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Durch den Vortrag angeregt, diskutierte die Kommission die Bestrafung des Entweichens: Die einen Zöglinge würden im Moment des Entweichens nicht an die Strafe denken, die anderen, die freiwillig zurückkehren wollen, würden durch die Erwartung der Strafe von der Rückkehr abgeschreckt. Direktor Schallehn entgegnete, dass „die Rückkehr aus weichen Stimmungen“ nicht gerade häufig vorkommen würde. Er stellte fest, dass die in die Anstalt überwiesenen Jungen eine Abwehr gegen ein geregeltes Leben überhaupt mitbrächten und sich daher auch gegen die Anstaltsordnung wehren würden. Er lenkte im Weiteren dann insoweit ein, dass die Prügelstrafe nicht auf ein bestimmtes Ereignis unweigerlich folgen müsse, sondern die Möglichkeit ihrer Anwendung gegeben sein müsse, um sie dann je nach Fall auch in milderem Maße oder gar nicht zu verhängen. Während Direktor Heskel dem zustimmte, lehnte die Beigeordnete Kähler jegliche Züchtigung und den Arrest ab. „In die Anstalt müsse etwas wärmeres als die Strafordnung hineingebracht werden, deren Drohungen die Zöglinge nur der Anstalt fernhielten.“ Diese pädagogisch geprägte Sicht rief den zweiten Direktor auf den Plan. Die Anstalten hätten de jure die Pflicht, die Zöglinge in ihrer Gewalt zu halten. Auch wenn Entweichungen durch Strafandrohung im Einzelfall nicht verhindert werden könnten, so werde „aber die Gesamtheit … durch die Strafandrohungen zurückgehalten. Ohne bestrafen der Entweichungen sei die Anstaltserziehung am Ende.“ Und schließlich müsse man Entweichungen auch „zum Schutze der Allgemeinheit vor diebischen, gewalttätigen oder kranken Zöglingen“ verhindern.
Auch wenn es angesichts dieser kontroversen Stellungnahmen zunächst aussichtslos erschien, sich auf eine novellierte Strafordnung zu verständigen, wurde aber genau dies erreicht. Die bereits milderen Entwürfe wurden in der Reihenfolge der Strafen verändert und die geringeren Strafen wie die Entziehung von Vergünstigen und der Freizeit den Erzieherinnen und Erziehern überlassen. Nur die härteren Strafen sollten von den Anstaltsleitungen genehmigt werden. Dabei wurde die körperliche Züchtigung als Maßnahme bei „schwersten Verfehlungen“ und „im äußersten Notfall“ an die letzte Stelle und der auf sechs Tage begrenzte Arrest an die vorletzte gerückt. Die Reihenfolge sollte aber nicht als zu durchlaufende Eskalationskette verstanden werden. Die Strafen sollten bei der Auswahl am Einzelfall ausgerichtet sein.
Der Vorschlag, dass die leichteren Strafen, die durch die Erzieherinnen und Erzieher verhängt werden durften, der Anstaltsleitung zu melden seien, um Angemessenheit und Missbrauch überprüfen zu können, wurde für die Mädchenanstalt angenommen, für die Knabenanstalt jedoch mit dem Hinweis auf „das den Zöglingen gegebene und von ihnen auch recht oft in Anspruch genommene Beschwerderecht“ verworfen.
Es war ein Kompromiss gefunden worden, der aber am Ende noch einer letzten Klarstellung bedurfte. Sollten die Anstaltsleitungen angehalten sein, die Strafen „auf Verlangen der Behörde“ auch zu verhängen, also auch die Prügelstrafe und einen verschärften Arrest? Oberin Rothe wollte das sicherlich nicht, Direktor Schallehn wollte dagegen über das komplette Repertoire an Strafmaßnahmen verfügen. „Die Meinungen sind geteilt“, wurde im Protokoll notiert. Man verständigte sich auf die Antwort, „dass schliesslich in jedem Einzelfall die besonderen erzieherischen Erwägungen ausschlaggebend bleiben müssten.“ Die Kommission beendete damit ihre Arbeit. Das glaubte sie zumindest.
