnmacht hervorkam, reichte ihr die Schwester heißen Tee; dann glänzten ihre Augen mild.
Noch einmal entflammte etwas Lebenskraft in ihr, als der geliebte Mann am frühen Morgen ins Zimmer kam. »Mein Liebes, ich sehe, wie schwach du bist. Wenn es dir jetzt recht ist, dann will ich die Gemeinde bitten, für dich zu beten. Beichtvater Lorenz soll auch kommen und dir das heilige Abendmahl reichen.«
Stumm und ergeben nickte die kleine Frau. Mit einem lieben Kuss verabschiedete sich Paul Gerhardt. Er suchte Magister Lorenz in seiner Wohnung auf und bat ihn, doch zu kommen. Als er zurückkehrte, fand er seine Frau gewaschen und angekleidet, halb sitzend, in weichen Kissen.
»Paul – mein Herz und Leben. Bitte lies mir die Worte zum heiligen Abendmahl«, bat sie. Paul Gerhardt begann mit dem Bußgebet des Kirchenvaters Augustinus:
»Gerecht bist du, o Herr, und recht ist dein Gericht. Alle deine Gerichte sind recht und wahr.« Er musste heftig schlucken und kämpfte tapfer gegen seine Trauer, die sein Herz einschnürte. »Darum flehe ich zu dir in Demut, dass du mir nicht tust nach meinen Sünden, sondern nach deiner großen Barmherzigkeit, die allen reuigen Sündern verzeihen will. Erbarme dich meiner und hilf mir nach der Liebe, mit der du mich in Jesu, deinem Sohn, geliebt hast und würdige mich deiner Gnade in dem Verdienst deines Heilandes.«
Danach las Paul Gerhardt die Predigt des heiligen Abendmals aus Martin Luthers Hauspostille vor. Die Zeit verging. Am Nachmittag kam Magister Lorenz.
Mit bewegtem Herzen betete Anna Maria: »Herr Jesus Christus, mein guter Hirte, du Heiland meiner Seele, du hast gesagt: Ich bin das Brot des Lebens; wer von diesem Brot isst, der wird leben – wer an mich glaubt, den wird nie wieder dürsten! Ich bitte demütig, dass ich würdig bin, dein heiliges Abendmahl zu nehmen. Weide mich armes Schäfchen auf deiner grünen Aue und führe mich zum frischen Wasser. Erquicke meine Seele und wasche mich rein von allen Sünden durch dein heiliges Blut. Segne meinen lieben Ehemann und mein Kind. Führe sie beide in deiner unaussprechlichen Gnade in das himmlische Paradies. Amen!«
Als Paul Gerhardt seinen Amtsbruder zur Tür hinausgeleitete, waren Sabina und Anna Maria allein. Die Sterbende ergriff die Hand ihrer Schwester. »Sabina, vielleicht denkst du, ich wollte dir verschweigen, dass ich so schwer erkrankt bin. Ich hatte mir vorgenommen, euch alle zu schonen. Bekümmere dich nicht so sehr, dass ich nun so früh abscheiden muss. Es ist doch nichts Gutes in dieser Welt. So Gott will, wollen wir alle bald wieder zusammenkommen, in lichten Höhen, dort, wo der Thron des ewigen Gottes steht.«
Leise war Paul Gerhardt zurückgekehrt.
»Bitte, Paul – lies mir aus dem geschriebenen Gesangbuch einige Lieder vor«, bat Anna Maria. Mit bebender Stimme las Paul Gerhardt:
»Wenn ich einmal soll scheiden,
so scheide nicht von mir;
wenn ich den Tod soll leiden,
so tritt du dann herfür;
wenn mir am allerbängsten
wird um das Herze sein,
so reiß mich aus den Ängsten
kraft deiner Angst und Pein.«
Nie war ihm das Lesen und Sprechen so schwergefallen. Doch ahnte er, wie viel Trost aus diesen Worten seiner dahinscheidenden Frau zufloss. Paul Gerhardt spürte eine bebende Unruhe; eine innere Erregtheit, die er bisher bei seiner Frau nicht bemerkt hatte. Sie nahm seine Hand. »Paul, wir wollen Abschied nehmen. Hab innig Dank für deine Liebe und Herzensgüte. Unser Glück war kurz, aber tief und dicht. Wir haben ein doppeltes Maß an Herrlichkeit in den wenigen Jahren durchlebt. Nun trete ich vor Gottes Thron und will für euch, wenn es möglich ist, vor dem Allmächtigen bitten …«
Paul Gerhardt kniete an ihrem Bett nieder.
