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Soll das heißen, dass der Kapitalismus sich überlebt hat in dem, wie er geworden ist? Wohin geht die Aufmerksamkeit?
In der Arbeit für das materielle Überleben stellte sich die Frage nach der Aufmerksamkeit noch nicht als eigene Frage. In der auftrags- und weisungsgebundenen Arbeit auch nicht. Die Frage nach der Aufmerksamkeit stellt sich mit zunehmender Selbstverantwortung und Individualisierung einerseits und mit einem Rückgang klassischer Arbeit und klassischer Hierarchien andererseits. Sie stellt sich mit der Digitalisierung und der Zunahme an Information – mit der Fülle an Möglichkeiten in der realen wie in der virtuellen Welt. Sie stellt sich mit neuen Herausforderungen, die im Mainstream wie im Bezahlsystem nicht genug vorkommen. Sie stellt sich für die kulturelle Entwicklung.
Die Aufmerksamkeit an sich zu ziehen, sie zu analysieren und als Besitz zu vermarkten, ist das große Geschäft der digitalen Ökonomie, der Apps und Internetplattformen wie beispielsweise Google, Facebook, iTunes. Ist das Software-Programm erst einmal entwickelt, gehen die sogenannten Grenzkosten gegen null. Das heißt, die Vervielfältigung und der Verkauf des Produktes und deren Anwendung sind ohne weitere Kosten unendlich möglich. Ohne weitere Kosten heißt ohne weitere menschliche Arbeit. Kapital und Arbeit sind entkoppelt.
Vereinfacht fasst Albert Wenger seine These, dass Aufmerksamkeit heute die knappe Ressource ist, etwa so zusammen: Zur Zeit der Sammler und Jäger war Essen die knappe Ressource. Mit der Agrarwirtschaft wurde Boden die knappe Ressource. Da der Anbau noch wenig effizient war, brauchte man viel Land, um genügend Überschüsse für einen Herrscher und für Soldaten zu produzieren. Wozu brauchte man die Soldaten? Um andere davon abzuhalten, einem das eigene Land zu nehmen und um selbst mehr Land zu erobern. Mit der Industrialisierung wurden Bodenschätze und Kapital zur knappen Ressource. Da man im Vergleich zu heute in der Produktion noch ungeschickt war, brauchte man viel Kapital für große Fabriken und Maschinen mit vergleichsweise geringer Produktivität. Kapital und Arbeit waren aneinander gekoppelt. Es waren viele Menschen nötig, um mit den Maschinen, Transportmitteln und Werkstoffen zu arbeiten.
Doch die Vorstellungen der Agrarwirtschaft lebten bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts weiter. Kriege wurden zur Eroberung von Land und Boden geführt. Und Kriege und Revolutionen begleiteten den Übergang zur Industrialisierung, weil altes Denken und alte Besitzstände das Neue nicht verstanden und die Bedingungen für alle nicht auf die neue Zeit umstellen wollten. So kann es wieder sein beim Übergang vom Industriezeitalter und seinem Kapitalismus in die digitale Ökonomie. Heute ist Kapital nicht mehr knapp. Und ein immer größerer Anteil der Produktion von Gütern und Dienstleistungen braucht heute vergleichsweise wenig Kapital. Zudem ist Kapital viel weniger an menschliche Arbeit gekoppelt – das heißt an ein Einkommen für Menschen – wenn Menschen nicht nur mit Maschinen arbeiten, sondern wenn Maschinen und Programme selbständig vollständige Arbeitsbereiche übernehmen.
Damit wird Aufmerksamkeit zur knappen Ressource. Zum einen, weil es weniger um die Produktion geht als um die Vermarktung der Aufmerksamkeit der User und Konsumenten. Zum anderen, weil es um den eigenen noch ungeschickten und wenig effizienten Umgang mit der eigenen Aufmerksamkeit geht. Der Umgang mit der eigenen Aufmerksamkeit ist wenig geübt.
