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Für die Erziehungsanstalten war es bereits ab 1913 und besonders im Krieg schwierig geworden, geeignetes Personal zu gewinnen. Männliche Aufseher wurden nach und nach zum Kriegsdienst eingezogen, so dass der Anteil der Frauen im Personalkörper der Anstalten stieg. Die Zahl der Betreuten war hoch, so dass immer wieder die Überfüllung der Anstalten beklagt wurde. Im Krieg kamen die Lebensmittelknappheit und Rationierung als Erschwernis hinzu. So bat die Oberin der Erziehungsanstalt für Mädchen im März 1917 ihre Behörde, „dass wir hin und wieder, vielleicht 1 oder 2 mal wöchentlich, für unsere 170 Zöglinge Magermilch bekommen. (…) Die uns von der Knabenanstalt gelieferte Menge Milch ist zu gering, seit 14 Tagen täglich durchschnittlich 7 Liter, früher weniger oder gar nichts, wovon für die Angestellten täglich 3 Liter abgehen.“{75}
Am 1. Dezember 1916 berichtete die Oberin in einer Besprechung der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge, dass es in den Kriegsjahren zu vermehrten, kritischen Situationen gekommen sei, die in erhöhtem Maß Disziplinarstrafen erforderlich gemacht hätten. Als Ursache beschrieb sie den in den letzten Jahren „tieferen geistigen und sittlichen Standpunkt“ der überwiesenen Zöglinge, aber auch die gestiegene Zahl an „Fluchtversuchen“. Auch sei eine gewisse „Kriegsnervosität“ festzustellen, „die die Zöglinge anstaltsmüde mache und die durch die in die Anstalt eindringenden Gerüchte, dass draussen in Fabriken für Mädchen Arbeit in Hülle und Fülle vorhanden sei, noch verstärkt werde.“{76} Der hier beschriebene Widerstand und das Entweichen der jungen Menschen war eine Bedrohung für die Ordnung in den beiden Anstalten. Und sie war ein Thema in den damals geführten Debatten zur Ausgestaltung von Strafen und der Züchtigung als Erziehungsmittel. Die Verantwortlichen haben auf diese Herausforderung in den Kriegsjahren keine befriedigende Antwort gefunden. Dafür brauchte es einen freiheitlichen Geist, der in jener Zeit in der Anstaltserziehung nicht zu finden war.
Der Zusammenbruch der alten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung war aber nur eine Frage der Zeit. Im August 1916 jährte sich der Kriegsbeginn zum zweiten Mal, an dem erstmals Proteste gegen den Krieg und das Elend öffentlich zum Ausdruck gebracht wurden. Zum Jahresbeginn 1917 hatte sich die Versorgungslage weiter verschlechtert. Kartoffeln gab es kaum noch, stattdessen Steckrüben. Andere Lebensmittel wie Butter und Milch waren ohnehin selten geworden. Die Situation eskalierte. Geschäfte wurden geplündert, Unruhe beherrschten die Straßen in den Arbeitervierteln, die nur mit bewaffnetem Militär im Zaum zu halten war. Anfang 1918 streikten die Werftarbeiter und die Arbeiter der Zulieferbetriebe. Der Streik brachte das Fass der unhaltbaren Zustände aber noch nicht zum Überlaufen. Hierfür bedurfte es des Kieler Matrosenaufstandes, der am 3. November nach ersten Meutereien auf Kriegsschiffen begann. Wenige Stunden nach dessen Bekanntwerden, beschlossen Werftarbeiter einen Streik, der sich schnell zu größeren Versammlungen ausweitete und politisierte. In der darauffolgenden Nacht entwaffneten revolutionäre Matrosen die in Hamburg liegenden Torpedoboote und die vereinigten Arbeiter und Soldaten übernahmen wichtige Schaltstellen des öffentlichen Lebens. Am 6. November verkündete der provisorische Arbeiter- und Soldatenrat vor 40 Tausend Hamburgern, dass er die politische Macht in Teilen übernommen habe. Am 12. November war sie vollends in seiner Hand. Der Weg zu einem demokratischen Hamburg war geebnet. Im Februar 1919 verkündete der Arbeiter- und Soldatenrat im Amtsblatt der Freien und Hansestadt Hamburg die Neuwahl der Bürgerschaft. Am 16. März1919 fand die erste allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Bürgerschaftswahl für Männer und Frauen statt. Wahlsieger war die SPD mit 50,4 Prozent der abgegebenen Stimmen. In dieser ersten, demokratisch gewählten Bürgerschaft mit 160 Abgeordneten hatten auch 17 Frauen Mandate inne. Das neue Parlament war das erste in Deutschland, das von einer Frau, der Alterspräsidentin Helene Lange, eröffnet wurde. Die gewählte Volksvertretung arbeitete eine neue Verfassung aus, die 1921 in Kraft trat. Die Bürgerschaft war nun alleiniger Gesetzgeber, der neben dem Budgetrecht die Wahl des Ersten Bürgermeisters und die Kontrolle des Senats oblag.