»Danke, Anna – ewigen Dank. Du warst mir die vom Himmel zugedachte Gefährtin. In allen Seelennöten, bei vielen Anfechtungen und großen Traurigkeiten hast du mir geholfen, mich aufgerichtet. – Ich weiß nicht, wie es weitergeht, aber nun werde ich ausleben müssen, was ich in frommen Versen kühn niedergeschrieben habe.«
Er küsste ihre Hand.
Sabina führte den sechsjährigen Paul Friedrich leise ins Zimmer.
Sehr matt blickte ihn die Mutter an. »Du brauchst nun doppelte Liebe, Paulchen. Ich gehe in den Himmel und warte auf euch. Hilf dem Vater und bleib allezeit fromm.«
Der Kleine warf sich an ihre Brust und schluchzte bitterlich. »Stirb doch nicht, Muttili. Bitte, Muttili, stirb nicht …«, jammerte seine zarte Kinderstimme.
Die Mutter strich ihm über das Haar, streichelte die Stirn, die Wangen und seinen Hals. »Paulchen, du musst nun auch recht tapfer sein. Dort im Himmel gibt es nur Sonnenschein. Da singen Engel die allerschönsten Psalmen. Dort gibt es für alle, die dem Herrn Jesus Christus glaubten und ihm gehorchten, ein seliges Wiedersehen. Ich warte auf euch – denk immer daran …«
Sie schien ersticken zu müssen. Ein heftiger Hustenanfall nahm ihr fast den Rest ihres Lebens. Flehentlich blickte sie auf Sabina. Ein gurgelndes Geräusch kam aus ihrem Munde, bis sie wieder artikulieren konnte: »Schwester, hilf mir, ach, so hilf mir doch!«
Sabina schob ihr ein zweites Kissen in den Nacken; der Anfall legte sich.
»Dank dir, Schwester, für alles möchte ich herzlich danken. Du hast deinen Mann verloren. Du weißt, wie es ist, zurückbleiben zu müssen. Nimm dich bitte meines Mannes und Kindes an. – Versorge sie, solange es nötig ist, wie du es in den letzten Monaten schon getan. Der Himmel wird dir’s lohnen …« Sie japste schon wieder nach Luft. »Jesus, meine Zuversicht und mein Heiland, ist im Leben«, hauchte die Sterbende. »Dieses weiß ich ganz gewiss …« Obwohl sie immer schwächer wurde, erhellte sich ihr müdes, abgekämpftes Gesicht. Ein mildes Leuchten ging über ihr Antlitz. Die Kräfte verließen sie zusehends. Sie sah nichts mehr, sie hörte kaum noch etwas. Unbeweglich lag ihre welke Hülle in den weißen Kissen, wie ein verlassenes Gehäuse. Langsam löste sich die Seele von dem ermatteten Leib, um emporgetragen zu werden in lichte Höhen.
Paul Gerhardt stand gefasst vor seiner Anna Maria und blickte unbewegt auf das, was an seiner Frau sterblich war, ihren zarten Körper. Mit den Fingerspitzen strich er ihre Augenlider zu. Ganz zärtlich nahm er die noch warmen Hände und faltete sie behutsam, legte seinen Kopf an ihre Stirn und küsste sie ein letztes Mal. Es war gegen 12 Uhr am Mittag.
Der Raum war erfüllt von heftigem Weinen und Schluchzen. Dr. Weise und Dr. Sennert waren gekommen. Sie sahen, dass die Kranke keine Erleichterung mehr nötig hatte.
Nach wenigen Sekunden reckte sich Paul Gerhardt auf, nahm seinen Sohn an die Hand und sagte:
»Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt.« Dann ging er in sein Arbeitszimmer, kniete am Hausaltar nieder und betete, indem er seinen Sohn fest umschlungen hielt: »Herr, allmächtiger Vater unseres Herrn Jesus Christus, gib nun meiner Frau die ewige Freude und Ruhe. Lass dein ewiges Licht leuchten in alle Ewigkeit. Du getreuer Herr und Heiland Jesus Christus, geleite ihre Seele durch das finstere Tal. Führe sie aus der Finsternis in deine Herrlichkeit zu der Schar aller Heiligen, die du erlöst und errettet hast und halte uns treu, damit wir auch das Ziel erreichen. Ich möchte in deinem Namen unseren Paul Friedrich segnen. Gedenke der Gebete seiner verstorbenen Mutter und erfülle ihn mit deiner Herrlichkeit, den Menschen zum Segen.«
Paul Gerhardt blieb danach sehr einsam in seinem Zimmer. Es dunkelte aus jeder Ecke.
