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„Überall nur scheue haßerfüllte Blicke von unten herauf. Nirgends ein offenes, freies Ins-Gesicht-Schauen. Das fröhliche, oft kraftüberschäumende Wesen der normalen Jugend fehlt vollständig. Was an Heiterkeit zu sehen ist, stimmt den Besucher traurig. Lebensfreudige Äußerungen sehen ganz anders aus. Man kann sich eines Schauers über den vielen Haß, der in diesen jungen Menschen aufgespeichert ist, kaum erwehren. Es kommt in diesen Anstalten nicht zur Lösung, verdichtet sich noch mehr, um später in der Gesellschaft entladen zu werden.“{102}
Die in den Anstalten geltenden Regeln würden deutlich werden lassen, „welche Gewalt da Tag für Tag aufgewendet werden mußte, um einen Zustand aufrecht zu erhalten, der kindlichem Verhalten so zuwiderläuft, dem dissozialer Jugend um so mehr. Den Zwang des sozialen Lebens haben sie nicht ertragen und durch solchen Anstaltszwang sollen sie wieder sozial werden?“{103} Er schildert danach die Herangehensweise in einem neu ausgerichteten Heim, das er leitete. Dort kam es auf den analytischen Blick der Erziehenden an. All die täglichen Konflikte, auch jene mit der Nachbarschaft des Heimes, waren zulässig, um sie schließlich für das Erreichen des Erziehungszieles nutzbar zu machen: „Wir gewähren den Verwahrlosten im lustbetonten Milieu unsere Zuneigung, bedienten uns also der Liebesprämie, um einen versäumten Entwicklungsprozess nachzuholen: den Übergang von der unwirklichen Lustwelt in die wirkliche Realität.“{104}
Die Erziehenden mussten für diese Art der Sozialarbeit eine ganz andere Haltung gegenüber den Betreuten einnehmen als in den herkömmlichen Besserungsanstalten. „Keinem von uns war je eingefallen, in ihnen Verwahrloste oder gar Verbrecher zu sehen, vor denen die Gesellschaft geschützt werden müsse; für uns waren es Menschen, denen das Leben eine zu starke Belastung gebracht hatte (…) für die daher ein Milieu geschaffen werden mußte, in dem sie sich wohlfühlen konnten“{105}, schilderte Aichinger in seinem Vortrag.
Solchen und ähnliche Erfahrungen und Einsichten haben die Reformbestrebungen der Hamburger Jugendbehörde vielleicht auch inspiriert. Anspruch und Wirklichkeit lagen in den Anstalten jedoch noch weit auseinander. Die Praxis der Erziehung mit Mitteln der Strafe sollte sich auch in den nächsten Jahrzehnten kaum ändern. Die Änderung der Bezeichnung „Anstalt“ in „Heim“ und pädagogische Richtlinien setzten dabei zumindest symbolische Akzente, die eine Aufbruchsstimmung signalisierten und sicherlich die Reformkräfte in der Praxis stärkten. Die Sicht auf die jungen Menschen war jedoch in weiten Teilen nicht von Verständnis und Empathie geprägt. Es gab keine Einsicht, dass übermäßige Ordnung und Strafe sowie schematische Erziehungsmethoden die Gewaltspirale anheizten. Das Erziehungsversagen wurde vielmehr den jungen Menschen angelastet. Sie galten als unerziehbar, wenn sie sich nicht einfügten.