Eine neue Zeit
Der politische Neuanfang war im Deutschen Reich und auch in Hamburg von Unruhen begleitet. Die Stadt steckte 1919 in einer schweren Versorgungskrise. Im Vergleich zur Vorkriegszeit betrugen die Milchlieferungen beispielsweise nur noch 20%. Waren wurden dem normalen Handel für Geschäfte auf dem Schwarzmarkt entzogen. Im Juni 1919 musste sogar die Reichswehr anlässlich der „Sülze-Unruhen“ ordnend eingreifen: Die Bevölkerung protestierte gegen den Verkauf verdorbenen und minderwertigen Fleisches. Die Arbeitslosigkeit war dramatisch angestiegen. Auch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm des Senats hatte nur eine geringe Wirkung. Die Kassen der Stadt waren leer, die Verschuldung hoch und damit der politische Handlungsspielraum des Senats gering. Auch wenn es in den Folgejahren einen konjunkturellen Aufschwung gab, blieb es unruhig: 1921 besetzten Kommunisten die Werft Blohm & Voss, um einen republikweiten Aufstand zu unterstützen. Doch dieser fiel in sich zusammen. 1923 verschärfte sich die wirtschaftliche Situation durch eine Hyperinflation. Auf deren Höhepunkt erfolgte ein weiterer Versuch, die Macht zu ergreifen: Kommunistische Kampfgruppen stürmten in den Morgenstunden des 23. Oktober im Osten Hamburgs Polizeireviere. Doch der Aufstand scheiterte an der Übermacht von 5000 Polizisten. Auch Putschversuche von Rechts bewegten Hamburg. Am 13. März 1920 versuchten Rechtsextremisten in Berlin die Reichsregierung zu stürzen. Dieser Umsturzversuch, der „Kapp-Putsch“, wurde jedoch durch einen Generalstreik vereitelt, an dem sich auch Hamburger Arbeiter beteiligten. Zu dieser Zeit bildeten national gesinnte, stellungslose Offiziere und Soldaten den Kern nationalistischer und republikfeindlicher Gruppierungen, die eine Reihe von Anschlägen auf liberale und kommunistische Einrichtungen und Personen verübten. In Hamburg war eine von ihnen die personell noch sehr kleine Ortsgruppe der NSDAP, die aufgrund des 1922 erlassenen Republikschutzgesetzes verboten wurde. Mit der Hyperinflation im Jahr 1923 endete der kurze wirtschaftliche Aufschwung in erneuter Not für weite Bevölkerungskreise. Der Preis für ein Brot lag bei 17 bis 18 Millionen Reichsmark und der für ein Pfund Butter bei 60 Millionen. Die Arbeitslosigkeit war hoch und jene, die Arbeit hatten, bekamen keine Löhne. Streiks, Krawalle und Plünderungen von Lebensmittelgeschäften waren die Folge.{77} Fragen der Jugendhilfe standen in diesen Krisenjahren nicht an erster Stelle auf der politischen Agenda. Sie wurden aber von engagierten Abgeordneten der neu gewählten Bürgerschaft dennoch aufgegriffen.