Bald darauf wurde die irdische Hülle von Anna Maria an der Seite ihrer Eltern, hinter der Kanzel der Kirche St. Nicolai, beigesetzt, so, wie es zu jener Zeit üblich war. Magister Lorenz hielt die Trauerpredigt über den Text von Hebräer 10, 36-39: Geduld aber habt ihr nötig, damit ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt. Denn »nur noch eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll, und wird nicht lange ausbleiben. Mein Gerechter aber wird aus Glauben leben. Wenn er zurückweicht, hat meine Seele kein Gefallen an ihm«. Wir aber sind nicht von denen, die zurückweichen und verdammt werden, sondern von denen, die glauben und die Seele erretten.
In diesen Tagen vollendete Paul Gerhardt sein begonnenes Lied: »Gib dich zufrieden!«
Der nun sehr einsame Gottesmann und Psalmdichter der Christenheit gab sich zufrieden; er schickte sich in die Zulassung Gottes. Doch bald kamen wieder Stunden und Tage der fast unerträglichen Anfechtung. Dann dachte er an die Lust schöner Tage.
Paul Gerhardt saß bei Kerzenlicht. Eine lähmende Müdigkeit war auf ihn gefallen. Er blätterte in alten Schriften – in Texten, die er vor Jahren niedergeschrieben hatte. Vielleicht konnten sie ihm Trost geben, ihn erheben, aus dem Tal der Düsterheit ziehen. Aber was sollten ihm selbstverfasste Verse, Worte aus längst vergangenen Tagen, heute noch geben? Nein! O nein, es gab keinen Trost mehr für ihn. Abgeschieden von der Freude, schien er nun in noch größere Tiefen zu fallen. Doch pochte noch eine Kraft in ihm. Geheimnisvoll kämpften zwei Mächte in seiner Seele. – Er blätterte immer noch hin und her. Vielleicht konnte der Schöpfer ihm auch in diesem herzzerreißenden Leid Trost geben und der Seele neue Heilkraft verleihen. Paul Gerhardt zog das Licht näher an die beschriebenen Blätter heran. Zeile an Zeile – Worte, Verse, viel Durchstrichenes war niedergeschrieben; über hundert Gedichte und geistliche Lieder.
Sollt’ ich meinem Gott nicht singen?
stand auf der linken Seite geschrieben; in den glücklichsten Tagen seines Lebens. Wie lange war das her? Welch eine einschneidende Veränderung hatte sein Dasein geprägt. Jetzt singen? Da er im Tal der Tränen tappte? Musste er nicht schreien? Den Schöpfer für alle Schicksalsschläge verantwortlich machen? War er nicht ein verlorener, verzweifelter Mann, der, müde seiner selbst, kaum noch die Kraft zum Glauben aufbringen konnte? Und doch schien sich in ihm etwas zu regen, ein himmlisches Verlangen, das seine verschüchterte Seele erregte.
Sollt’ ich meinem Gott nicht singen?
»Ach ja, singen oder gerade deshalb singen?« Wie es ihn nun von innen her erwärmte, einfach über den Abgrund der letzten Versuchung hob. Die Pforten des Himmels schienen ihm geöffnet. Er fühlte die Kraft des Heiligen Geistes.
Sollt’ ich meinem Gott nicht singen?
Sollt’ ich ihm nicht dankbar sein?
Er dachte an Mittenwalde. – An die Zeit der ersten Liebe. Seine Frau war gerade 32 Jahre alt und 16 Jahre jünger als er selbst. Glück, unausdenkbares Glück flutete damals in sein Herz, als er mit 48 zum Traualter schritt und Anna Maria klar und freudig ihr »Ja« gab. Seine Hände zitterten, wie er nun Zeile für Zeile las:
Sollt’ ich meinem Gott nicht singen?
Sollt’ ich ihm nicht dankbar sein?
Denn ich seh in allen Dingen,
wie so gut er’s mit mir mein’.
Jetzt lagen diese Worte auf dem Prüfstand seines Lebens. Jedes Wort ergriff ihn mit unwiderstehlicher Macht.
Ist’s doch nichts als lauter Lieben,
das sein treues Herze regt.
Konnte er unter diesen Umständen das »lauter Lieben« noch erkennen? Vier Kinder und seine Frau hatte er in wenigen Jahren verloren. Sein verzagtes Herz schöpfte vorsichtig neuen Mut. Ja, Liebe, Liebe – göttliche Liebe umgab ihn. Seine Düsternis schien langsam zu zerrinnen.
»… die in seinem Dienst sich üben …«,
sprach er mit dunkler Stimme. Himmlische Helle kam zu ihm nieder; derselbe Geist, der ihm einst diese Worte in die Feder gedrängt hatte, breitete über die frische Wunde einen Schleier des Trostes.
Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb in Ewigkeit.
