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Liese-Lotte war Opfer der von der Rassenkunde geprägten nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik. Zum deutschen Volk sollten nur rassisch hochwertige Menschen gehören. Neben den Juden, die aus dieser Sicht erklärte Rassenfeinde waren, weitete sich der Blick auch auf diejenigen Bevölkerungsgruppen aus, die durch geringeres Leistungsvermögen, unheilbare Krankheit oder Behinderung für die Gesellschaft eine Last darstellten.
Bereits im Juli 1933 beschloss das nationalsozialistische Regime das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das zum 1. Januar 1934 in Kraft trat. Es ermöglichte die Unfruchtbarmachung von Menschen, deren Kinder mit „großer Wahrscheinlichkeit“ an „schweren körperlichen und geistigen Erbschäden leiden werden.“ Das Gesetz beschrieb neun Gruppen von Erbkrankheiten, die aber zum Teil für eine weite Auslegung geöffnet waren. Außerdem konnte “unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet“. Der Kreis derjenigen, die eine Unfruchtbarmachung beantragen konnten, umfasste neben den betroffenen Personen oder deren gesetzlichen Vertretern auch beamtete Ärzte oder Leiter von Kranken, Heil- oder Pflegeanstalten. Das Erbgesundheitsgericht entschied über die Anträge auf Basis eines ärztlichen Gutachtens. Wurde die Zwangssterilisation beschlossen, konnte sie auch mit Mitteln des Zwangs durchgesetzt werden.{129}
Das war die Stunde der Ärzte, die sich schon seit Längerem der Rassenkunde gewidmet hatten und nun zur Tat schreiten konnten. Und das auch in der Jugendhilfe. Der Psychiater der Hamburger Jugendbehörde, Werner Villinger, hatte den Boden für die Umsetzung des Gesetzes im Bereich der Jugendhilfe bereitet, indem er erste Maßstäbe für die erbbiologische Begutachtung aufstellte. Er wechselte 1934 als Chefarzt zur Anstalt in Bethel, so dass er das Gesetz in Hamburg nicht mehr praktisch umsetzen konnte. Sein Nachfolger, der Neurologe Heinrich Lottig, setzte die erbbiologische Ideologie in der Jugendhilfe mit voller Kraft um.
Der im Jahr 1900 geborene Heinrich Lottig stammte aus einer sozialdemokratisch geprägten Familie, wählte aber, anders als sein Vater, der zu den Reformpädagogen seiner Zeit gehörte, den Beruf des Arztes. In den 1920er Jahren war er im Krankenhaus Hamburg-Eppendorf tätig und widmete sich der Zwillingsforschung an der von Max Nonne bis 1933 geleiteten Neurologischen Klinik. Der in die Jahre gekommene Nonne war über seine Entlassung 1933 hinaus als Fachmann und Gutachter tätig und bekannte sich zur Zwangssterilisation und Euthanasie. Lottig bildete seine ärztlichen Sichtweisen in einem in Hamburg und reichsweit sich ausbreitenden Klima einer rassenbiologischen Medizin aus. 1933 unterzeichnete er das Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler. Er trat 1934 Villingers Nachfolge als Leitender Oberarzt des Hamburger Jugendamtes an.
Lottig führte die rassenbiologische Ideologie sehr früh unter dem Deckmantel der Wissenschaft in die Fürsorgeerziehung ein. In den Hamburger Nachrichten vom 2. Juli1933 wurde unter dem Titel „Das schwer erziehbare Kind - die Notwendigkeit rassehygienischer Maßnahmen“{130} über einen Vortrag von ihm berichtet: „Die Unterwertigkeit der Erbmasse, deren schrankenlose Weiterverbreitung eine dringende Gefahr für den Bestand unseres Volkes ausmacht, stellt die Ursache der schweren Fälle von Schwererziehbarkeit dar.“ Unter Bezug auf seine Zwillingsstudien stellte Lottig den für ihn wissenschaftlich gesicherten Zusammenhang zwischen „intellektuellem und moralischem Schwachsinn erblicher Herkunft“ und „asozialem oder kriminellem Entarten der Persönlichkeit“ her.