Oberin Rothe hielt das an sie gerichtete Kärtchen der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge in der Hand, als sie sich am 17. März 1921 auf den Weg zur außerordentlichen Sitzung der Behörde im Hamburger Rathaus machte. Das prachtvolle Gebäude war erst 1897 nach 10-jähriger Bauzeit im Stil der Neorenaissance fertiggestellt worden. Das in voller Breite auf den Rathausmarkt ausgerichtete Gebäude mit seinem über hundert Meter hohen Turm prägt das Bild der Innenstadt bis heute. Ort der Sitzung war der Phoenixsaal im Rathaus. Der Name ist dem Mythos vom Vogel Phönix entlehnt, der sich aus der Asche erhebt und neues Leben symbolisiert. Der Saal erinnert an das Trauma des großen Brandes von 1842, der weite Teile der Stadt zerstörte, dem aber der erneute Aufstieg folgte. Konferenzteilnehmer betreten noch heute den Saal durch die zweiflügeligen, schweren Türen, über denen das geschnitzte Stadtwappen prangt. Zwei hohe Fenster sind zum Rathausmarkt ausgerichtet und beleuchten den Raum. Auf dem Bild über dem Kamin entsteigt Hammonia – Hamburgs Schutzpatronin – der Asche. Die dagegen kleinen und beinahe demütig wirkenden Ölgemälde grauhaariger Männer mit Halskrause erinnern an die Honoratioren der Stadt.
In dieser Atmosphäre sollte ein ernstes Thema behandelt werden: Die von den Abgeordneten Stengele und Reiche der Hamburgischen Bürgerschaft aufgedeckten Missstände in den beiden Erziehungsanstalten, der Anstalt für Mädchen in der Feuerbergstraße und der für Jungen in Ohlsdorf. Die SPD-Abgeordnete Ida Stengele war Mitglied der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge. Sie hatte die beiden Erziehungsanstalten inspiziert und wollte über ihre Beobachtungen und vor allem die von ihr entdeckten Missstände berichten. Die 1861 in der Schweiz geborene Stengele war bis zu ihrer Heirat mit Gustav Stengele im Jahr 1894 als Erzieherin in Österreich, Frankreich und Italien tätig. Danach lebte sie als politisch interessierte Hausfrau an der Seite ihres Mannes in Hamburg. Gustav Stengele war Redakteur des Hamburger Echos und sozialdemokratischer Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft. Er starb 1917. Von politscher Seite erhob sich damit eine in der Pädagogik nicht unerfahrene Stimme. Ihre 1875 in Hamburg geborene Fraktionskollegin, Adele Reiche, war von 1896 bis 1907 Volksschullehrerin und von 1915 bis 1918 als Kriegshilfslehrerin in Hamburg tätig und ebenfalls Mitglied der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge. Zu ihr waren Beschwerden über die Behandlung der jungen Menschen in den Erziehungsanstalten vorgedrungen, die ebenfalls angesprochen werden würden.