Ende der 1920er Jahre wurde an der Fürsorgeerziehung in Anstalten auch in der Öffentlichkeit Kritik laut. Anlass waren bekannt gewordene Erfahrungsberichte aus Anstalten und Anfang der 1930er Jahre Misshandlungen und Revolten in zwei Heimen, die auch zu strafrechtlicher Verfolgung des Personals führten. Dies hat den Fachverband „Allgemeiner Fürsorgeerziehungstag“ (AFET) 1931 zu einer Positionsbestimmung durch seinen Vorsitzenden, Pastor Wolff, veranlasst, die mit den Worten beginnt:
„Wir befinden uns in einer Kampflage. Seit die ersten Revolten in Erziehungsheimen bekannt wurden, seit Lampel sein Buch „Jungen in Not“ schrieb und das Stück „Revolte im Erziehungshaus“ über die Bühnen aller großen Städte Deutschlands ging, seitdem die Prozesse um Rickling und Scheuen [Anstalten, in denen Misshandlungen öffentlich wurden, KDM] die Öffentlichkeit beschäftigt haben, sind wir nicht mehr zur Ruhe gekommen.“{106} In einem Ritt durch die aktuellen Themen stellte Wolff nach einem Lob für die Leistungen der Fürsorgeerziehung die Herausforderungen der Zukunft dar. Dies seien die Sicherstellung der wirtschaftlichen Grundlagen der Anstalten, die Qualifizierung des Personals, die Lebensweltnähe der Erziehungsorte, die menschenwürdige Behandlung der jungen Menschen, aber auch der Schutz des Personals vor Übergriffen der „Zöglinge“, um zuletzt bei einem Thema zu landen, das damals die Fürsorgeerziehung besonders beschäftigte:
„Eine letzte wichtige Aufgabe der Zukunft bleibt die sorgfältige Trennung der Schwerst- oder Unerziehbaren von denen, bei denen die erzieherischen Bemühungen noch Erfolg versprechen.“ Bei feineren „Verteilmethoden“ könne die Zahl dieser Gruppe sehr geringgehalten werden, jedoch „bleibt schließlich ein Rest übrig, und diese Gruppe muß allerdings von den übrigen Kindern und Jugendlichen getrennt werden.“ Wolff verweist schließlich auf das bereits von weiten Teilen der Fürsorgeerziehung „ersehnte Bewahrungsgesetz“, nach dem die als Schwerst- und Unerziehbaren aus der Jugendhilfe ausgesondert würden und man damit „die Fürsorge für die hier bezeichneten Zöglinge den Pädagogen abnimmt.“{107}
Dieser Wunsch der Aussonderung war weit verbreitet und wurde durch einen maßgeblichen Teil der Kinder- und Jugendpsychiater unterstützt. In der damals in der Medizin verbreiteten Eugenik galt die Auffassung, dass die „Verwahrlosung“ junger Menschen als genetisch bestimmt und daher als „angeboren“ zu betrachten sei. Eine pädagogische oder psychiatrische Einflussnahme sei daher zwecklos.
Diese Auffassung vertrat auch der damalige leitende Arzt beim Jugendamt in Hamburg, Dr. Werner Villinger. Der 1887 in Besigheim am Neckar geborene Villinger studierte von 1909 bis 1914 Medizin, wurde dann zum Kriegsdienst eingezogen und setzte nach 1918 seine ärztliche Laufbahn fort. Ab 1920 leitete er die neu eingerichtete kinderpsychiatrische Abteilung an der Universitätsklinik in Tübingen. Mit dieser Erfahrung in einem „klinischen Jugendheim“ bot er sich im Jahr 1926 für die Berufung zum ersten hauptamtlichen Kinder- und Jugendpsychiater in der Hamburger Jugendbehörde an. Er wirkte in Hamburg zugleich als beratender Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik der Universität Hamburg, hielt Vorlesungen über Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters und unterrichtete an Bildungsinstituten für Erzieher und Lehrer. 1932 übertrug man ihm eine Professur an der Universität Hamburg.{108} Als Arzt des Jugendamtes war er in der Beobachtungsstation tätig und entwickelte bereits dort eine biologische Auslesediagnostik und den Vorschlag einer Zwangssterilisation der als unerziehbar geltenden Kinder und Jugendlichen. In den späten 20er Jahren wurden diese Ideen im Hamburger Jugendamt und in der Reichsgesetzgebung noch nicht aktiv aufgegriffen. Der Bericht des Hamburger Jugendamtes für das Jahr 1927 enthält aber bereits einen breiten Raum für die psychiatrische Klassifizierung der Zöglinge: „Vom Jugendamtspsychiater sind im Berichtsjahr 1274 Fälle untersucht und begutachtet worden.“ Diagnostiziert wurden etwa „Schwachsinn der verschiedenen Grade“ mit 46% der Fälle oder „Psychopathie und Schwachsinn“{109} mit 12%. Im Bericht folgt dann unter anderem die Feststellung, dass „die Hilfsschulen sich immer noch mit einem Schülermaterial belasten, das infolge seines intellektuellen Tiefstandes nicht in die Hilfsschule, sondern in die Schwachsinnigenanstalt gehört.“{110}