Am 14. Dezember wurde das Ergebnis der Kommission in der Plenarsitzung der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge beraten. Sie verwies die Frage der körperlichen Züchtigung an die Kommission zurück, die am 21. März 1923{86} erneut zusammentreten musste. Neu dabei war der Vorsitzende Biedermann und neben ihm nahmen die Beigeordnete Kähler, die Abgeordnete Stengele, Pastor Manhardt und die Beamten Creutzburg und Adler teil. Oberin Rothe und Direktor Schallehn, die beiden Anstaltsleitungen, waren ebenfalls geladen. Direktor Heskel war nicht mehr im Amt. Seine Rolle vertrat Direktor Hellmann.
Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung mit einem Paukenschlag. Er teilte mit, dass seine Meinung zur körperlichen Züchtigung von der Mehrheit der Behörde geteilt werde: sie solle aus den Strafordnungen entfallen. In Fällen von Übergriffen auf Personal oder Sachen und tätlichem Widerstand gegen eine Erziehungsmaßnahme könne aber unmittelbarer Zwang ausgeübt werden, und zwar auf Grundlage der gesetzlichen Vorschriften zur Notwehr und Selbsthilfe und Verhütung von Sachbeschädigung. Direktor Schallehn verteidigte erneut seine Position, dass es Fälle gebe, „wo die Anwendung der körperlichen Züchtigung unbedingt nötig sei.“ Auch Oberin Rothe wollte auf das letzte Mittel für besondere Fälle nicht verzichten. Sie hielt Fälle für möglich, „wo durch einen solchen scharfen Eingriff der Ausbruch einer Geisteskrankheit geradezu verhütet werden könne.“ Sie sei „jedoch nicht bereit, eine körperliche Züchtigung selbst vorzunehmen.“ Für Befremden sorgte in der Sitzung die Äußerung des Direktors Schallehn, dass in den Strafordnungen nur die schweren Züchtigungen aufgenommen seien, nicht die leichten. Dies war ein deutlicher Hinweis darauf, dass es zwar keine Stockschläge mehr gab oder geben sollte, aber der Klaps oder die Ohrfeige weiterhin als legitim betrachtet wurden.
Direktor Hellmann plädierte ebenfalls für die Abschaffung der körperlichen Züchtigung. Er vertrat die Auffassung, dass der Zögling „die Züchtigung als Akt der überlegenen Gewalt [empfinde], der er sich fügen müsse. Es bleibe bei ihm die Abneigung bestehen und die Unerziehbarkeit werde verstärkt.“ Er ging auch auf die Ausführungen der Oberin ein: „Niemals könne eine Züchtigung eine Vorbeugung sein gegen Störungen des Nervensystems.“ Ein leitender Arzt der psychiatrischen Anstalt Friedrichsberg habe vielmehr „die Frage gestellt, ob nicht durch eine verkehrte Behandlung in der Erziehungsanstalt geistige Erkrankungen geradezu gefördert seien.“ Diesem Standpunkt schloss sich auch die Abgeordnete Stengele an. Dann entließ man die beiden Anstaltsleitungen und beschloss im engeren Kreis der Kommission, der Behörde vorzuschlagen, „die körperliche Züchtigung in beiden Strafordnungen zu streichen“ und dem Personal die Vorschriften für unmittelbaren Zwang zur Abwehr von Gefahren mitzuteilen. Das lang diskutierte Thema der Prügelstrafe war vom Tisch gefegt worden. In der darauffolgenden Sitzung der Behörde, an der auch der neue Direktor der Jugendbehörde, Dr. Wilhelm Hertz, teilnahm, wurde das Ergebnis bestätigt. Er machte deutlich, dass es bei den Disziplinarmaßnahmen nicht um Sühne, sondern um Verwaltungszwangsmaßnahmen gehe. Diese juristische Sichtweise mag für die behördliche Betrachtung des Gegenstandes hilfreich gewesen sein, für die erzieherische Praxis war sie es nicht.

Die Weimarer Republik mit dem erstmals in freien, allgemeinen Wahlen gewählten Reichstag war zweifelsohne eine ‚neue Zeit‘, insbesondere was sozialpolitische und speziell jugendpolitische Ambitionen anbelangt. Bereits 1921 lag ein Entwurf für ein „Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt“ vor. Er beginnt mit der Formel: „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf körperliche, geistige und sittliche Erziehung.“{87} Das war ein Paradigmenwechsel, denn Kinder galten bislang als Objekt erzieherischen Handelns, nicht als Träger eigener Rechte. Im ersten Paragrafen heißt es weiter: „Insoweit der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt wird, (…) tritt öffentliche Jugendhilfe ein“. Auch wenn diese Generalklausel zum Recht des Kindes auf Erziehung ‚nur‘ einen Grundsatz formuliert, so wirkte er dennoch inspirierend für Reformvorhaben in der erzieherischen Praxis.