Um 14:15 Uhr eröffnete Staatsrat Lohse die Sitzung, zu der die genannten Kommissionsmitglieder, Direktor Heskel, zwei Ärzte, einige Beamte, Direktor Schallehn der Knabenanstalt und Oberin Rothe anwesend waren. Stengele erhielt das Wort und berichtete über zwei Besuche in der Knabenanstalt im Februar. Sie war dort auf verschmutzte Bettwäsche und Kleidung, Hygienemängel und unzureichende Kost, insbesondere auch für kranke Zöglinge, gestoßen. Weiterhin hatte sie die Überzeugung gewonnen, „dass in der Anstalt noch in den alten Bahnen fortgearbeitet würde und dass die Anstalt noch nicht von modernem Geiste durchdrungen sei.“{78} Sie schloss ihren Vortrag mit der Forderung zur Erneuerung durch eine familiärer geprägte und freiheitliche Erziehung sowie der gründlichen Berufsausbildung der Zöglinge sowie der Erzieher. Der Behörde waren zudem Beschwerden über Misshandlungen zugetragen worden, und dass „in der Erziehungsanstalt noch die Anwendung der sogenannten Gruppenkeile üblich sei.“{79} Die Vertreter der Anstalten und Beamten der Behörde widersprachen den Vorwürfen weitgehend. Die Behörde beschloss, von einem häufigeren Wäschewechsel abzusehen. Auch die Frage einer besonderen Verpflegung für Kranke ließ man auf sich beruhen. Allerdings wurde das Bestreben beschlossen, das allgemeine Niveau der Ernährung zu verbessern. Dabei sollte auch „die Frage der Herbeiführung des gleichen Essens für Angestellte und Zöglinge“ geprüft werden, denn die Beratung hatte zutage gefördert, dass die Angestellten getrennt von Zöglingen aßen und auch eine bessere Kost erhielten.
Zum Abschluss wurden Beschwerden in Einzelfällen besprochen, darunter der Einschluss von Mädchen in der Feuerbergstraße in Arrestzellen, die nach Aussage der Oberin jedoch auf eigenen Wunsch der Zöglinge erfolgt seien. Insgesamt waren die Beamten wenig offen für die vorgebrachte Kritik. Der zweite Direktor, Riebesell, fühlte sich durch die Kritik verletzt und stellte sein Amt zur Verfügung, wenn die Behörde dies wünsche. Der Leiter der Knabenanstalt gab zu Protokoll, dass „von den von Frau Stengele gegen seine Amtsführung erhobenen Angriffen nichts an ihm hängen geblieben sei.“{80}
Die von Stengele angeschnittene Frage der „Einführung eines freiheitlichen Geistes“, die eng mit der Strafordnung in den Anstalten verbunden ist, wurde auf eine spätere Sitzung verschoben. Und diese sollte auch nicht die letzte zu diesem bedeutsamen Thema sein.
Es wurde eine „Kommission zur Abfassung einer Strafordnung in der Erziehungsanstalt für Mädchen“ einberufen, die sich jedoch grundsätzlich mit den Strafordnungen in allen Anstalten befasste. Zur Vorbereitung der ersten Kommissionssitzung wurden die Anstaltsleitungen von der Behörde im Juli 1921 beauftragt, Vorschläge für die Änderung der jeweiligen Strafordnungen zu unterbreiten. Die Oberin der Erziehungsanstalt für Mädchen bat die Lehrerinnen und Erzieherinnen, Erfahrungen mitzuteilen und Änderungen vorzuschlagen. Es scheint ein Interesse an der Mitgestaltung der Strafordnung bestanden zu haben, denn die Oberin erhielt eine Reihe kurzer Mitteilungen, aber auch lange Ausführungen. Manche Vorschläge hatten eher pädagogischen Charakter wie etwa die Wiedergutmachung, wenn Schaden angerichtet wurde, und dass eine Reaktion auf Fehlverhalten zügig erfolgen solle. Dass die körperliche Züchtigung aber weiterhin als Mittel gewünscht wurde, auch wenn sie angeblich wenig Anwendung fand, wurde offen geäußert: „Für angebracht halte ich bei frechen, ungebührlichen Reden und Gegenreden gleich einen ordentlichen Klaps auf den Mund, (…) bei mutwilligen Beschädigungen (…) Kleider zerreißen usw. sind wohl eine Tracht Prügel angebracht.“ Eine andere Erzieherin schrieb dazu: „Körperliche Züchtigung habe ich, abgesehen von einigen Ohrfeigen in der Anstalt noch nicht erlebt. Doch bin ich der Überzeugung, dass eine Tracht Prügel bei schlimmen Vergehen od. bei sehr großem Trotz ein wirksames Heilmittel sein könnte.“{81}