Lottig schritt ab 1934 als leitender Psychiater des Jugendamtes auch zur Tat. Er war oberster Gutachter für Sterilisationsanträge für junge Menschen und ging in seinen Einschätzungen über das Gesetz sogar hinaus, indem er unter dem Begriff des Schwachsinns auch den „moralischen Schwachsinn“ fasste, der auch als „moralisch minderwertig“ klassifizierte Menschen in den Kreis des Eingriffs hineinzog. Damit konnten auch Kleinkriminelle, Obdachlose und Unangepasste unter das Messer kommen. Im April 1934 hatten Lottig und seine Mitarbeiter bereits 89 Fälle bearbeitet, von denen nur 35 als nicht sterilisierungsbedürftig befunden wurden.{131} Das weitere Verfahren nach der ärztlichen Stellungnahme betrieb dann das Gesundheitsamt. In dem Bericht, in dem Lottig diese Bilanz präsentierte, lobte er die großen Anstrengungen seiner Abteilung und klagte über die schleppende Mitwirkung von Eltern und Vormündern. Außerdem seien die Ärzte des Jugendamtes mit anderweitiger gutachterlicher Tätigkeit befasst, die „an Dringlichkeit die Sterilisierungsfälle“ überträfen. Gemeint waren vermutlich auch die Untersuchungen in der Aufnahmestation des Waisenhauses in der Averhoffstraße, das zu einem „Aufnahmeheim und Ausleseheim für männliche Jugendliche, Beobachtungsheim“{132} entwickelt worden war. Hier wurde bereits eine erbbiologische Klassifizierung der neu aufgenommenen Kinder und Jugendlichen vorgenommen, um deren weitere Unterbringung festzulegen oder sie gleich als nicht „erbwertig“ und unerziehbar aus der Jugendhilfe fern zu halten und in „Bewahranstalten“ zu überweisen.
Für die Entwicklung des Klassifikations- und Ausleseschemas wurden zunächst Fürsorgezöglinge des Mädchenheimes Feuerbergstraße nach anlage- und umweltbedingten Ursachen für die Verwahrlosung beurteilt. Das Schema wurde von Lottig bis 1936 als „Einteilung der Zöglinge nach ihrem biologischen Wert“{133} weiterentwickelt. Es war Grundlage des Ausleseprozesses. Die sechsstufige Klassifikation reichte von „wertvolle geistige und charakterliche Qualität“ über „leichte geistige und charakterliche Unterwertigkeit“ bis zu „nicht erziehungsfähig“.
Die Hamburger Erziehungsheime wurden nach diesem Schema neu organisiert, so dass „eine sorgfältige Differenzierung der Zöglingstypen möglich war“. Das Waisenhaus war in diesem Zuge in die Jugendheime Volksdorf, Reinbek und Niendorf aufgeteilt worden. In einer Darstellung des Hamburger Landesjugendamtes aus dem Jahr 1939 wird das Selektionsprinzip wie folgt dargestellt:
„A Kinder von normaler Anlage und normaler geistiger und charakterlicher Wertigkeit.
1) Kinder von normaler Anlage und normaler geistiger und charakterlicher Wertigkeit (über Durchschnitt der öffentlichen Volksschulen),
2) Ausreichende geistige und charakterliche Qualität (guter Durchschnitt)
B Kinder, die geistig oder charakterlich leicht oder schwer unterwertig, aber noch erziehbar sind mit Aussicht darauf, dass sie später keiner Anstaltsbetreuung mehr bedürfen und sich ihren Lebensunterhalt selber erarbeiten werden.
3) Leichte geistige und charakterliche Unterwertigkeit (schwacher Durchschnitt)
4) Mittlere geistige und charakterliche Unterwertigkeit (hierzu gehört der Hilfsschultyp)
C Kinder, die infolge schweren geistigen oder charakterlichen Tiefstandes eine Gefahr für die Volksgemeinschaft darstellen und daher frühzeitig abgesondert und in sparsamer Weise verwahrt werden müssen.