Das Gesetz entstand in einer für die Reichsregierung und das Parlament höchst schwierigen Zeit. Politische Umsturzversuche und die Nachkriegsnot der Kriegsheimkehrer und weiter Teile der Bevölkerung, die schleichende und später galoppierende Inflation waren die Probleme, die das politische Handeln in den beginnenden 1920er Jahren beherrschten. Es verwundert daher nicht, dass das Gesetz überhaupt nur durch eine überparteiliche Initiative von Frauen zustande kam{88} und 1922 zwar verabschiedet wurde, aber erst mit einem Vorlauf zur Vorbereitung auf die neuen Aufgaben am 1. April 1924 in Kraft trat.
Es war vor allem ein Gesetz zur Organisation der Jugendbehörden, zur Festlegung ihrer Aufgaben und Kompetenzen und der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel. Auf kommunaler Ebene waren Jugendämter zu schaffen, auf Landesebene Landesjugendämter und im Bereich der Reichsverwaltung ein Reichsjugendamt.
Die bisherigen Entwicklungen in der Jugendhilfe der Länder des deutschen Reiches wurden dabei aufgegriffen. Offenbar war die Hamburger Jugendbehörde ein Vorbild für die gesetzlichen Regelungen, wie eine Abhandlung über die wirtschaftliche Lage Hamburgs aus dem Jahr 1921 zum Entwurf des Gesetzes bereits feststellte: Der Satz `Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf körperliche, geistige und sittliche Erziehung‘ stamme von Dr. Petersen, der das erste Jugendamt in Deutschland schuf. Es sei nun das Vorbild für „etwa 1000 Jugendämter in Deutschland.“{89}
Das Gesetz enthält die in Hamburg bereits praktizierten Regelungen zum Schutz der Pflegekinder, zur Rolle des Jugendamtes im Vormundschaftswesen sowie zur öffentlichen Unterstützung hilfsbedürftiger Minderjähriger und speziell zur Schutzaufsicht und Fürsorgeerziehung. Die Länder wurden befugt, Ausführungsgesetze zu erlassen. Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation zum Zeitpunkt des Inkrafttretens, wurden durch eine Notverordnung vom Februar 1924 Vorbehalte zur Durchführung des Gesetzes zur finanziellen Entlastung auf der Länder- und Kommunalebene formuliert.
Hamburg hat hiervon keinen Gebrauch machen müssen, denn die behördlichen Strukturen der Jugendhilfe entsprachen hier bereits im Wesentlichen denen, die im neuen Reichsgesetz vorgesehen waren. In der Schrift „Öffentliche Jugendhilfe in Hamburg“ aus dem Jahr 1925 heißt es dazu:
„So ist die Behörde für öffentliche Jugendfürsorge ausgerüstet mit großen Erfahrungen und mit dem gut organisierten Apparat, der zu ersprießlicher Arbeit nötig ist, im Jahre 1924 aufgegangen in Landesjugendamt und Jugendamt, ohne das Gesicht nach außen viel zu verändern, da im großen und ganzen – mit Ausnahme einiger Aufgaben des Landesjugendamtes - die heutigen Aufgaben der Jugendwohlfahrtsbehörden schon durchgeführt waren.“ {90}
Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) und das Hamburgische Ausführungsgesetz legten als landesjugendamtliche Aufgabe fest, dass die Erziehungsanstalten vom Landesjugendamt zu überwachen waren. Bereits 1925 beschloss der Senat in einer Verordnung Grundsätze der Überwachung der Anstalten, die durch die zeitgleich erlassenen Richtlinien des Landesjugendamtes inhaltlich weiter ausgeführt wurden. Die „Heimaufsicht“ war ins Leben gerufen worden.
In der Geschäftsstelle des Landesjugendamtes waren 1925 in 7 Abteilungen etwa 230 Beamte und Angestellte tätig, im Jugendamt einschließlich der Anstalten sogar 580.