In der Schule, der Ausbildung und der Arbeit ging es lange um Disziplinierung von außen, darum, die Aufmerksamkeit zu trimmen auf von außen gesetzte Ziele und Inhalte. Die selbst geführte, eigene Aufmerksamkeit war das, was wegzutrainieren war. Für die Freizeit stehen der amputierten eigenen Aufmerksamkeit Unterhaltungsprogramme zur Verfügung. Da die Unfähigkeit zur eigenen Aufmerksamkeit und die Bedeutungslosigkeit der eigenen Aufmerksamkeit so fest in die Köpfe gesetzt wurde, wird in der Digitalisierung von vielen ebenfalls nur Freizeit gesehen. Genauso werden die Möglichkeiten, die ein bedingungsloses Grundeinkommen eröffnet, von vielen nur als Zeit für Hobby und Ferien interpretiert. Das entspricht einem Arbeitsbegriff ohne den Wert eigener Aufmerksamkeit.
Menschen würden sich um das versammeln, was knapp ist, sagt Albert Wenger. In der Digitalisierung sieht er eine Befreiung der Menschen zu mehr Möglichkeiten. Doch der Boden dazu muss eine Renaissance der humanistischen Werte sein. Das ist für ihn das bedingungslose Grundeinkommen. Die Rahmenbedingungen für alle müssen den neuen Bedingungen entsprechen. Auch damit der Übergang vom Kapitalismus in das digitale Zeitalter nicht so viele Kriege und Gewalt bringt. Denn, staut man Entwicklungen, quält man die Menschen. In der technokratischen Behandlung der Sozialleistungen ist das zu sehen. Auch Gewalt und Kriege sind in ihrem neuen Auftreten bereits zu sehen. Dem digitalen Zeitalter muss eine menschliche Klärung vorausgehen wie die Aufklärung im 18. Jahrhundert der Industrialisierung.
Bedingungslosigkeit
Bedingungslos ist eigentlich ein intimer Begriff. Dies macht es nicht einfach, ihn mit einem alltäglichen Einkommen in Verbindung zu bringen. Während die einen glauben, dass die Grundlagen des Lebens bedingungslos zur Verfügung stehen, sagen andere, dass es dieses Phänomen in der Realität gar nicht gäbe.
«Wie absurd dieser Vorschlag zu einem bedingungslosen Einkommen ist», sagt Roger Köppel, Chefredaktor des Schweizer Magazins «Die Weltwoche», «sieht man schon an dem Wort bedingungslos. Bedingungslosigkeit gibt es gar nicht, nichts ist bedingungslos.»
«Bedingungslose Liebe ist das Größte in dieser Welt. Wer sie bekommt, hat großes Glück», sagt Warren Buffet, einer der reichsten Männer der Welt. «Mein Vater hat immer an mich geglaubt und mich unterstützt. (…) Meine Kinder bekommen bedingungslose Liebe, wie ich sie von meinem Vater bekommen habe.»
Liebe ist bedingungslos. Sie ist ein bedingungsloses ganzes Interesse am anderen Menschen, das ihn aus sich selbst heraus bejaht.
Was hat es also mit diesem intimen Begriff auf sich? Wie fühlt sich bedingungslos eigentlich an? Ist das offen? Ist das schwach? Ist das Hingabe? Geht da was los? Ist das aufgehend?
Bedingungslosigkeit – ist das ein Raum um einen herum, der haltlos und bedrohlich ist? Oder ist das ein Raum, der aus einem selbst heraus aufgeht?
Bedingungslos muss es sein, wenn man auf einen neuen Gedanken kommen will. Sonst spinnt man nur den alten weiter. Der spinnt sich weiter bis zu einer Ideologie.
Bedingungslos ist der Moment des Schöpferischen bei gleichzeitig voller eigener Präsenz.
Kann man die Bedingungslosigkeit zu einem Bestandteil des Volkseinkommens machen?