5) starke geistige und charakterliche Unterwertigkeit (noch gewisse Erziehungs- und Anleitemöglichkeiten; voraussichtlich aber dauernd außerstande, sich im freien Leben zu halten)
6) Hochgradig abwegige, Nichterziehungsfähige.“
Die Begutachtung und Etikettierung der jungen Menschen nach ihrem erbbiologischen Wert konnten nur ein erster Schritt sein, da man sie auch praktisch in diesen Gruppen zusammenbringen wollte. An die „erbbiologisch Minderwertigen“ wollte man keine Mühe verschwenden und sie an Orte aussondern, an denen man sie verwahren konnte. Die „Erbwertigen“ sollten jedoch in den Genuss einer Förderung an einem schönen Ort kommen. Der Hamburger Gauleiter initiierte daher Ende April 1934 das Vorhaben, die „Staatskrankenanstalt Friedrichberg mit ihren schönen Parkanlagen künftig nicht geisteskranken Menschen zur Verfügung zu halten, sondern sie solchen Volksgenossen zu öffnen, die einen geistigen und körperlichen Gewinn von einem Aufenthalt in diesen schönen Anlagen haben würden“.{134} Die künftigen Bewohner sollten verdiente, alte Menschen und erbbiologisch wertvolle Fürsorgezöglinge sein. Hierfür mussten die etwa 1800 in der Anstalt lebenden Menschen bis auf die 300 als „heilbar“ geltenden in andere Einrichtungen verlegt werden. Dies erfolgte innerhalb von nur 9 Monaten.
Zugleich waren in Jugendheimen diejenigen ausfindig zu machen, die als „erziehbar“ galten und in die neue Musteranstalt „Eilbecktal“ umziehen sollten. Der Umzug aus diversen Heimen erfolgte ab Juni 1935. Am Jahresende befanden sich 480 Kinder am neuen Ort. Gleichzeitig wurde in diesem Ringtausch das Waisenhaus an der Averhoffstraße, das als alt und nicht mehr geeignet betrachtet wurde, bis auf die ärztliche Abteilung geräumt.{135} Das Ergebnis der Großaktion war unbefriedigend, da es nicht genug „erbwertige“ Kinder gab, um die große Platzkapazität auf dem Gelände in Eilbek auszuschöpfen. Man erwog, Kinder aus Pflegefamilien auf das Heimgelände zu holen, verwarf den Plan aber wieder als nicht sinnvoll und nicht umsetzbar. Der Gauleiter ordnete an, die entstandene Situation wieder aufzulösen, wobei allerdings in der Öffentlichkeit nicht der Eindruck der Planlosigkeit entstehen sollte. Eine Rückverlagerung des Waisenhauses zum Standort Averhoffstraße Nr. 5 war damit ausgeschlossen. Das Johannes-Petersen-Heim, das ebenfalls am Standort Averhoffstraße (Haus Nr. 7) platziert war, wurde hingegen zurückverlegt. Für das Waisenhaus wurde ein Neubau in einem Außenbezirk erwogen, und zwar auf dem Grundstück Schemmannstraße 56 in Volksdorf, auf dem die Behörde eine „Wohlfahrtsanstalt … für behinderte und sieche alte Frauen“ betrieb. Im Zuge der Planung wurde vom Behördenleiter Oskar Martini die Frage aufgeworfen, ob denn die Waisenhauszöglinge überhaupt eines Neubaus Wert seien. Lottig wurde beauftragt, eine Bewertung der 366 Zöglinge vorzunehmen. Das Ergebnis legte er im Oktober 1936 vor. Danach waren 44,5 % der Kinder als „normal“ zu bezeichnen. Der Gauleiter war mit dem Ergebnis offenbar nicht zufrieden und gab eine Überprüfung durch den Vizepräsidenten der Gesundheitsbehörde in Auftrag. Das Ergebnis entsprach den Erwartungen der politischen Spitze mehr: nur noch 28,5% der Kinder galten als „erbbiologisch ausreichend“. Lottig empfand die Beauftragung eines überprüfenden Gutachtens als Vertrauensbruch und gab seine Stelle beim Landesjugendamt in Hamburg zum Jahresende 1936 auf.{136} Er hinterließ Verfahren und Zuständigkeiten, mit denen sein Amtsnachfolger, Otto Hülsemann{137}, die Ausgrenzung erbbiologisch unerwünschter Menschen aus der Jugendhilfe nahtlos fortsetzen konnte.