Aus diesen herrlichen Worten kam ihm die Antwort. Nein, nicht nur Antwort, sondern ewiges Licht! Wie ihn doch seine eigenen Worte aufrichteten; von innen her, wie ein schaffendes, ja, durch den Odem Gottes erschaffenes Lebenswort. Und neu gestärkt las der Dichter weiter:
»Wie ein Adler sein Gefieder
über seine Jungen streckt,
also hat auch hin und wieder
mich des Höchsten Arm bedeckt,
alsobald im Mutterleibe,
da er mir mein Wesen gab
und das Leben, das ich hab
und noch diese Stunde treibe.«
Ja, sein kleines Leben sollte sich neu wie eine Opferflamme entzünden und aus dem neu erquickten Herzen sich der Lobpreis wie ein Adler zum ewigen Gott aufschwingen.
Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb in Ewigkeit.
Jetzt, unter diesen Gegebenheiten, Ihn, den Ewigen, zu lobpreisen. Dem wundervollen Gott die Ehre geben, der ihm die Seligkeit der Erlösung durch Jesus Christus erschaffen hatte. Sanft und anbetend las er weiter:
»Sein Sohn ist ihm nicht zu teuer,
nein, er gibt ihn für mich hin,
dass er mich vom ewgen Feuer
durch sein teures Blut gewinn.
O du unergründter Brunnen,
wie will doch mein schwacher Geist,
ob er sich gleich hoch befleißt,
deine Tief ergründen können?«
Paul Gerhardt beugte seinen Kopf über die Seiten. – Seine Traurigkeit schwand dahin. Jedes seiner Worte wurde jetzt in sein Herz gezielt. Eine unwiderstehliche Kraft durchströmte, bei aller Trauer und Schmerz, sein Innerstes. Flehentlich hob er seinen Kopf und spannte die Arme weit, wie ein Adler seine Schwingen.
Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb in Ewigkeit.
Ach, neu klang es in ihm, unendlich wiederholbar:
Sollt’ ich meinem Gott nicht singen?
Sollt’ ich ihm nicht dankbar sein?
Wer kannte schon die unsichtbaren Reiche der Ewigkeit?
Seinen Geist, den edlen Führer,
gibt er mir mit seinem Wort;
dass er werde mein Regierer
durch die Welt zur Himmelspfort;
dass er mir mein Herz erfülle
mit dem hellen Glaubenslicht,
das des Todes Reich zerbricht
und die Hölle selbst macht stille.
Von den Kräften der Ewigkeit gepackt, atmete Gerhardt neuen Balsam ein. Es drängte in seiner Brust; die Macht Gottes dehnte und spannte sich wie flüssiges Feuer, das strömen wollte.
Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb in Ewigkeit.
Rings schwieg die Nacht. Sabina hatte seinen Sohn schon zur Ruhe gebracht. Längst schliefen die meisten Bürger der Stadt. Der Nachtwächter machte seine Runde, als Paul Gerhardt wach auf seinem Bett lag. Die Gedanken waren noch nicht zur Ruhe gekommen. Es bewegte sich immer noch das unumstößliche Glaubensbekenntnis:
Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb in Ewigkeit.
Doch dann kam ihm der Nachtvers in den Sinn, und wie ein braves Kind faltete der fromme Mann seine Hände und murmelte, so gut er noch sein eigenes Werk auswendig konnte:
»Wenn ich schlafe, wacht sein Sorgen
und ermuntert mein Gemüt,
dass ich alle liebe Morgen
schaue neue Lieb und Güt.
Wäre mein Gott nicht gewesen,
hätte mich sein Angesicht
nicht geleitet, war ich nicht
aus so mancher Angst genesen.«
Danach entkleidete sich der Dichter, sprach sein Abendgebet und hüllte sich in die kühlen Linnen.
Ehe er in die unermessliche Tiefe der Träume versank, klang es noch einmal in seinem Sinn:
Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb in Ewigkeit.

Johann Sebastian Bach, 1685-1750
Johann Sebastian Bach und seine Familie bei der Morgenandacht.
Ausschnitt aus dem Gemälde von Toby Edward Rosenthal.

Helmut Ludwig: David Livingstone – Verschollen in Afrika
Folgen Verlag, ISBN: 978-3-944187-38-9
Mit seiner spannenden Biografie schildert der Autor Leben und Wirken des großen Missionars, Forschers und Arztes David Livingstone. Seine Tagebuchaufzeichnungen dienten als Vorlage für dieses Buch über einen Menschen, dessen Leben nie ohne Dramatik war.
Mit viel Sachverstand und schriftstellerischem Geschick zeichnet Helmut Ludwig große Ereignisse und kleine Episoden nach: wie der junge David im Alter von 10 Jahren 14 Stunden an der Webmaschine steht, wie er Missionskandidat wird und fast durchfällt, wie er dann nicht nach China, sondern nach Afrika ausreist und dort die Kalahari-Wüste erforscht, die Victoriafälle des Sambesi entdeckt und schließlich als verschollen gilt.