Doch nicht nur in Bezug auf die Verwaltungsstrukturen waren die Bedingungen in Hamburg für den Start des Reichjugendwohlfahrtsgesetzes sehr gut. Auch die Aufgabenwahrnehmung war bereits weiter fortgeschritten als anderswo. So gab es in Hamburg zum Beispiel bereits ein Mütterheim, das Marthahaus, in dem junge Mütter mit ihrem Kind aufgenommen werden konnten. „Nicht nur, daß dem Kinde hier in der Regel der Vorteil der Brustnahrung zu Teil wird: vor allem lernen Mutter und Kind sich hier eins fühlen, wenn sie einige Wochen im Heim waren.“{91}
Hamburg war damals wie heute eine spannende Groß- und Hafenstadt, die junge Menschen, “seien es Arbeitsuchende oder Abenteurer und Bummler“, anzog. Für die in der Stadt gestrandeten männlichen Minderjährigen unter 18 Jahre stand eine Jugendherberge mit 870 Betten für den vorübergehenden Aufenthalt bereit, bis sie in ihre Heimat zurückgeführt oder in Arbeit vermittelt wurden. Zwischen 1920 und 1924 waren es immerhin 12721 jugendliche Zuwanderer, derer sich das Jugendamt annahm. Im Mädchenheim Alstertwiete fanden Mädchen Aufnahme, „die um Schutz nachsuchen oder die des Schutzes bedürfen.“{92} Der Aufenthalt sollte nur von kurzer Dauer sein und diente der Klärung der Situation und der Perspektive, die in der Rückführung in das Elternhaus oder dem weiteren Schutz in einer Einrichtung bestand. Im Jahr 1924 war diese Einrichtung mit 45 Plätzen der Zufluchtsort für 800 Mädchen. Damit verfügte Hamburg bereits über Anlaufstellen für junge Menschen in gefährdenden Lebenssituationen, die man heute als Notdienste bezeichnen würde.
Eine weitere Besonderheit in Hamburg waren die Lehrlingsheime, in die Fürsorgezöglinge aufgenommen wurden, wenn sie eine Ausbildung begannen. Hamburg war mit seinem Ausführungsgesetz zum RJWG auch den Schritt gegangen, dass die Erziehungsberechtigten ihr Kind dem Jugendamt auf Antrag und ohne Gerichtsbeschluss zur Erziehung übergeben konnten. Die Strukturen der Fürsorgeerziehung hatten sich allerdings seit den Reformjahren nach 1900 nicht wesentlich geändert. Die Einrichtungen aus der damaligen Zeit waren noch immer in Betrieb, teilweise sogar ausgeweitet worden. So wurde 1927 das Gut Wulfsdorf als Erziehungsanstalt für männliche Jugendliche in Betrieb genommen, dazu die Zweigestellen des Waisenhauses in Bergedorf und Besenhorst. In Hamburg wurde die „Anstaltserziehung“ mit wenigen Ausnahmen in Einrichtungen der Behörde durchgeführt. „Dadurch unterscheidet sich Hamburg von den meisten deutschen Ländern und preußischen Provinzen, die in sehr ausgedehntem Maße die Anstalten der freien Liebestätigkeit, namentlich der konfessionellen in Anspruch nehmen. Vorteile und Nachteile sind klar: Sehr wesentlich ist doch der Vorteil, auf den Geist der Anstalt einen Einfluss zu besitzen.“{93}
Und diesen Einfluss versuchte die Jugendbehörde auch geltend zu machen. Voraussetzung hierfür war eine reformfreudige Leitung. Mit Dr. Wilhelm Hertz als Direktor und dem zweiten Direktor August Hellmann waren gute Voraussetzungen gegeben, ab Mitte der 1920er Jahre die Jugendhilfe und insbesondere die Anstaltserziehung fachlich fortzuentwickeln. So wurde auch der Stachel im Fleisch der pädagogischen Praxis, die Erziehung durch Strafe, erneut auf die Tagesordnung gesetzt: Hertz verdeutlichte 1928 in den von ihm formulierten Leitsätzen den Vorrang der Erziehung vor anderen Maßnahmen: „Jede Erziehung wird sich bemühen, ohne Strafen auszukommen. Sie wird auch die Androhung von Strafen nach Möglichkeit zu vermeiden suchen. (…) Die Erziehung will den jungen Menschen ermutigen. Muss aber eine deutliche Missbilligung seines Verhaltens eintreten, so darf die Form des Tadels nicht verletzen. Ironische Behandlung ist ganz zu vermeiden, weil sie den pädagogischen Bezug stört. Vorhalte, die unter vier Augen gemacht werden können, sind dem Tadel vor der Gemeinschaft (Klasse, Gruppe) vorzuziehen.