Die zweite Begutachtung führte zur Entscheidung, dass in Volksdorf zum bestehenden Gebäude nur noch kostengünstige Baracken errichtet werden sollten. Der Plan zur Räumung der Anstalt „Eilbecktal“ hatte damit an Kontur gewonnen, so dass der Gauleiter die erneute Verschiebung der Kinder bis zum Dezember 1938 anordnete. Dies war keine leichte Aufgabe, da sich die Unterbringungssituation durch die Eingemeindung von Altona, Harburg und Wandsbek in das Stadtgebiet Hamburgs zum 1. April 1937 und dem damit verbundenen Bevölkerungszuwachs noch verschärft hatte.{138} Die Verwaltung machte sich dennoch mit Eifer erneut ans Werk und setzte auch diese Weisung um: Das alte Forsthaus in Reinbek wurde zum Jugendheim umfunktioniert und konnte 120 Kinder aufnehmen. Weitere 150 konnten vor der Fertigstellung der Baracken nach Volksdorf umziehen, womit das Heim heillos überbelegt war und die Schulräume in Schlafsäle umgewandelt werden mussten. Hier wie in anderen Heimen, war dann kein Unterricht mehr möglich. Es sollte versucht werden, den Kindern den Besuch der benachbarten Volksschulen zu ermöglichen. „60 Jungen zogen nach Niendorf in ein ehemaliges Altersheim.“{139} Für „obdachlose Mädchen“ und Lehrlingsmädchen wurde die an der Alster gelegene Villa Schwanenwik 38 angekauft, hergerichtet und im Mai 1939 als Durchgangs- und Lehrlingsheim mit 50 Betten in Betrieb genommen.{140}
Zur Lösung des Unterbringungsproblems wurden seit 1937 vermehrt und vor allem für Hilfsschüler auswärtige Anstalten in Anspruch genommen. Auch im Mädchenheim Feuerbergstraße wurde es eng. Die schulentlassenen Mädchen mussten die Wohnräume zugleich als Arbeitsräume nutzen.{141}
Im Handbuch der Verwaltung des Jahres 1939 ist die Umgestaltung der Heimstruktur zu erkennen: Das „Jugendheim Ochsenzoll“ war beispielsweise ein „Heim für leicht unterwertige, labile oder schwachsinnige Schulkinder“, das Jugendheim Reinbek dagegen eines für „erbwertige Kinder“. Die feine Abstufung ist auch bei der Beschreibung des Jugendheimes Gojenberg zu erkennen, das als „Erziehungsheim für schwierige, aber erbwertige Kleinkinder und kleinere Schulkinder“ bezeichnet wurde. Das Mädchenheim Feuerbergstraße war für „schulentlassene schwererziehbare Mädchen“ zur „Arbeitserziehung“ vorgesehen, das Heim auf dem Gut Wulfsdorf für „schwererziehbare männliche Jugendliche“ zur landwirtschaftlichen Ausbildung.
Die „Ausmerzung der Minderwertigen“, wie der Verwaltungsdirektor der Anstalt Eilbecktal, Dr. Späth, den Selektionsprozess bezeichnete, war einen großen Schritt vorangekommen. Die Kinder und Jugendlichen in den Erziehungsheimen waren zunehmend auf jene reduziert, „die das Niveau eines Volksschülers erreichen und darum die sorgfältige Betreuung des Staates verdienen.“{142} Sie galten als fähig und nützlich, einen Beitrag für das Regime zu leisten. Für die anderen war in der Jugendhilfe kein Platz mehr vorgesehen. Ihnen sollte später ein anderes Schicksal bereitet werden.

Die ersten Vorbereitungen für einen Angriffskrieg begannen bald nach der Machtergreifung 1933, und zwar nicht nur durch Aufrüstung und Ausübung außenpolitischen Drucks, sondern auch durch die mentale Einstimmung der Gesellschaft. Der Eingliederung der Bevölkerung in Organisationen, die das Regime stützen und kampfbereit machen sollten, stand die Marginalisierung und Vernichtung der als minderwertig und daher als gesellschaftliche Last betrachteten Menschen gegenüber. Dieser Prozess spielte sich auch in der Jugendhilfe ab.