Praxis der Bedingungslosigkeit
Von der «Zukunftsstiftung Soziales Leben» in Deutschland wurden Menschen mit einem Förderbetrag unterstützt, der keine Auflagen hatte. Der Betrag war 500 Euro pro Monat. Er wurde über drei Jahre ohne Ergebniserwartung und ohne Bedingungen ausgezahlt. Nur mit einem Interesse begleitet am anderen Menschen. Das war sehr schwierig, weil man bei einem Zuspruch von Geld doch immer in Versuchung ist, nach der Effizienz zu fragen. Ist das denn auch sinnvoll? Lohnt sich das? Eine Sache oder ein Projekt zu fördern, ja, aber wie fördert man einen Menschen? Eben nur bedingungslos. (Dabei ist jede Förderung einer Stiftung letztlich nichts anderes als Einkommen für Menschen.)
Da diese Stiftung weniger eine Antragsstiftung war, sondern auf Menschen zuging, die im weitesten Sinne gemeinnützig tätig waren, die ihrer Intention nachgingen und dies nicht in erster Linie profitorientiert, kam es auch dazu, dass jemand sich fragte: Wofür bekomme ich jetzt dieses Geld? Bei einem Antrag oder Auftrag ist das klar. Aber hier, zu was verpflichte ich mich da, wenn ich von denen Geld annehme, das keine Gegenleistung fordert? Ist das eine Verpflichtung zu etwas, was ich nicht weiß? Ist das wie bei der Mafia oder einer Sekte? Wird man da als ganze Person eingekauft?
Diese Befürchtung haben manche auch beim bedingungslosen Grundeinkommen. Eine unausgesprochene Loyalitätsverpflichtung. In reichen Golfstaaten, wo es ein frei gegebenes Einkommen für die Landeskinder gibt, ist es das. Es ist wie ein Familieneinkommen.
Jemand, der von der Stiftung gefördert wurde, erzählte, dass er diesen Einkommensbetrag ohne Verpflichtung nach einigen Monaten wie ein Brennglas auf die Selbstverantwortung erlebt habe. Weil da nichts war, was ihm die Verantwortung abnahm, wie bei einem Auftrag. Und da, sagte er, merkt man erst, wie viele Handbremsen man angezogen hat, wie viele Gründe man hat, nicht wirklich das Optimale aus sich und den eigenen Fähigkeiten zu machen. Zu bemerken, dass man diese Gründe nicht haben muss, das dauert eine Weile.
Wie kommt das Neue in die Welt? Das war eine Frage in der Stiftung. Das Bedingungslose schafft einen freien Raum, in dem das Neue in die Welt kommen kann. Was war nun das Neue? Einige der Geförderten machten das weiter, was sie vorher gemacht hatten. Aber – sagten sie: besser. Weil so ein bedingungsloser Betrag nicht nur Geld ist, sondern einen besonderen Zuspruch transportiert: eine «Wärmequalität». Manche der Geförderten gingen auf die Bedingungslosigkeit gar nicht ein. Sie nahmen das Geld als Erleichterung dankend an.
Schenken ist bedingungslos, wenn es Schenken ist, dann gibt man bedingungslos.
Dass man nicht einfach etwas schenken kann, das denken viele. Dass man sehen kann, ist geschenkt. Die Augen sind geschenkt. Dass man denken und empfinden kann, ist geschenkt. Das Schenken der Natur ist ein anderes als das Schenken bei Menschen. Bei Menschen ist es eine individuelle Beziehung.
Das bedingungslose Grundeinkommen ist kein Geschenk. Es ist für alle aus einer allgemeinen gesellschaftlichen Übereinstimmung. Es bezieht sich auf die Lebensgrundlage. Es ist eine gesetzliche Regelung zu einem Zweck. Der Mensch ist nicht ein Mittel für etwas, sondern er selbst ist der Zweck. Er ist das, worum es geht. Von ihm geht es aus, und zu ihm geht es hin. Ein Grundeinkommen kann eine Voraussetzung bilden, nicht ein Ergebnis.
Ein Recht auf das Bedingungslose?