Mit seiner Tätigkeit im Jugendamt und in der Lehre trug Villinger dazu bei, dass der Boden für eine rassenbiologische Ideologie in der Gesellschaft und in der Fürsorgeerziehung im Besonderen bereitet wurde.{111}
Talfahrt
Die Aufbruchsstimmung des Jahres 1927 bekam nach dem „schwarzen Freitag“ am 25. Oktober 1929, der die Weltwirtschaftskrise einläutete, einen deutlichen Dämpfer. Die Folgen der wirtschaftlichen und politischen Krise der Weimarer Republik erfasste alle Bereiche der Gesellschaft und des Alltagslebens, und damit auch die Jugendhilfe. Weite Teile des Außenhandels und der Industrie in der Stadt brachen zusammen. Die Zahl der Erwerbslosen in Hamburg stieg von rund 50 Tausend im Jahr 1928 auf fast 165 Tausend Ende 1932 an. Ledige und Kinderlose erhielten aus der Arbeitslosenversicherung für ein halbes Jahr nur rund 37% ihres letzten Einkommens, Familien bis zu 60%. Allerdings mussten diese Sätze immer wieder gekürzt werden, bis sie bei nur noch rund 20% lagen. Nach 6 Monaten musste die gemeindliche Armenfürsorge eintreten und das Existenzminimum sichern, das knapp bemessen war und Hunger bedeutete. Wer eine Arbeitsstelle hatte, musste erhebliche Lohneinbußen von mindestens 20 bis 30% hinnehmen.{112}
Für die öffentlichen Haushalte war die Finanzierung der sozialstaatlichen Maßnahmen eine große Herausforderung. Das Niveau der Unterstützungsleistungen musste während der Krise laufend weiter abgesenkt werden. Die Gesamtausgaben wurden zwischen 1928 und 1932 von 424 auf 355 Millionen Reichsmark gekürzt. Gleichzeitig explodierten die Ausgaben für die Wohlfahrtspflege von 49 auf 113 Millionen Reichsmark. Der Hamburger Senat kam ab 1930 nicht umhin, drastische Sparmaßnahmen zu ergreifen, von denen die öffentliche Jugendhilfe nicht ausgenommen wurde. In der Vollversammlung des Landesjugendamtes und Jugendamtes Hamburg vom 29. September 1931 wurden die „Auswirkungen der Sparmaßnahmen auf den Haushalt der Jugendbehörde“ erörtert.{113} Der Senat hatte beschlossen, alle Sachausgaben im Haushalt des aktuellen und kommenden Jahres um 10% zu kürzen. Die „Inangriffnahme von Neubauten“ wurde untersagt, Gehaltskürzungen umgesetzt, die Arbeitszeit erhöht, das Pensionsalter für die Beschäftigten der Verwaltung herabgesetzt und Einrichtungen geschlossen, um die finanziellen Belastungen zu verringern. Schließlich wurden auch die Pflegesätze für die Fürsorgeerziehung in außerhamburgischen Einrichtungen um 10% abgesenkt. „Ferner wurde der gesamte Zöglingsbestand durchgeprüft und die beschleunigte Entlassung von Kindern aus Anstalts- und Familienpflege vorgenommen, außerdem wurde die Aufnahme von Zöglingen – besonders in freiwillige Fürsorgeerziehung – stark eingeschränkt. Die Übernahme der Erziehung – auch die vorläufige – darf hinfort nur durch Oberbeamte verfügt werden.“ Ein Ergebnis der Maßnahmen war die Reduzierung der Betreuten in auswärtigen Anstalten von 606 im April 1930 auf 365 im Juli 1931 mit dem Ziel, dass die Anzahl bis zum Jahresende um weitere 120 abnehmen sollte. In der Besprechung wurde die Befürchtung geäußert, dass die Absenkung des Haushaltsansatzes für Verpflegung zu einer Verschlechterung der Ernährung der Zöglinge führen würde. Der Präses der Behörde, Senator Eisenbarth, hielt dieses Problem durch „kleine Vereinfachungen in der Bespeisung“ und gegebenenfalls Verschiebung von Geldmitteln anderer Haushaltsansätze für lösbar. Auf die Beschwerde eines Besprechungsteilnehmers, die Sparmaßnahmen seien nicht zur Zustimmung vorgelegt worden, erwiderte der Präses nur, dass die Einsparungen zwangsläufig vorgenommen werden mussten und der „nächste Haushalt (…) vermutlich noch ganz anders aussehen“ werde.