Die Nützlichkeit des einzelnen für die Volksgemeinschaft bemaß sich vor allem an seiner Arbeitswilligkeit und -fähigkeit. Der Psychiater Villinger hat schon früh zwei Ursachen für die Arbeitslosigkeit ausgemacht. Er benannte die durch äußere Einflüsse bedingte Arbeitslosigkeit, in die Arbeitswillige getrieben werden können. Davon unterschied er die personenbedingte Arbeitslosigkeit, die durch eine vererbte, charakterliche und damit pathologische Disposition eines Arbeitslosen entstehe. Sie trete als Arbeitsscheu und mangelnde Kompetenz in Erscheinung und gehe sogar oft mit krimineller Neigung einher. Er traf damit den neuen Zeitgeist.
Nach der umfassenden Begutachtung der Fürsorgezöglinge in den 1930er Jahren betrachtete man die meisten von ihnen allenfalls als billige Arbeitskraft, aber nicht mehr als Teil der „Volksgemeinschaft“. So wurden sie weitgehend wegen „schlechter Erbanlagen“, Unerziehbarkeit sowie charakterlicher Mängel von der Einberufung in den Reichsarbeitsdienst (RAD) oder zur Wehrmacht ausgeschlossen. Dies betraf beispielsweise die Mädchen des Jahrgangs 1922 im Heim Feuerbergstraße, die 1940 zur Musterung anstanden. So wurden etliche nicht zum RAD zugelassen, was Enttäuschung bei den Mädchen und auch der Direktorin des Heimes hervorrief. Gleiches erlebten die Jungen im Erziehungsheim Wulfsdorf. Der Reicharbeitsdienst oder die Einberufung zur Wehrmacht waren für die jungen Menschen attraktiv, bedeuteten sie doch die endgültige Entlassung aus dem Heim.{143} Die in den Heimen verbliebenen jungen Menschen waren aber gut genug, um „kriegswichtige Arbeiten“ zu leisten. So hat zum Beispiel das Mädchenheim Feuerbergstraße Arbeiten in der Rüstungsindustrie übernommenen. An der vollen Ausschöpfung dieser Ressource wirkte die Direktorin des Heimes durch Heraufsetzung der täglichen Arbeitszeit und Reduzierung der internen Hausarbeit mit Engagement mit. Sie argumentierte dies mit den „erhöhten Anforderungen, die durch den totalen Arbeitseinsatz des deutschen Volkes an jeden einzelnen deutschen Menschen gestellt werden.“{144} Dazu gehörte auch das Stopfen von Strümpfen für die Wehrmacht, wie ein Mädchen später berichtete: „Ich erinnere mich noch sehr gerne an die Zeiten, wo wir in der Kriegszeit 1200 Paar Strümpfe für Kasernen in der Woche stopfen mussten. (…) Da haben wir oft bis ein Uhr in der Nacht gesessen (…) hat kein Mädchen gesagt, ach, lasst mich mal lieber ins Bett gehen (…) Das war eine ganz schöne Gemeinschaft, das muss ich sagen.“{145}
Das Regime honorierte den Einsatz der Heimzöglinge, die in der Landwirtschaft, in Rüstungsbetrieben oder in anderen kriegswichtigen Bereichen arbeiteten, nicht. Reichsweit waren die Versuche der Heimleitungen, so auch der des Mädchenheimes Feuerbergstraße{146}, und auch des AFET gescheitert, für sie die Essenrationen heraufzusetzen. Die Antwort der amtlichen Stellen war jeweils eindeutig: In dem diesbezüglichen Erlass war eine bessere Ernährung nur für junge Menschen vorgesehen, die als „rassisch wertvolle deutsche Jugend“ galten und an die „besonders grosse Anforderungen in geistiger und körperlicher Hinsicht gestellt werden und die als Führernachwuchs für Partei, Staat und Wehrmacht ausersehen sind.“{147} Konkret waren dies junge Menschen in den Adolf-Hitler-Schulen, den nationalpolitischen Erziehungsanstalten, den Führer- und Führerinnenschulen der Hitlerjugend und weiteren Einrichtungen dieser Art. „Die Insassen der Fürsorgeerziehungsheime können mit diesen Jugendlichen nicht verglichen werden“{148}, wurde abschließend klargestellt.