Das bedingungslose Grundeinkommen ist kein Schenken, aber es enthält einen Aspekt davon. Es ist kein individueller Vorgang zwischen Zweien. Es garantiert die Lebensgrundlage aus demokratischer Übereinkunft. Das heißt, es ist ein demokratisch-rechtliches Einkommen. Es geht in die Richtung eines «sozialen oder wirtschaftlichen Bürgerrechtes», wie es Prof. Peter Ulrich sagt, emeritierter Ordinarius für Wirtschaftsethik an der Universität in St. Gallen. Ein Recht auf ein Einkommen, ja. Aber darauf, dass es bedingungslos ist? Ein Recht auf Freiheit? Kann es das in der Form für alle gleich und ohne Ansehen der Person geben?
Wenn man etwas bedingungslos gibt, sagen einige Kritiker, dann muss ein persönlicher direkter Zusammenhang da sein. Ein bedingungsloser Einkommensbetrag ist ein Eingriff in die Biografie. Dadurch ändern sich die Bezüge und die Lebenssituation eines Menschen. Das ist verantwortungslos, wenn es nicht eingebettet ist in ein persönliches Verhältnis und eine persönliche Begleitung.
Ohne es so zu nennen, ist das auch die Kritik der vielen, die fürchten, dass dann viele nicht mehr arbeiten. Man kennt die Leute ja nicht und man müsste ein Grundeinkommen auch denen gönnen, von denen man gar nichts hält. Bedingungslosigkeit setzt Vertrauen voraus. Das kann man nicht allen geben. In der allgemeinen Ordnung braucht es Rechte und Pflichten, die das Verhalten regeln. Etwas derart Bedingungsloses ist da ein Sprengsatz.
Care-Arbeit
Das bedingungslose Grundeinkommen polarisiert Feministinnen und Gleichstellungsbefürworter: Die einen fürchten das Grundeinkommen als Quasilohn der Care-Arbeit und verbinden damit die Rückkehr zu alten Rollenbildern. Die anderen sehen das Grundeinkommen als Fortschritt auf dem Weg zur Gleichstellung. Dabei wird übersehen, dass ein Grundeinkommen keine Lösung für irgendein bestimmtes Problem ist.
Care-Arbeit heißt Sorgearbeit und meint Hausarbeit, häusliche Pflege und Betreuung von Kindern, von kranken und betagten Menschen. Diese Arbeit, bei der sich Menschen um Menschen kümmern, macht in der Schweiz laut Berechnungen der Schweizer Ökonomin Mascha Madörin mehr Arbeitsstunden aus als die Erwerbsarbeit. Care-Arbeit wird zum größten Teil von Frauen geleistet, und sie ist zum größten Teil unbezahlt. Care-Arbeit macht den bezahlten Arbeitsanteil in der Gesellschaft, die Erwerbsarbeit, erst möglich. Sie ist der unbezahlte Teil der Wirtschaft. Allerdings wird sie von denen, die sich für ihren wirtschaftlichen Erfolg loben, oft ignoriert.
Es ist skurril: Care-Arbeit macht mehr als die Hälfte des notwendigen Arbeitsvolumens in der Gesellschaft aus und wird nicht gesehen, wenn über Arbeit debattiert wird. Sie wird auch übersehen, wenn über fehlende Arbeitsanreize bei einem Grundeinkommen spekuliert wird. Sie ist Arbeit um des anderen Menschen willen. Heilende Arbeit, bildende Arbeit, seelische, erzieherische Arbeit. Ohne sie wird niemand groß, die «Arbeitskräfte» kommen nicht aus dem Nichts. Mit der Diskussion um das Grundeinkommen ist diese Arbeit vermehrt in den Blick geraten, sichtbarer geworden, da ja – vereinfacht – auch Hausfrau oder Hausmann ein Grundeinkommen erhielten. Aber die möglichen Folgen sind umstritten.
Rückschritt in Sachen Gleichberechtigung?