Die Meinungsäußerungen wurden besprochen und führten zum Entwurf einer neuen Strafordnung, die ein wenig milder erscheint, zumindest semantisch: Das abgestufte Strafregister begann mit dem Entzug von Vergünstigungen und verschiedenen Formen der Absonderung von der Gruppe durch Arbeit in der Freizeit, Vorenthaltung der Briefpost, Zimmerarrest für einzelne Stunden oder auch mehrere Tage. Die drei härtesten Strafen waren die Entziehung der Besuchserlaubnis, „Fasttage mit trockenem Brot und Wasser“ und die Rückversetzung in die Aufnahmegruppe. Eine körperliche Züchtigung war nicht mehr vorgesehen. Der Vorschlag endete mit der Bemerkung, „dass die Reihenfolge der Strafen ihrer, von den Zöglingen empfundenen Schwere nach aufgestellt worden ist.“{82}
Der Entwurf wurde am 6. Dezember 1921 in einer Kommissionsitzung beraten, an der für die Mädchenanstalt nicht nur die Oberin Rothe, sondern auch die Erzieherinnen Petri und Heuer teilnahmen. Nach der Eröffnung der Sitzung durch den Kommissionsvorsitzenden Müller erhielt Direktor Heskel die Gelegenheit, einen Überblick über die Entwicklung der Strafordnung der Erziehungsanstalt für Mädchen zu geben. Sodann entspann sich eine Grundsatzdebatte, bei der im Vergleich zu den in der Vergangenheit geführten Diskussionen Zweifel und ein offenerer Umgang mit Erfahrungen spürbar waren. Oberin Rothe äußerte, dass sie ihre Auffassung bezüglich der Notwendigkeit einer körperlichen Züchtigung nicht geändert habe. Allerdings würde sie der Wiedereinführung widersprechen. Sie persönlich würde sie nicht mehr vollziehen, weil sie nicht wisse, „wie eine solche auf das innere Leben eines Menschen wirke“. Allerdings „seien aber frühere Zöglinge zu ihr gekommen, die ihr die empfangene Züchtigung noch nach acht Jahren gedankt hätten.“{83} Auch Direktor Schallehn von der Knabenanstalt berichtet über einen Fall des Dankes für die Züchtigung. Die Erzieherin Heuer hingegen äußerte, dass die „Züchtigung in den meisten Fällen bei dem Zögling einen Hass entwickle.“ Dem stimmte auch Direktor Schallehn zu. Pastor Gastrow vertrat die Auffassung, dass die körperliche Züchtigung nur Erfolg haben könne, „wenn das Kind die Empfindung habe, dass diese Strafe ein Ausfluss der suchenden Liebe sei.“ Diese Äußerung wurde mit der Bemerkung abgetan, dass „die Gedanken des Herrn Gastrow nur auf das Familienleben anwendbar [seien].“
Die Abgeordnete Stengele, die die Einrichtung der Kommission erwirkt hatte, führte einen neuen Gedanken ein, der die Diskussion aufkochen ließ. Kinder seien nur das Produkt der Verhältnisse, denen sie entstammten. Sie selbst habe während ihrer Tätigkeit als Erzieherin nur einmal ein Kind gezüchtigt, dies aber später bereut. „Die Erzieher dürften nicht das Odium auf sich laden, Tierbändiger zu sein“. Falls die Behörde die Züchtigung beibehalten wolle, so würde sie die Schließung der geschlossenen Anstalten fordern. Zumindest sei die Einsperrung aufzuheben.