Die Sparmaßnahmen konnten die ausfallenden Einnahmen und steigenden Sozialausgaben für die Opfer der Wirtschaftskrise bei weitem nicht kompensieren, so dass seit Juni 1931 laufend der finanzielle Zusammenbruch drohte. {114} Um die Zahlungsfähigkeit zu erhalten, war Hamburg auf Kassenkredite des Deutschen Reiches angewiesen. Eine volkswirtschaftliche Abwärtsspirale war in Gang gesetzt. Dass der Staat mit seiner prozyklischen Politik diese Entwicklung verschärft hatte, war manchen der politisch Verantwortlichen zwar klar, einen Ausweg fanden die demokratischen Parteien jedoch nicht.
Mit dem wachsenden Elend stieg der Druck in der Politik. Die extremen Parteien NSDAP und KPD bekämpften sich offen und auch blutig auf der Straße. Das Vertrauen in die regierenden Parteien schwand und führte zu einer Verschiebung der politischen Kräfte im Deutschen Reich und auch in Hamburg. War die NSDAP 1928 mit nur 3 Abgeordneten in der Hamburgischen Bürgerschaft vertreten, so waren es 1931 bereits 43 und 1932 sogar 51 von insgesamt 157 Sitzen.{115} Die SPD war 1928 stärkste Fraktion mit 60 Sitzen und büßte bis 1932 rd. 20 Tausend Wählerstimmen und 11 Mandate ein. Damit fiel sie hinter die NSDAP zurück. Der von den Sozialdemokraten und der Deutschen Staatspartei gebildete Senat hatte die Regierungsgeschäfte seit der Bürgerschaftswahl vom 27. September 1931 ohne Mehrheit in der Bürgerschaft geführt. Das änderte sich auch nach der Wahl im April 1932 nicht. Der Minderheitssenat arbeitete, gestützt auf die 2. Notverordnung „zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen“ und weiterer Notverordnungen des Reichspräsidenten, weiter an der Bewältigung der Krise, die nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine ernsthafte politische Krise war. Es konnten weder in Hamburg noch auf Reichsebene mit parlamentarischen Mehrheiten ausgestattete Regierungen gebildet werden. Das war die Stunde der „Totengräber“{116}, die der Weimarer Demokratie den Todesstoß versetzten, indem sie den Reichpräsidenten dazu bewegten, den Vorsitzenden der NSDAP, Adolf Hitler, am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler zu ernennen, und damit den Nationalsozialisten die Macht in die Hände legten. Anfang Februar folgten Notverordnungen mit der Aufhebung von Grundrechten. Nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar wurde der Ausnahmezustand verhängt und die Verfolgung von Kommunisten aufgenommen. Für den 5. März wurde eine erneute Reichstagswahl angesetzt, die die letzte in der Weimarer Republik sein würde. Diese brachte im Reichstag Mehrheiten für das am 24. März 1933 verabschiedete „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das Ermächtigungsgesetz, das die nationalsozialistische Umgestaltung des gesamten Staatswesens ermöglichte. Und gerade das „rote“ Hamburg marschierte bei dieser Entwicklung an der Spitze.
In Hamburg wurde am 5. März 1933 nach der Schließung der Wahllokale auf Drängen der Reichsregierung der Polizeipräsident durch einen SA-Standartenführer ersetzt. Reichsweit waren zu diesem Zeitpunkt bereits Verhaftungen von kommunistischen Funktionären und Abgeordneten auf der Grundlage der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vorgenommen worden, so dass diese ihre Mandate in den Parlamenten nicht mehr wahrnehmen konnten. Am 8. Mai wählte die Hamburgische Bürgerschaft, die nun in ihrer Mehrheit aus NSDAP- und konservativen Abgeordneten bestand, einen neuen Senat unter der Führung des parteilosen Carl Vincent Krogmann. Er war erst zum 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP geworden. Ein Foto des neuen Senats zeigt die nationalsozialistischen Senatoren in Parteiuniform, die wenigen bürgerlichen in dunklem Anzug mit Krawatte.