«Wir müssen Care-Arbeit auf andere Weise ermöglichen, als diejenigen Menschen, die sie erledigen, mit dem Existenzminimum abzuspeisen. Und genau das ist der Fall, wenn das Grundeinkommen als Ermöglichung von häuslicher Care-Arbeit betrachtet wird», sagt die Innovatorin Nadja Schnetzler aus Biel. «Die Sorge vieler Feministinnen ist, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen auch ein Rückschritt sein könnte, weil die Gefahr besteht, dass es als Quasilohn für häusliche Care-Arbeit angesehen wird. Frauen haben sich Gleichberechtigung und Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt seit den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts hart erkämpft. Männer legen bis heute im Beruf einen viel größeren Wert auf Status und Einkommen, während es Frauen vor allem wichtig ist, dass sie etwas tun, was für sie und für andere sinnvoll ist. (…) Männer entscheiden sich aus diesem Grund wesentlich seltener als Frauen dafür, ihre Erwerbsarbeit aufzugeben oder zu reduzieren, wenn es zum Beispiel notwendig wird, für Kinder, die älter werdenden Eltern oder Schwiegereltern zu sorgen», so Nadja Schnetzler. «Frauen würden mehrheitlich das tun, was zu tun ist, und sich mit dem Grundeinkommen zufriedengeben, während Männer Status und Verdienst folgen. (…) Ein Grundeinkommen könnte zu einer Zweiklassengesellschaft führen, weil es das Dilemma nicht aufhebt, dass Menschen sich zwischen Geld, Karriere und öffentlichem Einfluss auf der einen und Sorgearbeit auf der anderen Seite zu entscheiden haben.»
So kann es betrachtet werden. Das bedingungslose Grundeinkommen ist tatsächlich keine Lösung für irgendein bestimmtes Problem, auch nicht für die mangelnde Gleichberechtigung. Es schafft mehr Möglichkeiten; wie sie genutzt werden, entscheiden die Menschen. Probleme, die unter den alten Bedingungen unter der Oberfläche blieben, könnten sichtbar werden durch die veränderten Grundbedingungen. Das Grundeinkommen ist keine Bezahlung, auch keine Bezahlung für Care-Arbeit. Aber was würden die neuen Bedingungen verändern?
Eine «Herdprämie»?
«Stellen Sie sich vor, was es kosten würde, wenn wir alle Hilfe für Betagte, Kranke, Behinderte und junge Menschen mit Löhnen bezahlen müssten», sagte die Ständerätin Anita Fetz aus Basel in der Parlamentsdebatte über das bedingungslose Grundeinkommen.
Wieso verdient ein Banker mehr als jemand, der in häuslicher Pflege für einen kranken Menschen da ist? Letzterer leistet vielleicht mehr. Leistung muss sich lohnen? Immerzu bezogen auf leistungsgerechte Bezahlung? Ist diese immer wiederholte Forderung blind oder zynisch? «Vielleicht ist den meisten Männern die Relevanz jener eher unsichtbaren Seite der Ökonomie, die sich nicht im Bruttosozialprodukt und nicht in der Steuerpolitik niederschlägt, sondern im sogenannten Privaten stattfindet, nicht bewusst», meint Nadja Schnetzler.
Leben wir heute in dieser Zweiklassengesellschaft? Das ist die Aussage. Haben Frauen sich Gleichberechtigung und Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt nur mit der Not einer zu knappen Haushaltskasse erkämpfen können? Ist das der Gedanke bei der Angst, ein Grundeinkommen könne als «Herdprämie» wirken? Weil der Mann dann sagen könnte: Du bleibst jetzt zu Hause, musst nicht mehr für Geld arbeiten gehen, wir haben ja nun dein Grundeinkommen, ich verdiene mehr Geld, du bleibst am Herd und bei den Kindern. Spricht da die Angst, dass die Emanzipation auf dünnen Beinen steht und sich nicht aus sich heraus behaupten kann?
Auch heute noch werden Frauen oft für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt als Männer. Da sie es sind, welche die Kinder bekommen, fehlen sie rund um die Geburt für eine gewisse Zeit im Erwerbsleben. Viele Frauen arbeiten Teilzeit. Das ist die Situation heute. Und mit einem bedingungslosen Grundeinkommen?