Auch ein Antrag der Direktorin Cornils aus dem Jahr 1940, die Kinder der Warteschule des Mädchenheimes wegen der verstörenden nächtlichen Fliegerangriffe in die Kinderlandverschickung einzubeziehen, wurde mit der gleichen Begründung abgelehnt: die Kinder seien minderwertig und es daher nicht wert, besonders geschützt zu werden.{149}
Das Heimleben in der Feuerbergstraße hatte sich bis zu den ersten Kriegsjahren auf den Nationalsozialismus eingestellt, wie sich Valeska Dorn erinnert, die von 1939 bis 1942 im Heim leben musste. Dazu gehörte das Antreten in Gruppen auf dem Hof, der Hitlergruß, Strafen im „Bunker“, tägliche Arbeit im Anstaltsbetrieb und die allgemein raue Behandlung, die eben jenen „rassisch Minderwertigen“ zugedacht war. Valeska Dorn erinnerte sich an die Erziehungsdirektorin Cornils als „Oberin“. Das ist bemerkenswert, war dieser Titel doch Ende der 1920er Jahre abgeschafft worden. Er war aber offenbar noch lange Zeit im Alltag gebräuchlich, und passte wohl auch zum Regiment in der Feuerbergstraße.{150}

An einem Tag im Oktober 1944 wurde ein behindertes Kind des Kinderkrankenhauses von der chirurgischen Abteilung Rothenburgsort auf die Infektionsabteilung überwiesen. Es war an Scharlach erkrankt. Die Stationsschwester steckte im Laufe des Tages der Assistenzärztin einen Zettel zu. Die Ärztin las die Worte: „Genehmigung für A.H. liegt vor.“ A.H. waren die Initialen des Kindes. Sie besorgte sich aus der Krankenhausapotheke das Medikament Luminal. Zur Abendzeit begab sie sich dann zusammen mit einer Schwester in das Krankenzimmer des Kindes. Die Schwester hielt das Kind fest und die Ärztin spritzte das Barbiturat in tödlicher Dosis in das Gesäß des Kindes. In der Nacht lief das Kind blau an, hatte Schaum vor dem Mund, „nasenflügelte“ und röchelte, bis es still war. Auf dem Totenschein vermerkte die Ärztin pflichtgemäß: „Todesursache Pneumonie“.{151}
Bereits 1940 war ein Programm zur Aussonderung und physischen Vernichtung von Kindern angelaufen. In einem im Oktober 1939 verfassten, aber auf den 1. September 1939 zurück datierten Schreiben hatte Hitler die Tötung kranker Menschen in den Ermessenspielraum einzelner Ärzte gestellt.{152} Dabei wurde der Begriff des „Gnadentodes“ verwendet. Eine gesetzliche Grundlage zur Euthanasie wurde zwar erwogen, aber aus Geheimhaltungsgründen sogleich wieder verworfen. Damit war nur dieser „Führererlass“ Grundlage für die Tötung von rund 200 Tausend Menschen, Erwachsenen wie Kindern. Das daraufhin anlaufende Euthanasieprogramm wurde von Mitarbeitern der „Kanzlei des Führers“ organisiert. Hierzu wurde der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ gegründet, der Erlasse zur Durchführung des Programms und insbesondere eine Pflicht zur Meldung von schwer erkrankten Kindern im Alter bis zu drei Jahren herausgab.{153} Ab 1939 waren angeborene Missbildungen zu melden, aber auch „Idiotie sowie Mongolismus“, wodurch ein breiter Spielraum in der Diagnostik eröffnet wurde. Das Meldeverfahren wurde durch Meldeformulare bürokratisch geordnet und in der Folgezeit mehrfach präzisiert. Der Reichsausschuss entschied anhand der Angaben auf den Meldebögen, ob an einem Kind in einer speziellen Anstalt eine „Behandlung“, also eine Tötung, durchgeführt werden durfte. Hierfür wurden die reichsweit etwa 30 „Kinderfachabteilungen“ in besonders ausgesuchten Krankenhäusern gegründet. In Hamburg bestanden im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort und in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn solche Abteilungen.