Noch vor der Verabschiedung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 begannen in Hamburg die politischen Säuberungen der Verwaltung. Zu den ersten Maßnahmen gehörten die Beurlaubungen des Staatsrates der Finanzdeputation, Leo Lippmann, weil er Jude war, und des Direktors des Landesjugendamtes, Wilhelm Hertz. Auch in anderen Behörden wurden Spitzenpositionen zügig neu besetzt. Damit waren die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die nationalsozialistische Staatsideologie in der Verwaltung umgesetzt werden konnte{117}. Mit dem „vorläufigen Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ vom 31. März 1933 wurden die Parlamente der Länder aufgelöst und anhand der für die Parteien bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933 abgegebenen Stimmen neu gebildet. Für Hamburg bedeutete dies, dass die Mandate der KPD gestrichen und die Zahl der Sitze von 160 auf 128 verringert wurde. Die Bürgerschaft hatte durch die neue Gesetzgebung ihre bisherigen Kompetenzen verloren und war funktionslos geworden. Gesetze konnten von den Landesregierungen erlassen werden. Mit dem Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. Juli 1933 wurde die NSDAP zur einzigen politischen Partei im Deutschen Reich erklärt. Andere Parteien waren damit illegal und aufzulösen. Die Hamburgische Bürgerschaft bestand seitdem nur noch aus Nationalsozialisten, bis sie am 28. Oktober 1933 auch formal aufgelöst wurde{118}.
Monate zuvor hatte die Reichsregierung den nationalsozialistischen Gauleiter Karl Kaufmann zum Reichsstatthalter für Hamburg bestellt. Er ernannte die Mitglieder der Landeregierung sowie Beamte und hatte den Senat zu beaufsichtigen. Im Herbst 1933 erfolgte die nationalsozialistische Umgestaltung der Verwaltung. Die Behörden und Ämter wurden auf fünf Verwaltungszweige konzentriert. Das Landesjugendamt verlor seine Eigenständigkeit und wurde in die Gesundheits- und Fürsorgebehörde integriert. In einem weiteren Schritt im Jahr 1936 setzte sich Kaufmann selbst an die Spitze der Administration und gab fortan als „Führer der Landesregierung“ Direktiven aus.{119}
Neben dieser staatlichen Gleichschaltung erfolgte auch die sehr zügige Einbindung gesellschaftlicher Institutionen und Gruppen in den nationalsozialistischen Staat, und zwar durch Gesetze, Druck und Terror, zu einem erheblichen Teil aber auch durch freiwilliges Zutun. Personen mit einer Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie oder gar mit entsprechender Überzeugung waren in den Institutionen vertreten. Sie konnten sich nun offen äußern und an der Umgestaltung mitwirken. Die alten NSDAP-Mitglieder erwarteten außerdem, in der Partei und im Staatsdienst in Ämter zu gelangen. Mit diesem Motiv waren auch viele Parteieintritte in den ersten Wochen nach der Machtergreifung zu verzeichnen, so dass ein Aufnahmestopp ab dem 1.Mai 1933 erlassen wurde. 1935 führte die Partei in Hamburg 42170 Männer und 4316 Frauen in ihrer Mitgliederkartei. Dies entsprach 3,8% der Bevölkerung{120}. Hamburg lag damit über dem Reichsdurchschnitt.
Andere ließen sich auf die neuen Realitäten ein und wurden zu loyalen Anhängern oder „Mitläufern“, wie man sie später bezeichnen würde. Nachträglich betrachtet lässt sich ein „merkwürdiger Zwiespalt“ feststellen: Viele nahmen die Verhältnisse hin, ohne ihnen innerlich zu folgen. Die eingetretene Ordnung wurde in vielerlei Hinsicht geschätzt, die Schattenseiten des neuen Regimes zwar wahrgenommen, aber verdrängt.{121}