«Damit wären fünfzig Jahre Frauenemanzipation zerstört», sagt die Ökonomiedozentin Amalia Mirante aus Lugano. Weil das Grundeinkommen die Frauen vom Arbeitsmarkt nähme. Aber Erwerbsarbeit bedeute auch Zugehörigkeit zur Gesellschaft und nicht nur eigenes Geld.
Das Dilemma der Bezahlung
Auf der einen Seite die Sorgearbeit, auf der anderen öffentlicher Einfluss und öffentliche Geltung und Geldverdienen, das sei das Dilemma, sagt Nadja Schnetzler. Und das löst ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht. Liegt dieses Dilemma in der Natur der Sache? Würde ein Grundeinkommen beitragen zu einem Bewusstsein vom Wert der Arbeit, der näher an der Care-Arbeit liegt? Ist das ein Beitrag zur Emanzipation?
«Der Diskurs um das bedingungslose Grundeinkommen entwickelt sich leider in die Richtung, dass das Grundeinkommen die Zukunftslösung aller Probleme sein soll», kritisiert Nadja Schnetzler. Genau das empfinden viele Frauen als störend an der Idee. Sie sehen, dass mit einem Grundeinkommen ja noch keine Lösung da ist. Verspricht es die?
Würde denn eine Bezahlung der Care-Arbeit das Dilemma lösen? Kann man eine Mutter dafür bezahlen, dass sie sich um ihr Kind kümmert? Oder dafür, dass sie die Wohnung sauber macht oder dass sie sich um ihre eigene Mutter kümmert? Da wird doch eher deutlich, dass Bezahlen auch ein Fremdkörper ist, der in die Beziehung zum anderen Menschen und zu sich selbst in der Arbeit eine Distanz einbaut.
Aber ein Einkommen braucht jeder. Das Grundeinkommen hat vielleicht eher zur Folge, dass klarer wird, dass Care-Arbeit auch Arbeit ist. Anstatt dass Care-Arbeit unbedingt zum bezahlten Job wird. Das Dilemma ist nicht aufgehoben.
«Das Grundeinkommen ist Teil der Lösung», sagt Nadja Schnetzler. «Es krempelt unsere Gesellschaft nicht völlig um, sondern es macht Aspekte von ihr sichtbar, die bisher weitgehend unsichtbar sind.»
«Die Existenzsicherung und die Erwerbsarbeit würden entkoppelt», sagt Sarah Schilliger, Soziologin an der Universität Basel, «das Grundeinkommen schafft Freiräume zum Denken, zum Ausprobieren und Handeln für alle. Einige haben das heute schon, aber anderen wird es verwehrt. Es gibt viele Leistungen, die heute gar nicht als Arbeit anerkannt werden. Viele Beiträge von Frauen zum Beispiel. Sie werden nicht als zur Wirtschaft gehörig gesehen, sondern als ‹Liebesdienst›. Bezahlte Arbeit ist nur die Spitze des Eisbergs. Das Grundeinkommen würde den Eisberg sichtbar machen.»
Demokratie
Für die Schweiz ist direkte Demokratie ein Teil der Identität. Und sie ist Voraussetzung zur Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens – weil es im Grunde dieselbe Idee ist. Die direkte Demokratie setzt Eigenverantwortung voraus und ist gleichzeitig die Form, die sie stärkt: Weil die Freiheit gegeben ist und jeder als Teilnehmer Verantwortung trägt und ernst genommen wird. Bedingungsloses Grundeinkommen in der Schweiz wäre eine weitere Pioniertat in Sachen Demokratie.