Müller und Heskel widersprachen deutlich. Ein Verzicht auf die Arreststrafe sei unmöglich. Ebenso sei eine Schließung der Anstalten nicht zu verantworten. Die Klientel habe sich in den letzten Jahren eher zum Schlechteren entwickelt, so dass die Behörde jedes Erziehungsmittel einsetzen müsse, „ehe sie es aufgebe, sich mit einem Zögling zu befassen“. Die Abgeordnete Stengele habe „wohl zu wenig Einblick in das Zöglingsmaterial der Behörde, um über die Notwendigkeit ernster Zuchtmittel urteilen zu können.“ Damit war in der Generaldebatte alles gesagt und die Fronten waren geklärt. Die Kommission vertagte sich und sollte erst in einem Jahr wieder zusammentreten.
Die Folgesitzung fand am 1. November 1922 im Sitzungssaal der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge statt. Der Vorsitzende Müller regte an, nach der Generaldebatte in die Erörterung der Einzelfragen einzusteigen und dabei den Entwurf einer neuen Strafordnung aus dem letzten Jahr zur Grundlage zu nehmen. Dabei fasste er zusammen, dass „auf Straf- und Disziplinarmittel nicht verzichtet werden könne. Bei Abschaffung der körperlichen Züchtigung müsse wenigstens an der Arreststrafe festgehalten werden.“{84} Aber bereits dieser Auftakt war in der Kommission umstritten. Oberin Rothe berichtete über ihre aus Erfahrung gewonnene Erkenntnis, dass die Mädchen selbst eine Einsicht in ihr Fehlverhalten und dessen Verhältnis zur Strafe gewinnen müssten. „Unter Umständen“ könne das Mädchen dann auch selbst seine Strafe bestimmen oder „einen Sühnevorschlag machen. (…). Die Strafe solle ein fühlbarer Eingriff in ihre eigene Lebenssphäre sein, ohne dass das Strafmittel grausam oder nervenaufreibend sein müsse.“ Diese pädagogisch geprägten Überlegungen stellten einen Schwenk dar, der vermutlich darauf beruhte, dass körperliche Züchtigungen in der Mädchenanstalt nicht mehr praktiziert und damit keine nachteiligen Erfahrungen gemacht wurden. Die harten Strafen waren auch sehr umständlich auszuführen. Durch das Erfordernis, dass die Oberin sie auf den Hinweis eines Vergehens durch eine Erzieherin verhängen und ein Arzt zustimmen musste, ging der Zusammenhang von Fehlverhalten und Strafe verloren. Aus ihrer Erfahrung warf sie in die Diskussion ein, dass die Mädchen sehr oft „eine Sühne vorschlügen.“ Dabei würden sie oft schwerere Strafen vorschlagen, als die Erzieherinnen sie selbst erwogen. Sie berichtete weiter, dass der Arrest nicht mehr in völliger Isolierung bestand, sondern die Teilnahme an den Unterrichts- und Arbeitseinheiten beinhaltete. Stengele sprach sich erneut deutlich gegen die Prügel- und Arreststrafe aus. Sie glaubte, „dass die Prügel das Übel nur vergrößern und bei den übrigen Kindern bestenfalls nur Mitleid erregten.“ Sie glaubte, dass „die Mädchen zu den Strafentscheidungen gehört werden könnten“ und die Erzieherin dabei „wie eine Mutter“ das Mädchen belehren könne. Sie führte weiter aus, dass sie auch die Arreststrafe nicht befürworten könne, denn die Arrestzellen in der Anstalt erinnerten sie an ein Gefängnis.
Erneut entspann sich eine Debatte über die Grenzfälle, über jene jungen Menschen, die etwa durch Widerstand oder Verlust der Impulskontrolle gewalttätig in Erscheinung traten. Klar war in der Diskussionsrunde, dass „außer den Geisteskranken auch Minderwertige und Hysterische [in die psychiatrische Anstalt Friedrichsberg] überwiesen würden, die wegen akuter Erregungszustände ausgesondert werden mussten.“ Auch wenn eine ärztliche Begutachtung für die Überweisung erforderlich war, stand die Frage im Raum, ob die Prügel- und Arreststrafe bereits im Vorfeld eine „Heilung“ bewirken könne. Nach längerer Debatte hierüber sortierte sich die Diskussionsrunde klar in die Befürworter und Gegner der körperlichen Strafen. Zu den Gegnerinnen gehörten Stengele, die Oberin Rothe und die Erzieherin Heuer sowie der ebenfalls mitdiskutierende Assessor Adler. Direktor Heskel betonte erneut, dass die Strafen als Abschreckung und letztes Erziehungsmittel erforderlich seien, um die Ordnung in den geschlossenen Anstalten aufrecht zu erhalten. Auch wenn man auf die Prügelstrafe verzichten würde, würde man auf den Arrest nicht verzichten können, denn ohne ihn seien die „Anstalten nicht zu führen.“ Sein Kollege Direktor Riebesell bestätigte Dr. Heskel, dass der Grad der Verwahrlosung in der Mädchenanstalt sehr hoch sei und „darum auch auf das äußerste Zuchtmittel der Züchtigung nicht ohne weiteres verzichtet werden dürfe.“ Dann äußerte er einen Gedanken, der auf das Grundproblem in der Diskussion hinweist: „Das Problem dieser Strafe dürfe nicht verwirrt werden durch die Reformgedanken, die im Strafrecht im allgemeinen und in der Reform des Gefängniswesens vertreten würden.“ Damit waren das Unbehagen und vielleicht sogar die Furcht vor Reformen angesprochen. Die Diskussion erweiterte sich sogar zu dem noch vor kurzem undenkbaren Aspekt, ob man in den Anstalten eine Strafkommission aus den Zöglingen bilden könne oder gar sollte. Oberin Rothe mahnte zur „Vorsicht“, denn „die Mitzöglinge neigten zu allzu harten und rohen Strafen.“ Diesbezügliche Versuche waren nicht erfolgreich: „die Vertrauensmädchen würden bald abgesetzt oder bäten bald selbst um Enthebung von ihrem Amte.“ Im letzten Fall einer körperlichen Züchtigung in der Anstalt hatte ein Mädchen, „das einst selbst für einen Mitzögling Stockschläge befürwortet hatte“, keine Abschreckung, sondern „Mitleid und andererseits Abscheu und Hass“ empfunden. Direktor Schallehn wies auf ein in Berlin propagiertes Modell eines „Jugendgerichts“ hin, das er „für eine gefährliche Spielerei“ halte. Jugendliche, die derart handeln könnten, seien „nicht mehr der Fürsorgeerziehung bedürftig“.
Der Argumentation für die Beibehaltung der körperlichen Züchtigung und des Arrestes schloss sich auch Direktor Schallehn an. Er stellte die Frage in den Raum, was bei einer Abschaffung der Züchtigung mit den „Fällen geschehen solle, in denen ein Zögling ohne Erregung, nur zum Zwecke der Entlassung sich wild gestellt, Sachen und Räume demoliert und durch sein Beispiel erreicht habe, dass nun andere Zöglinge bereits den dritten Raum zerstört hätten.“ Antonie Kähler, ein von der Bürgerschaft gewähltes Behördenmitglied, unterstützte die Beibehaltung der Prügelstrafe: „Wenn hier im äussersten Fall mit der fühlbarsten Strafe nicht mehr ausgerichtet werden könne, dann sei auch mit Liebe nichts mehr zu erreichen.“ ‚Liebe‘ war hier nur als Mittel zum Zweck verstanden, nicht als Empathie als eine Voraussetzung für die Erziehung. Der Assessor Adler versuchte, die unterschiedlichen Positionen vorsichtig auf den Punkt zu bringen: Es sei „wohl eine Frage der Weltanschauung, ob man züchtigen wolle oder trotz aller Gründe, die dafür sprächen, aus gleicher erzieherischer Verantwortung sich zu der Strafe nicht entschließen könne.“