Dieser Zwiespalt war auch in der Jugendhilfe festzustellen. Der Allgemeine Deutsche Fürsorgeerziehungstag (AFET) war ein traditionsreicher und bedeutender Verband für die Fürsorgeerziehung. Noch 1931 hatte ihr Vorsitzender anlässlich der Skandale in Heimen und der wirtschaftlichen Restriktionen einen Aufsatz mit dem Thema „Wo stehen wir gegenwärtig in der Fürsorgeerziehung?“ verfasst. Darin sind viele Fragen und Aspekte von mehreren Seiten beleuchtet, Probleme und Lösungsoptionen benannt. Der Aufsatz wirkt wie eine Suche nach Klarheit in einer komplexen Welt, in der konservative und moderne Werte, Methoden und politische Ausrichtungen nebeneinanderstehen. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung ist für den AFET die Suche nach dem richtigen Weg offenbar beendet. Die klare Staatsdoktrin für die Jugendhilfe wird in einer 1933 verfassten Denkschrift begrüßt: „Die Fürsorgeerziehung (FE.) als staatliche Ersatzerziehung hat sich ihrem Wesen und Charakter nach der Zielsetzung des Führers Adolf Hitler für den nationalsozialistischen Staat und für seine Erziehungsgrundsätze einzufügen.“{122} Der AFET übersetzte diese Zielsetzung für die Jugendhilfe: Die als nicht erziehbar geltenden Jugendlichen sollten in Bewahranstalten abgeschoben werden. Die „Strafe als nicht zu entbehrendes Erziehungsmittel“ wurde von ihrem Makel der vergangenen Jahre befreit. Generell formulierte der AFET die „Eingliederung in die Volksgemeinschaft“ als oberstes Erziehungsziel. Für den AFET waren „die Aufgaben des Mannes und der Frau im Volksganzen verschieden“. Die Erziehung müsse dies berücksichtigen, so etwa bei der „körperlichen Ertüchtigung“ von Jungen im „Wehrsport“ und bei Mädchen über die „Entfaltung echter deutscher Frauenart, Dienst- und Opferbereitschaft in Familie und Volk.“{123} Im Jahr 1935 veranstaltete der AFET in Kassel eine große Mitgliederversammlung, die sich im Schwerpunkt mit der nationalsozialistischen Erziehung befasste und dessen Tagesordnung sich wie die eines Parteitags liest. So sprach zum Beispiel der Reichsschulungsbeauftragte der NS-Volkswohlfahrt, Franz Maierhofer, zum Thema „Erziehungsaufgaben des Nationalsozialismus“.{124}
Der AFET hatte sich 1933 sehr schnell gleichgeschaltet. Er war damit offenbar auch einem inneren Bedürfnis nachgekommen, dem Widerstreit der konkurrierenden Erziehungsansätze der 1920er Jahre ein Ende zu setzen. Rückblickend bemerkt der AFET in seiner Jubiläumsbroschüre, dass er „Anschluss“ an die „‚neuen‘ Ideen und Machthaber“ gesucht habe. Andererseits hält er sich zugute, sich der weitergehenden organisatorischen Anpassung durch geschicktes Hinauszögern widersetzt zu haben. Auch habe er sich im Krieg – wenn auch erfolglos – für die Verbesserung der Ernährung der Zöglinge in der Fürsorgeerziehung eingesetzt. Eine schwache Bilanz.
Auch in Hamburg stießen die „neuen Ideen und Machthaber“ auf breite Zustimmung. Immerhin wurden härtere Erziehungsmethoden nicht mehr kritisiert und Unerziehbare nach und nach aus den Heimen ausgesondert. Der nationalsozialistische Heimalltag bot auch neue Erlebnisse, wie ein Beispiel aus dem Mädchenheim Feuerbergstraße zeigt: Die Direktorin des Mädchenheimes hatte im August 1933 für 25 Mark von der „Radiofirma Brunken“ ein „Radio mit Lautsprecher geliehen“, um die Radio-Übertragung vom NSDAP-Parteitag in Nürnberg ins Heim zu holen. Vom 30. August bis zum 3. September hockten die Erzieherinnen und die Mädchen vor dem Radio und lauschten den Reden des ‚Parteitages des Sieges‘. Die Übertragung war am Freitag, dem ersten Tag, unbefriedigend, „Sonnabend u. Sonntag sehr gut“, notierte die Direktorin und ergänzte: „Begeisterung bes. am Sonnabend groß.“{125} Man hat in der Feuerbergstraße wohl gefallen an Radioübertragungen solcher Veranstaltungen gefunden. Für den 24. und 25. Februar 1934 sind zwei Zeitungsausschnitte aus den Unterlagen des Heimes vorhanden, die die Übertragung der „Parteigründungsfeier in der Musik-Halle“ und die „Vereidigung der Pl. Leiter und HJ-Führer“ in Hamburg ankündigten.