Mit der politischen Debatte über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in der Schweiz und verschiedenen anderen Ländern weltweit geht auch die Botschaft der direkten Demokratie in die Welt. Demokratie und bedingungsloses Grundeinkommen stehen in einem Zusammenhang. Sie sind beide von einer Idee: Dass über den Menschen in ihrer Entscheidung kein höheres System des Richtigen und Wahren steht. Die Souveränität liegt beim Volk und in der Stimme jedes Einzelnen. Ernst genommene Demokratie ist Voraussetzung für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Denn es kann nur von denen eingeführt werden, die es betrifft. Und es kann nur reifen in der demokratischen Auseinandersetzung, in der alle Mitsprache und eine Stimme haben. Was für alle ist, das kann auch nur durch alle und in Abstimmung miteinander kommen. Sonst ist auch ein Grundeinkommen letztlich nur ein Instrument für alte Interessen. Von einem Herrscher oder einer Regierung von oben herab spendiert wäre es eine Loyalitätsverpflichtung.
«Eine Demokratisierung der Demokratie», nennt Andreas Gross, ehemaliger Vertreter der Sozialdemokraten im Schweizer Parlament, die Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen. «Denn die Chancengleichheit wird wesentlich erhöht, wenn die Menschen nicht mehr Angst um ihre Existenz haben und eben auch Zeit bekommen, sich um die allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Gestaltungsfragen zu kümmern.» Viele, bemerkt Andi Gross, würden diese Initiative zu einem bedingungslosen Grundeinkommen anstößig finden. Aber das sei auch gut so, sagt er, wenn etwas anstößig ist. Da würde man angestoßen. Das ist der Vorteil der direkten Demokratie, dass auch neue und ungewöhnliche Gedanken in die Gesellschaft kommen können. Die direkte Demokratie ist ein permanenter Bildungsprozess: Der Prozess und der Zeitraum einer Einführung sind notwendig als eine Weiterbildung. Dieser Entstehungszeitraum eines bedingungslosen Grundeinkommens wird oft ausgeblendet. Was jetzt noch nicht klar ist und wo Fragen offen sind, da entstehen Antworten, bessere Fragen und auch Reife. Man hört, was andere denken, und muss sogar zuhören, weil diese auch eine Stimme haben. Man hört vielleicht auch zur eigenen Überraschung, wie viele so denken wie man selbst. Und an das, was man selber denkt, richtet sich ein höherer Anspruch, wenn daraus Ernst werden kann. Menschen lernen, wenn es Ernst wird.
Darum ist die Diskussionskultur in der Schweiz relativ hoch. Die Auseinandersetzung kann polemisch sein, aber das Einverständnis steht über allem, dass der andere das Initiativrecht hat und seine Stimme zählt. Seine wie auch die eigene Stimme kann zur politischen Umsetzung führen. Darum muss man besser auf das eigene Urteil achten, als wenn es sowieso keine Rolle spielt. Das ist ähnlich wie mit einem bedingungslosen Grundeinkommen auf der wirtschaftlichen Ebene. Damit hat die eigene Stimme auch mehr Gewicht. Und es steht weniger ein vorgegebenes Richtig oder Falsch über dem, was ein Mensch für sich entscheidet. Man kann oder muss mehr auf das achten, was man wirklich will, weil es eher zur Umsetzung kommen kann.
Wo es kein Initiativrecht der Bevölkerung gibt, muss die Bürgerin, der Bürger sich öfter sagen, dass er oder sie nun mal nichts verändern kann. Wo es das Initiativrecht gibt, kann er oder sie das nicht so sagen. Da liegt es an einem selbst, wenn man nicht initiativ wird. Und wird man es mit einem Vorschlag, der für alle sein soll, und findet man nicht genügend Zustimmung, dann korrigiert einen die Wirklichkeit der anderen, dass der Vorschlag wohl noch nicht für alle ist. Das ist ein ganz anderes Erleben, als wenn einem von vorneherein keine Möglichkeit gegeben ist.
Ähnlich wäre es mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. Man kann, wenn man will, mehr ausprobieren. Und die Resonanz lehrt einen. Keine Möglichkeit von vorneherein lässt nicht lernen. Was man nicht macht oder womit man nicht weiterkommt, liegt dann eher bei einem selbst, als dass nur die äußeren Umstände schuld wären. Neues und Ungewöhnliches hat mehr Chancen, sich in die Gesellschaft einzubringen. Das ist so in der direkten Demokratie; so wäre es mit dem bedingungslosen Grundeinkommen.