Am Ende der Erörterungen entschied die Behörde, die Beibehaltung der bisherigen Beschlüsse der Behörde über die körperliche Züchtigung der Mädchen zu empfehlen. Ein Unentschieden gab es bei der Abstimmung zur Arreststrafe. Damit sollte auch sie zunächst nicht angetastet werden. Zum Ende der Sitzung war nur der Entwurf der Strafordnung für die Mädchenanstalt zu einem Teil beraten worden. Man vertagte die Diskussion auf eine weitere Sitzung. Müller äußerte die Erwartung, dass es Unterschiede in den Strafordnungen der Anstalten für Mädchen und Knaben nur geben solle, wenn das Geschlecht den Unterschied rechtfertige. Außerdem müssten „die Erziehungsmaßnahmen (…) wohl von den Strafen getrennt werden.“
Die Kommission traf sich vier Wochen später am 29.11.1922 zu ihrer 3. Sitzung{85}. In dieser Besprechung erhielt zunächst Direktor Schallehn von der Knabenanstalt das Wort und erläuterte die von ihm favorisierten Grundsätze für eine Erziehung in den Anstalten für die ‚sittlich verdorbene‘ Jugend. Diese sei anders zu betrachten als die „normale“ Erziehung durch Eltern zu Hause, fuße aber auf dem gleichen Grundsatz: „Lohn und Strafe sollen in der normalen Erziehung nur mässig angewandt werden, seien aber als Heilmittel heranzuziehen wie die Medizin, die der Arzt dem kranken Körper gebe.“ Der Erzieher in der Anstalt verfüge über eine „Stufenfolge von erzieherischen Massnahmen und Strafmitteln“, die er nach eigenem Ermessen einsetzen können müsse. Die „Strafreihe“ beginne mit dem „strafenden Blick oder der Ermahnung“ und die Wirkung der Strafe würde erhöht, wenn sie „aus der unmittelbaren sittlichen Empörung hervorgehend der Tat unmittelbar folge. (…) Die körperliche Züchtigung sei der gewaltsame Eingriff, der scharfe Schnitt, zu dem der Arzt im Notfall greife und zu dem sich auch der Erzieher entschliessen müsse, wo Weichlichkeit nicht angebracht sei: bei den schwierigen Elementen sei zuweilen eine derbe Tracht Prügel notwendig, um sie zur Besinnung zu bringen und andere abzuschrecken.“ Er belegte seine Auffassung mit den Geschehnissen in der Anstalt: In der Zeit der Diskussion über die Strafen sei die Prügelstrafe kaum noch verhängt worden und das Ergebnis sei, dass die Zahl der Entweichungen 1919 bei 99 und 1920 bereits bei 206 lag, um dann 1921 auf 263 zu steigen. „Die Mehrzahl sei wiederholt im Laufe desselben Jahres entwichen.“ Sie würden sich in Kaschemmen herumtreiben. Man könne kaum glauben, dass die Jungen nach ihrer Rückkehr wiederaufgebaut werden könnten. Im Übrigen entstehe dem Staat durch diese Jungen, die das Inventar der Anstalt zerstören und draußen ihr „Anstaltszeug“ verkauften, ein erheblicher Schaden, den er auf 60 Tausend Mark im Jahr bezifferte. „Nur die Furcht vor Strafe könne die Zöglinge vom Entweichen zurückhalten.“ Er musste auf Nachfrage allerdings einräumen, dass sich der ursächliche Zusammenhang zwischen der Zurückhaltung bei der Anwendung der Prügelstrafe und des Ansteigens der Zahl der Entweichungen „natürlich auch nicht beweisen lasse“. Ein weiterer Aspekt seien die Übergriffe auf das Personal. Unlängst sei ein „angegriffener Erzieher von einem längeren Krankenlager zum Dienst zurückgekommen.“ Die Kommission war sich in diesem Punkt einig, dass „ein Schutz der Erzieher dringend notwendig“ erscheine. Direktor Schallehn schloss seine Ausführungen mit dem Hinweis, dass sich das gesamte Personal „einstimmig“ dafür ausgesprochen habe, die körperliche Züchtigung und den Arrest als Strafmittel beizubehalten.