“{94} Den weiteren Ausführungen zufolge sollten Arreststrafen nicht mehr zulässig sein, sondern waren durch Einzelerziehung mit Absonderung von der Gruppe zu ersetzen. Als härteres Disziplinierungsmittel waren zusätzliche Arbeitsleistungen vorgesehen. Dabei sollte die Atmosphäre des Arrestes vermieden werden. Damit verblieb vor allem der Entzug von Vergünstigungen als mögliches Mittel, auf Fehlverhalten, wie man es damals verstand, zu reagieren. Drei Jahre zuvor hatte die Behörde bereits die „Briefsperre“, also das Zurückhalten von Post an die Betreuten, aus den Strafordnungen der Erziehungsanstalten gestrichen. Diese Entscheidung schloss aber nicht aus, „bedenkliche Briefe oder Briefteile dem Zögling vorzuenthalten.“{95} Die Achtung der Privatsphäre war dabei weniger der Grund als vielmehr der, dass die Briefsperre von den jungen Menschen als besonders hart empfunden wurde und außerdem – so die Aktenlage - seit Jahren kaum noch angewendet wurde.
Die Leitung des Jugendamtes ging 1930 noch einen Schritt weiter, indem sie das Beschwerderecht in einer Richtlinie verankern und einen „Vertrauensausschuss der Zöglinge“ einführen wollte. Überliefert ist das Protokoll einer behördlichen Besprechung zu diesem Thema, in dem sich die Anstaltsleitungen und Vertreter des Personals äußern konnten. Das Spektrum reichte von Ablehnung bis hin zu konstruktiven Vorschlägen. Direktor Schallehn von der Knabenanstalt befürchtete eine Verunsicherung der Erzieher im täglichen Umgang mit den Betreuten, wenn Beschwerderichtlinien verbrieft seien. Sie würden „wie eine Aufforderung zur Beschwerdeführung wirken“{96}. In die Diskussion wurde auch eingebracht, dass in den Anstalten der Grundsatz gelten sollte, „dass zwischen Erzieher und Zögling unmittelbares Vertrauen besteht.“ Es sei „zweifelhaft, ob wir weiterkommen, wenn wir den Zögling das Verhältnis als ein Rechtsverhältnis sehen lernen.“ Der zweite Direktor der Jugendbehörde entgegnete, dass die „Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Anstalt und Zögling nur familiär und patriarchalisch aufzufassen“ an der Tatsache scheitere, “dass am Anfang der Fürsorgeerziehung doch der direkte Zwang steht.“ Schließlich wurden die Richtlinien im Grundsatz mehrheitlich befürwortet. Allerdings wünschte man sich, die Beschwerderichtlinien in die Heimordnungen einzuarbeiten, um eine bessere Ansprache der Zöglinge zu ermöglichen und Besonderheiten der Heime berücksichtigen zu können. Der Vorstoß, einen Vertrauensausschuss der Betreuten in den Anstalten einzuführen, stieß allerdings auf Skepsis. Die Erziehungsanstalt für Knaben „würde der Gefahr einer Revolte“ ausgesetzt werden. Die Direktorin der Mädchenanstalt, Margarethe Cornils, die der Oberin Rothe 1926 im Amt folgte, hielt dagegen im Einklang mit ihren Erzieherinnen einen Vertrauensausschuss „für einen fruchtbaren und gebotenen Fortschritt.“ Am Ende wurde ein kleiner, weiterer Reformschritt erreicht: „Herr Direktor Hellmann bemerkt abschließend, dass die Hineinnahme der Richtlinien etc. in eine Heimordnung, sowie eine kindertümliche Wortung wohl ermöglicht werden kann. Der Zeitpunkt der Einrichtung der Vertrauensausschüsse kann noch offen gelassen werden.“ In der Akte ist das Schicksal der beiden Reformvorschläge leider nicht überliefert. Die Hinweise auf die Praxis in den Anstalten lassen erahnen, dass eine zügige Umsetzung in den letzten Tagen der Weimarer Republik wohl, wenn überhaupt, nur in Ansätzen erfolgte. Denn Direktor Hertz musste noch im selben Jahr klarstellen, dass „das Kahlscheren entwichener Zöglinge (…) als geeignete Strafe oder Erziehungsmaßnahme nicht anzusehen“{97} ist. Weiterhin sollten Kollektivstrafen unterlassen werden: „Eine Bestrafung von Mitzöglingen derselben Gruppe wegen Entweichens eines Zöglings soll nicht stattfinden, es sei denn, dass die Mitwirkung oder Begünstigung seitens der betreffenden Mitzöglinge anzunehmen ist.“ Auch sei die „Gruppenstrafe“ als „Mittel zur Herbeiführung von Aussagen (…) ungeeignet.“ Heute ist bekannt, dass die Reformideen die Praxis der nachfolgenden Jahrzehnte nicht erreicht haben.