{154} Die Leitenden Ärzte waren in das Programm und die gewünschte Behandlung eingeweiht und auch willig mitzuwirken. In Hamburg waren dies die Ärzte Wilhelm Bayer für Rothenburgsort und Friedrich Knigge für Langenhorn. Die administrative Verantwortung lag beim Gesundheitssenator Ofterdinger, dem Obersenatsrat Struve zur Seite stand. Ausgangspunkt für die Auswahl der in Betracht kommenden Kinder waren die Amtsärzte, die ebenfalls in das Programm eingebunden waren. Für die Amtsärzte und die beiden Kinderfachabteilungen war der Leiter des Gesundheitsamtes Sieveking zuständig.{155} Ab Mitte oder Ende 1940 – das genaue Datum war auch im Strafprozess nach dem Krieg nicht zu klären – begannen die Tötungen im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort, Anfang 1941 ging die Kinderfachabteilung in Langenhorn in Betrieb.{156}
Viele Kinder befanden sich noch in der Obhut der Eltern und für die Einweisung und Behandlung war deren Einverständnis erforderlich. Die Eltern waren also über die Behandlung aufzuklären, wobei man sie offenbar anlog, dass eine Behandlung durchgeführt werden könne, die aber das Risiko berge, dass das Kind nicht überlebte.{157} Nicht alle Eltern waren einverstanden, verweigerten die Einweisung oder holten ihre Kinder aus den Krankenhäusern wieder ab. Sie wurden aber weiterhin zur Behandlung gedrängt. Waren alle Formalien erledigt und lag der Kinderfachabteilung die Tötungsermächtigung vor, konnte sie vollzogen werden. Dies geschah durch die Injektion eines hochdosierten Barbiturats. Die Todesursache wurde in den Todesbescheinigungen mit „Lungenentzündung“ angegeben. Es konnte später nicht genau aufgeklärt werden, wie viele Tötungen vollzogen wurden. Die Anklageschrift im Prozess nach dem Krieg ging von 12 Kindern in Langenhorn und 56 Kindern in Rothenburgsort aus. Es waren aber nach neueren Erkenntnissen vermutlich 22 und 60 Kinder. Allerdings wurden auch Verlegungen von Kindern in andere Anstalten vorgenommen, in denen ebenfalls Tötungen vollzogen wurden.{158}
Die Psychiater des Jugendamtes konnten mit ihrer Begutachtung eine Überweisung in eine Heilanstalt veranlassen. In Hamburg waren dies die Alsterdorfer Anstalten, es kamen aber auch andere Einrichtungen in Betracht. Nach Anlaufen des Euthanasieprogramms wurde der Weg von dort in Einrichtungen veranlasst, die dann eine Tötung verübten. So wurden allein am 7. August 1943 80 Kinder aus den Alsterdorfer Anstalten in die Heil- und Pflegeanstalten Kulmenhof und Eichberg verlegt. Viele von ihnen kamen zuvor aus den Heimen des Landesjugendamtes, etwa aus dem Johannes-Petersen Heim, dem Kleinkinderhaus Winterhuder Weg oder auch der Kindergruppe der Einrichtung Feuerbergstraße.{159} Die Selektion fand bereits in den Aufnahmestationen oder Durchgangsheimen statt, wie der Fall der 17jährigen, geistig behinderten Olga C. zeigt. Bis zum Januar 1943 lebte sie bei ihren Eltern, als die Mutter erkrankte und Olga im Durchgangsheim Schwanenwik untergebracht wurde. Dort erkannte man ihre Behinderung. Bereits nach wenigen Tagen wurde den Eltern das Sorgerecht entzogen, das Mädchen in die Anstalt Langenhorn verlegt und von dort am 22.6.1943 der Tötungsanstalt Hadamar zur Euthanasie ausgeliefert. Die Krankenakte verzeichnete acht Tage später ihren Tod an ‚Pneumonie‘.“{160}