Am 2. August 1934 starb Reichspräsident Hindenburg. Bereits einen Tag zuvor hatte die Reichsregierung das „Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches“ erlassen, das Hitler durch die Übertragung der Befugnisse des Amtes des Reichspräsidenten auf das des Reichkanzlers auf Lebenszeit zum unumschränkten Diktator gemacht hatte. Hitler ordnete für diesen Schritt eine Bestätigung durch das Volk an. Das Plebiszit wurde für den 19. August 1934 anberaumt.{126} Hitler begab sich am 17. August nach Hamburg zu einem Staatsbesuch, auf dem er in einer reichsweit ausgestrahlten Rede auch für die bevorstehende Volksbefragung warb. Der Besuch Hitlers war für die Hamburger Nationalsozialisten ein besonderes Ereignis. Man wollte dem Führer einen fulminanten Empfang bereiten und damit die Treue des nationalsozialistischen Hamburgs unter Beweis stellen. Viele Menschen wurden mobilisiert, um an der langen Strecke vom Flughafen zum Rathaus Spalier zu stehen und dem „Führer“ zuzujubeln. Der Direktor des Jugendamtes ließ der Direktorin Cornils ausrichten, dass sie am Freitag, den 17. August, um 12:30 Uhr mit den Mädchen ihres Heimes an der Alsterkrugchaussee Aufstellung nehmen möge: „Spalier wird in 3er Reihe gebildet. Das Mädchenheim Feuerbergstrasse schiebt sich an geeigneter Stelle zwischen die dort stehenden Schulen ein.“ Es klappte alles gut, wie auf dem Dokument vermerkt wurde: „Das ganze Haus mit Ausnahme von 3 G.-Kranken und 5 Neuaufnahmen geht zum Empfang des Führers. Abends hören wir durch das Radio von 8.30 - 10.30 den Führer – unerhört eindrucksvoll! Mädchen gehen fein mit.“ {127}
Ausgestoßen, benutzt und vernichtet
Der 14. November 1989 war ein kühler, regnerischer Tag, an dem die 72‑jährige Liese-Lotte M. und ihr 81‑jähriger Ehemann Wilhelm beim Notar Dr. Ekkehard Nümann in der Spitalerstraße erschienen, um „letztwillige Verfügungen“ zu beurkunden. Sie bestimmten sich zu gegenseitigen Alleinerben. Sollten jedoch beide irgendwann verstorben sein, sollten ihre Ersparnisse der Freien und Hansestadt Hamburg zufließen, und zwar für die Pflege und Unterstützung von Waisen in dem Waisenheim Averhoffstraße 7. Nach der Verlesung des Testaments setzten die beiden ihre Unterschriften unter das Dokument und verließen das Notariat.
Die Ehe der Liese-Lotte M. war kinderlos geblieben, obwohl sie sicherlich gerne Kinder gehabt hätte. Um zu verstehen, dass sie mit ihrem Mann keine Familie gründen konnte, muss man in ihre Jugend zurückblicken. Liese-Lotte wurde im November 1918 in einfachen Verhältnissen und in einer schweren Zeit geboren. Die Ehe ihrer Eltern war unglücklich. Ihr Vater misshandelte seine Frau, sorgte sich wenig um die Familie und ging keinerlei Arbeit nach, wie sich Liese-Lotte Jahrzehnte später erinnerte. Ihre Mutter war daher gezwungen, arbeiten zu gehen, um für sich und ihr Kind den Lebensunterhalt zu sichern. Die Ehe wurde schließlich 1923 geschieden. Ihr Vater als ihr gesetzlicher Vertreter sorgte dafür, dass seine damals sechsjährige Tochter im Waisenhaus in der Averhoffstraße aufgenommen wurde. Liese-Lotte war ein wenig gefördertes Kind, das in ihrer Entwicklung zurückblieb. Sie wurde vermutlich aus diesem Grund 1929 in die Alsterdorfer Anstalten überwiesen, wo sie bis zu ihrer Volljährigkeit im Jahr 1939 bleiben musste. Ein Arzt befand während dieser Zeit, dass sie und ihre möglichen Kinder für das deutsche Volk in der Zukunft wenig nützlich seien, und erwirkte, dass sie 1936 oder 1937, sie selbst erinnerte es nicht genau, im Universitäts-Krankenhaus Eppendorf zwangssterilisiert wurde. Ihre Kindheit, und vor allem dieser Einschnitt in ihr Leben, hat ihr ein lebenslanges Leiden bereitet, und dazu bewogen, ihr Erbe Kindern zu widmen, die ohne elterliche Nähe aufwachsen müssen und Schutz und Zuwendung benötigen. Nach ihrer Entlassung aus der Anstalt im Jahr 1939 war sie für 3 Jahre zur Arbeit im Krankenhaus Jerusalem zwangsverpflichtet. „Anschließend war ich ein freier Mensch“, schilderte sie 1991 rückblickend. 1954 heiratete sie ihren Mann Wilhelm, mit dem sie bis zu ihrem Tod im Januar 1993 ihr Leben verbrachte{128}.