Zur Bürgerschaftswahl 1927 gab der sozialdemokratische Verein eine Bilanz des „Kampfes [der SPD] um die Staatsmacht“ {98} heraus und stellte für die öffentliche Jugendhilfe fest: „In den Anstalten ist Schritt für Schritt ein freier Geist eingezogen. Eine der ersten Taten der neuen Leitung ist die Abschaffung der körperlichen Züchtigung gewesen. Die Mädchenanstalt ist von innen heraus umgewandelt.“ Das „kirchlich-konfessionelle“ Erziehungsverständnis, die „muffige, veraltete Luft“ habe einem modernen Verständnis von Erziehung Platz gemacht. Dieser allgemein gehaltene Hinweis wird im Jahresbericht des Jugendamtes von 1927 aufgeklärt: „Als besonders bedeutungsvoll hat sich der im Jahre 1926 eingetreten Wechsel in der Leitung der Erziehungsanstalt für Mädchen herausgestellt.“ Mit der neuen Leiterin, Margarethe Cornils, habe sich eine „neue und andersartige Arbeitsauffassung“ eingestellt. Die „äußere und allzu straff gehandhabte Disziplin“ sei gelockert worden und habe ein besseres Klima geschaffen, so dass „manche Reibung ausgeschaltet und ein ruhigeres, zwangloseres Leben eingeleitet“ worden sei.{99} Der Reform in der Mädchenanstalt wurde im Jahresbericht ein sehr breiter Raum gegeben, schien sie doch ein Lichtblick in der damaligen Zeit gewesen zu sein. Wie die Erziehungsdirektorin Cornils allerdings die ihr anvertrauten Mädchen sah und darauf ihre Pädagogik aufbaute, stellte sie in einem, im Jahr 1931 gehaltenen Vortrag beim AFET über das „Problem der Schwererziehbaren in der Fürsorgeerziehung – gesehen von der Arbeit an weiblichen Jugendlichen“{100} dar. Für sie war schon eine „begriffliche Klarlegung“, was die Schwersterziehbaren ausmacht, nicht möglich. Vom pädagogischen Alltag aus könnten die „Zerstörer der Gemeinschaft“ und die „Jugendlichen, deren Persönlichkeit keinen Ansatzpunkt für aufbauende Arbeit bietet oder konsequent ausweicht“ unterschieden werden. Zu den ersteren zählte sie Aggressive, Intriganten, übersteigerte Individualisten und Homosexuelle. Dem „zweiten Typ“ ordnete sie „Schwachsinnige“ und „schwere Psychopathen“ zu. Außerdem fielen in diese Gruppe: „völlig Haltlose“, „Willensschwache und Antriebslose“, die „Frühsexualisierten“, die „Abgesperrten“, womit sie vor allem die „Dirnen“ meinte, die „Dauerläufer“, die permanent entweichen und unter denen sich die „Kokainistinnen, Morphinistinnen und Trinkerinnen“ befanden, und schließlich die Aufsässigen, die „von den Eltern oder sonstigem Anhang (Cliquen, Parteien) gegen das Heim, seine Ordnung und seine Forderungen verhetzt werden“. Dieser bunte Strauß an unterschiedlichen Persönlichkeiten war für sie der Ausgangspunkt für den Vorschlag, für unterschiedliche Gruppen auch jeweils eine spezielle Pädagogik vorzusehen, wobei sie „Sonderheime für Schwersterziehbare“ ablehnte. Sie stellte sich eher unterschiedliche Gruppen in Heimen vor, die Übergänge ermöglichten. Wenn Schwersterziehbare allerdings trotz dieser besonderen pädagogischen Herangehensweise sich als nicht tragbar herausstellen würden, seien sie „Psychopathenheimen und Bewahranstalten zuzuführen“. Insoweit sprach sie sich auch dafür aus, dass „in engster Tuchfühlung mit dem Psychiater“ gearbeitet werden müsse. Für sie war es wichtig, dass pädagogisch qualifiziertes Personal in den Heimen arbeitet, das die in der Gruppe sich vollziehende „Gemeinschafts- und Freizeiterziehung“ betreibt: „Sport, Spiel, Wanderungen, Tanz, Gesang, Handfertigkeit, Handarbeit usw.“. Daneben trat sie für die die „intensive Arbeits- bezw. Berufserziehung“ ein. Wenige Jahre nach ihrem Amtsantritt, war sie sich der Grenzen ihres Anspruchs an ihre Arbeit bewusst: „Bei den Schwererziehbaren wird man bescheiden“, lauteten die abschließenden Worte des Vortrags, auch und gerade, wenn sie sich mit Revolten äußern: „Die Schwer- und Unerziehbaren dürfen uns keine Last sein. Sie sind für uns eine ganz wertvolle Korrektur und Kritik unserer Maßnahmen.“ Die Fachwelt sollte „den Jugendlichen zu Dank verpflichtet“ sein, „daß sie sich aufgelehnt haben gegen das, was ihnen nicht gerecht wurde.“ Wirft man einen Blick auf die nachfolgenden Jahrzehnte, so sind diese pädagogischen Grundsätze der Heimordnung und der Gestaltung des Heimalltags im Mädchenheim Feuerbergstraße erkennbar. Cornils legte Wert auf handwerkliche, sportliche und musische Erziehung. Mit dieser Art erreichte sie aber immer nur einen Teil der Mädchen. Die anderen mussten mit Zwang im Zaum gehalten werden.
In den 1920er Jahren gingen Impulse für eine Reform der Fürsorgeerziehung auch von der psychoanalytischen Theorie aus. Sie öffnete den Blick für die Entwicklung einer Persönlichkeit durch Beziehungen und insbesondere denen in der Familie. Sie fand Eingang in reformpädagogische Ansätze für die Praxis der Erziehungsberatung und Heimerziehung. Zu den Reformpädagogen gehörte etwa der Wiener Psychologe August Aichhorn. In einer 1925 veröffentlichten Vorlesungsreihe für Erzieherinnen und Erzieher führte er sein Publikum in die psychoanalytischen Leitgedanken für ein Fallverstehen und die sich daraus ergebende pädagogische Praxis ein. Als Leiter einer Erziehungsanstalt verfügte er auch selbst über Erfahrungen mit den neuen, von ihm eingeführten Erziehungsmethoden, die sich ganz wesentlich von den herkömmlichen unterschieden. Aichinger benutzte auch den damals verwendeten Begriff der Verwahrlosung in dem Sinn, dass damit alle normabweichenden Verhaltensweisen, „dissoziales Verhalten“, gemeint waren. Also ein Begriff, der Erscheinungen beschreiben sollte, aber nicht die Ursachen. Und als verwahrlost galt Vieles: vom Schulschwänzen über kleinere und größere Lügen, Diebstahl, Aufsässigkeit in Familie, Schule und Arbeitsleben, „Arbeitsscheu“ bis zu den als gefährdend anzusehenden Kontakten zu Erwachsenen. Für Aichinger und die von ihm vertretene Schule war die Verwahrlosung „Ausdruck für Beziehungen zu Personen und Dingen, die andere sind, als die Sozietät sie dem Einzelnen zubilligt.“{101} Das pädagogische Handeln müsse darauf eingehen und dies bedeute auch, dass das Anstaltsmilieu ein ganz anderes sein müsse, als es bisher sei. In seinem Vortrag fügte er eine Beschreibung einer „alten Besserungsanstalt“ ein:






