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Der im April 1938 geborene Junge Alfred Rahnert{161} wurde wenige Wochen nach seiner Geburt im städtischen Kinderheim im Eißendorfer Pferdeweg aufgenommen. Seine Mutter war nach der Geburt gestorben und sein Vater, der mit Alfreds Mutter eine außereheliche Beziehung unterhalten hatte, wandte sich von dem Kind ab. Er hatte vier Kinder aus seiner Ehe und war mit seinem eigenen Leben schon überfordert. Er litt unter Lähmungen, aus denen die Ärzte für Alfred eine erbliche Vorbelastung ableiteten. Das Baby wuchs im Kinderheim auf. In der damaligen Zeit war man noch der Überzeugung, dass Babys und Kleinkinder vor allem gepflegt werden müssten und keiner weiteren Ansprache bedurften. Im November 1939 fielen dem Heimarzt Dr. Gräfe dann Alfreds Entwicklungsverzögerungen auf. „Er konnte weder sitzen noch sprechen, musste gefüttert werden und war kaum ansprechbar.“ Da Alfred keine „Schwierigkeiten“ bereitete, wurde er im Heim belassen. Ein halbes Jahr später wurde Alfred erneut durch Gräfe untersucht. Er kam nun zu der Feststellung, dass Alfred „seiner Unterwertigkeit wegen und im Interesse der Betreuung der gesunden Kinder nicht tragbar“ und nicht erziehungsfähig sei. Damit hatte er das Kind aufgegeben. Er empfahl die Unterbringung in den Alsterdorfer Anstalten, in die Alfred im Juni 1940 verlegt wurde. In der Eingangsuntersuchung wurde bei Alfred „Debilität“ und später „Imbezillität“ diagnostiziert. Als nach den Bombennächten im Juli 1943 die Anstalten geräumt wurden, gehörte Alfred zu den 52 Jungen, die in die Heil- und Pflegestation Kalmenhof verlegt wurden. In der dortigen Kinderfachabteilung wurde er am 11. November 1943 ermordet.
Widerständige Jugendliche waren ebenfalls Ziel der Aussonderung. In einer Beiratssitzung der Sozialverwaltung vom 6. Februar 1941 führte der Leiter des Landesjugendamtes, Prellwitz, aus, dass „in der Betreuung der nicht besserungsfähigen Jugendlichen seit Jahren eine Lücke klaffte.“{162} Er meinte Jugendliche, die polizeilich auffällig wurden oder sich in den Heimen durch Aufsässigkeit zeigten und als „Unansprechbare“ bezeichnet wurden, die „mit den Mitteln des Jugendamtes nicht zu beeinflussen“{163} waren. Zu dieser Gruppe von Jugendlichen gehörten auch solche, die bereits in den Vorkriegsjahren der nationalsozialistischen Vereinnahmung im Alltag eigene Lebensäußerungen entgegen gesetzt hatten: die aus gutbürgerlichen Kreisen stammende Hamburger Swing-Jugend, die sich in Clubs zu Musikveranstaltungen traf und sich öffentlich oppositionell zeigte. Drohungen mit Zwangserziehung, Folter bei polizeilichen Verhören oder gar Inhaftierungen in der Haftanstalt Fuhlsbüttel oder dem Arbeitslager Farmsen blieben ohne abschreckende Wirkung.{164} Mit dem fortschreitenden Zerfall des Alltagslebens der Familien im Bombenkrieg tummelten sich auch mehr und mehr Jugendliche anderer Milieus auf der Straße und in den Ruinen und entzogen sich der nationalsozialistischen Einvernahme.
Vor diesen jungen Menschen musste die „Gemeinschaft in irgendeiner Form“{165} geschützt werden. Und hierfür hatte die Polizei endlich eine Lösung gefunden, die so genannten Jugendschutzlager für Jugendliche im Alter von 13 bis 22 Jahren, die wie ein Konzentrationslager funktionierten. Ab August 1941 fanden erste Einweisungen aus allen Bereichen des Reiches und auch aus besetzten Gebieten in das für männliche Jugendliche vorgesehene Jugend-KZ im niedersächsischen Moringen statt. An diesem Ort war im 19. Jahrhundert ein Werkhaus gegründet worden. Es diente neben dem Werkhausbetrieb im Jahr 1933 für kurze Zeit als Männer-KZ, danach von 1933 bis 1938 als Frauen-KZ und ab 1940 als Jugend-KZ.{166} 1942 wurde das Lager Uckermark für weibliche Jugendliche gegründet. In diesen „Jugendschutzlagern“ landeten die „asozialen“ und „kriminellen“ Jugendlichen, die als unerziehbar galten oder aus anderen Gründen wie Homosexualität oder ihrer Religionszugehörigkeit in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft keinen Platz haben durften. Das Jugend-KZ war neben den Pflegeanstalten eine weitere Möglichkeit, die Erziehungsheime zu entlasten, wie Prellwitz 1941 ausführte: „Die Landesjugendämter begrüssen diese Einrichtung, die die Fürsorgeerziehung von mancher nicht erfreulichen Belastung befreit.“{167} Die inhaftierten, jungen Menschen waren einem brutalen Regiment mit Misshandlungen ausgesetzt: Essensentzug, Strafstehen, Bunkerarrest, Stockhiebe und Strafexerzieren. In der angeschlossenen Munitionsfabrik wurden sie zur Arbeit gezwungen. Sie waren außerdem Objekt rassenbiologischer Untersuchungen zum Zweck der Forschung, aber auch zum Zweck der weiteren Selektion, Entscheidung über Zwangssterilisation und Überstellung zum Beispiel in Anstalten mit Tötungsauftrag. Das Jugend-KZ wurde bis Kriegsende betrieben, dann mit einem Gewaltmarsch evakuiert. Die Kranken und Schwachen blieben allerdings im Lager zurück und waren ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert. {168}

Bereits neun Monate nach Kriegsbeginn im September 1939 begannen erste Luftangriffe der Alliierten auf Hamburg. Am 18. Mai 1940, kurz nach Mitternacht, warfen die Flugzeuge der britischen Royal Air Force (RAF) die ersten Spreng- und Brandbomben auf Industrieanlagen in Harburg ab. Das eigentliche Ziel war jedoch die Werft Blohm & Voss. Das Bombardement konnte, wie sich auch in den folgenden Angriffen zeigte, nicht zielgenau ausgeführt werden. Und somit wurden auch auf der Anflugroute von Nordwesten her Bomben abgeworfen, die einzelne Gebäude in Eimsbüttel trafen. 34 Menschen ließen in dieser Nacht ihr Leben, darunter auch ein Kind.{169}
Von den 212 folgenden Luftangriffen brannten sich jene des Unternehmens „Gomorrha“ im Jahr 1943 in die Geschichte der Stadt ein. Die Angriffe dienten nicht mehr nur der Ausschaltung von kriegswichtigen Industrieanlagen, sondern auch der Demoralisierung der Bevölkerung. Am Sonntag, dem 25. Juli 1943, wieder kurz nach Mitternacht, flogen fast 800 Flugzeuge von Nordwesten her auf die Stadt zu und zerstörten Eimsbüttel, Altona, Teile des Hafens und verstreut auch andere Stadtteile. Auch die Nikolaikirche in der Innenstadt wurde getroffen. Sie wurde nie wiederaufgebaut; die Ruine ist heute ein Mahnmal. Es folgten noch am Sonntag und dann am Montag Tagesangriffe. Noch verheerender war der Angriff am Mittwoch, den 28. Juli, um Mitternacht. Ziel war diesmal das Gebiet südöstlich der Alster zwischen Hammerbrook und Uhlenhorst. Dieser Angriff löste den „Feuersturm“ aus, der mit dem durch Wind angefachten Feuer nach dem Bombardement die Verwüstung weiter vorantrieb. Ein weiterer Angriff am 30. Juli legte Barmbek in Schutt und Asche. In der Nacht zum 3. August flogen 740 Flugzeuge Hamburg an und starteten den letzten Angriff der Operation „Gomorrha“. Hamburg lag unter einer dichten Wolkendecke, so dass die Bombenlast verstreut über dem Stadtgebiet abgeworfen wurde und größtenteils bereits zerstörte Gebiete traf.{170}
Nach der schrecklichen Feuersturm-Nacht verließen etwa eine Million Menschen die Stadt. Die Vorbereitungen auf die katastrophale Zerstörung waren ungenügend, die Evakuierung daher chaotisch, wie Jörg Friedrich in seiner Darstellung über den Bombenkrieg beschreibt: „Langes Warten auf Verkehrsmittel ließ die Flüchtigen in die Wälder wandern, im Freien übernachten. In den Landgemeinden, die sie passierten, wirkte ihr Anblick erschütternd. Manche im Trainingsanzug, einige barfuß in Hemd und Schlüpfer.“{171} Mit 625 Zügen transportierte die Reichsbahn rund 787 Tausend Menschen aus der Stadt. Auf Elbschiffen verließen 50 Tausend Einwohner ihre Heimat.{172}
Zuvor waren bereits unter 14jährige Kinder in Klassenverbänden in Landheimen untergebracht worden. Von dieser Aktion wurden jedoch nicht alle Kinder erfasst; es waren zu viele. Eltern versuchten daher, ihre Kinder selbst bei Verwandten auf dem Land in Sicherheit zu bringen. Die Kinderlandverschickung des Regimes war außerdem nicht populär, denn die Zielorte waren weit weg, Eltern und Kinder litten unter der Trennung und sie bedeutete eine weitere Beeinflussung der Kinder durch das Regime.{173} Auch einzelne Jugendheime zogen aus Hamburg in Landgebiete um. Andere, wie das Mädchenheim Schwanenwik in Uhlenhorst, blieben weiterhin in Betrieb.
In der Krisensituation, in der funktionsfähige Gebäude für kriegswichtige Personen benötigt wurden, gerieten andere Zielgruppen in den Fokus für eine Evakuierung: die kranken und behinderten Menschen. So wurden aus den Alsterdorfer Anstalten am 7. August 241 Kinder und Erwachsene und am 16.August 228 Frauen zur Ermordung in Heil- und Pflegeanstalten abtransportiert, ebenso am 7. August 97 geistig behinderte Frauen aus der Anstalt Langenhorn. Ältere, überwiegend Menschen aus Heimen, wurden ebenfalls in entlegene Anstalten verlegt. Das Chaos der Aktion bewirkte, dass die ohnehin leidenden Menschen mehrfach weitertransportiert wurden, bis sie irgendwo in überbelegten Anstalten ankamen und nur schlecht versorgt wurden. Viele starben auf dieser Odyssee.{174}
Mit der Zerstörung Hamburgs hatte sich das Alltagsleben von Jugendlichen völlig verändert. Die häusliche Ordnung war für viele zusammengebrochen. Elternteile fehlten, einen Haushalt gab es nicht mehr oder nur eine notdürftige Behausung. Jugendliche schlossen sich zu Gruppen zusammen, hausten in den Trümmern, trafen sich abends in Lokalen und entzogen sich damit auch der Arbeitsverpflichtung. Die Sozialverwaltung beschloss daher am 9. August 1943, diese Jugendlichen über Razzien aufzuspüren und in Zwangsarbeiterkolonnen zusammen zu fassen.{175}
Die Bombenkatastrophe im Sommer 1943 stellte auch an die Verwaltung neue Anforderungen. Die Bevölkerung verteilte sich in der Stadt ungesteuert neu, gleichzeitig mussten aber hunderttausende Lebensmittelkarten ausgegeben und Wohnraum, Brennstoff und Bekleidung zugeteilt werden. Gauleiter Kaufmann ordnete daher an, dass die Verwaltung näher an die Wohnquartiere der Bevölkerung heranrücken sollte. Diese am 25. August angeordnete Verwaltungsreform legte den Grundstein für die Aufteilung des Stadtgebietes in Bezirke und Ortsämter, wie sie nach dem Krieg festgeschrieben wurde. Zugleich wurden sämtliche gewerblichen Groß- und Mittelbetriebe zu Industrieblocks zusammengeschlossen, um die Schäden schnell beseitigen und die wirtschaftlichen Anstrengungen weiter erhöhen zu können. Der Verfall ließ sich aber auch mit diesen Maßnahmen nicht aufhalten. Ein Jahr später wurde die Verwaltung noch einmal nach den Erfordernissen der „totalen Kriegsführung“ umgebaut.{176} Diesmal war auch die Jugendhilfe betroffen. Am 12. Juli 1944 wurde eine neue Behörde eingerichtet, „die sich dem wachsenden Problem verwahrloster Jugendlicher widmen“ sollte. Damit gab es nach ihrer Auflösung im Jahr 1933 erneut eine Jugendbehörde. Hintergrund war die zunehmende Zahl an Jugendlichen, die sich in den Trümmern aufhielt, sich zu Banden zusammenschloss und sich dem „Endkampf“ entzog.{177} Wer nicht schon als junger Mann der Jahrgänge 1925 bis 1928 in den Reichsarbeitsdienst oder die Hitlerjugend integriert war, konnte über den „Erlaß des Führers über die Bildung des Deutschen Volkssturms“ vom 25. September 1944 für den bevorstehenden Kriegsdienst in der Stadt rekrutiert werden. Die vom Erlass betroffenen Jugendlichen waren vollständig unter der Propaganda des Regimes sozialisiert und meldeten sich zu einem hohen Anteil freiwillig für die völlig aussichtslosen Widerstandsaktionen gegen die bevorstehende Besetzung durch die Alliierten.{178} Bereits ab Februar 1943 wurden Oberschüler neben dem Unterricht, ab 1944 auch Lehrlinge als Luftwaffen- bzw. Flakhelfer in der Luftabwehr eingesetzt{179}, so zum Beispiel die Jungen der Albrecht-Thaer-Schule am Sievekingplatz, die auf dem Hochbunker an der Feldstraße eingesetzt wurden.{180} Bei den Flakhelfern stieß das Regime zum Teil auf das durch Heldengeschichten geprägte Prestigestreben der Jungen, aber auch auf Ablehnung. Wer sich dieser Rekrutierung entziehen konnte und auch nicht in einer Anstalt untergebracht oder einem Lager interniert war, musste untertauchen und hauste mit anderen in den Ruinen der Stadt.
Der Stern des Regimes sank unaufhörlich. Nur noch wenige glaubten an den „Endsieg“, viele hatten sich schon lange von der nationalsozialistischen Führung abgewandt. Die Versorgungslage verschlechterte sich mit zunehmender Dauer des Krieges. Im Mädchenheim in der Feuerbergstraße sank die Zahl der Neuaufnahmen, weil junge Frauen dienstverpflichtet wurden. So musste das Personal des Heimes auch auf Hausmädchen verzichten, die bislang ihre Privaträume gereinigt hatten.{181} In den letzten Kriegsmonaten und über das Kriegssende Anfang Mai 1945 hinaus blieb die Versorgung mit Kohle und Gas immer wieder aus, auch die Lebensmittelversorgung war trotz intensiver Nutzung des Gartens weiterhin ein großes Problem. Täglich musste im Heim „für gut 300 Personen gekocht werden, für Säuglinge und Kleinkinder anders als für Erwachsene“, berichtete die Heimleiterin Cornils. Und in der Wäscherei, die auch für andere Heime arbeitete, wurde seit März kalt gewaschen: „Die Wäsche wird ‚glitschig‘, weil sie mehr und mehr verunreinigt, weil nicht gekocht wird und sie wird nicht mehr trocken.“{182} Die Arbeit der Mädchen wurde bis zum Schluss als „kriegswichtig“ eingestuft. Dies bedeutete zwar keine bessere Verpflegung, aber zumindest wurde die Einquartierung einer Kompanie des Volkssturms abgewendet. Senator Paul, „der in jeder Beziehung als Freund und Förderer des Volkssturms bekannt“ war, gestatte ihm im April 1945 nur die Nutzung zweier Räume.{183}
Die Nachrichten, Gerüchte und Fantasien über den sich anbahnenden Zusammenbruch des Regimes und der öffentlichen Ordnung machten vor dem Heim Feuerbergstraße nicht Halt. Die Heimleiterin berichtete, dass „in den letzten Kriegswochen und in den ersten Wochen nach dem Umbruch eine schwere Beunruhigung und eine große Unsicherheit“ zu verzeichnen waren. Die Bereitwilligkeit zur Mitarbeit war einer, die Ordnung gefährdenden Aufbruchsstimmung gewichen: Bei einem Teil der Mädchen habe sich eine „Sensationslüsternheit“ breit gemacht, bei den meisten auch der Wunsch, nach Hause zurückzukehren „und dabei [zu] sein, wenn etwas los ist.“{184}
Am Abend des 3. Mai 1945 war es so weit. Der für Hamburg zuständige, militärische Führer und Gauleiter, Kaufmann, hatte entschieden, Hamburg kampflos an das britische Militär zu übergeben. Am 4. Mai und in den darauffolgenden Tagen wurden die Nazi-Führer verhaftet.{185}
Die Stadt befand sich in einem katastrophalen Zustand. 213 Fliegerangriffe waren im Krieg geflogen worden. 702 Mal verkrochen sich die Hamburger nach einem Fliegeralarm in Kellern und Bunkern.{186} Die Bombardements töteten, soweit dies überhaupt halbwegs genau feststellbar ist, 45 Tausend Menschen und hinterließen etwa 150 Tausend Verwundete. Die zweitgrößte Stadt Deutschlands mit knapp 1,7 Millionen Einwohnern im Jahr 1939 war bei Kriegsende ein Trümmerfeld, in dem etwa 1,1 Millionen Menschen hausten, nachdem durch zwischenzeitliche Evakuierungen im Jahr 1943 der niedrigste Stand bei 800 Tausend lag.{187} Fast 80% des Wohnungsbestandes des Jahres 1939 war bei Kriegsende beschädigt oder ganz zerstört. Wichtige öffentliche Einrichtungen, wie etwa Schulen und Krankenhäuser, aber auch Wirtschaftsanlagen, allem voran jene im Hafen, waren beschädigt oder vernichtet. Baudenkmäler lagen auch in Trümmern.{188} Die Gebäude des Waisenhauses auf der Uhlenhorst wurden beim Großangriff am 28. Juli 1943 schwer getroffen, darunter auch das Verwaltungsgebäude in der Averhoffstraße und das in unmittelbarer Nachbarschaft gelegene Kleinkinderhaus am Winterhuder Weg.{189} Dagegen überstand das Mädchenheim Schwanenwik das Bombardement im Sommer 1943, obwohl es sich im Zentrum der Zerstörung befand. Und auch bei den nachfolgenden Angriffen bis zum Kriegsende blieb es nahezu unbeschädigt. 43 Millionen Kubikmeter Schutt bedeckten Straßen und Grundstücke. Allein für ihre Bergung veranschlagte man damals 18 Jahre. Man hoffte aber, die Trümmer mit erhöhten Anstrengungen bereits in zehn Jahren beseitigen zu können.{190} Die Versorgung der Bevölkerung war prekär und stellte die britische Militärregierung vor große Herausforderungen.
Neuanfang? Zurück in die 1920er
Das nationalsozialistische Regime war beendet. Doch wie mit der Schreckensherrschaft umgehen, Täter identifizieren und verfolgen und Opfer entschädigen und rehabilitieren, wenn doch die Mehrheit der Bevölkerung Mittäter oder „Mitläufer“ waren? Wie das Chaos und Elend bewältigen? Wie einen Wiederaufbau in Gang setzen?
Die Antwort auf diese Fragen musste der britische Stadtkommandant, Harry W.H. Armytage, beantworten. Um die dringendste Not zu lindern, bedurfte es einer Zivilverwaltung mit unbelasteten und kooperativen Personen. In einem ersten Schritt setzte der Stadtkommandant den 1878 geborenen Kaufmann Rudolf Petersen als Ersten Bürgermeister ein. Er war der Militärregierung unmittelbar unterstellt und hatte die Aufgabe, mit anderen Fachleuten die Zivilverwaltung zu leiten.
Petersen schien in diesem Moment für diese Position besonders geeignet, weil er aus einer traditionsreichen, gut situierten Hamburger Familie stammte und im Dritten Reich keine Position im nationalsozialistischen Regime bekleidet hatte. Er war aber kein so begabter Politiker wie sein älterer Bruder, Carl Wilhelm, der in den zwanziger Jahren und zuletzt von 1932 bis 1933 das Amt des Ersten Bürgermeisters von Hamburg innehatte. Der parteilose Rudolf war dagegen politisch unerfahren und stand der Aufgabe zunächst auch skeptisch gegenüber. Als Hamburger Unternehmer stellte er sich in die Tradition der hanseatischen Kaufleute, der Elite der Stadt seit Jahrhunderten. Für ihn hing das Wohlergehen der Stadt von der Kraft der Wirtschaft und vor allem vom Außenhandel ab. Als unbelastetes, parteiloses Mitglied der gesellschaftlichen Oberschicht der Stadt bot er sich im Mai 1945 für die Briten als Bürgermeister an. Dass er den Nationalsozialismus als einen „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte und als ein Schicksal, das über das deutsche Volk hereingebrochen sei, bezeichnete, zeigte seine politische Naivität. Es ist ihm allerdings anzurechnen, dass er sich der Aufgabe stellte und sein Amt bis zur Wahl der ersten Bürgschaft und eines neuen Senats im November 1946 ausübte.{191}
Zu den Fachleuten, die Petersen mit Billigung der Briten um sich scharte, gehörte zunächst auch Senator Oscar Martini, der seit 1920 und später auch im nationalsozialistischen Hamburg für das Wohlfahrtswesen zuständig war. Er wurde 1937 Parteimitglied der NSDAP und bekannte sich zur ausgrenzenden NS-Sozialpolitik, die auch die Euthanasie beinhaltete. Er wurde erst Ende 1945 von der britischen Militärregierung seines Amtes enthoben. Bereits am 20. Juni 1945 wurde Friedrich Ofterdinger entlassen und interniert. Er starb kurze Zeit später in der Haft. Er war im nationalsozialistischen Hamburg Generalkommissar für das Gesundheitswesen und oberster Organisator der Krankenmorde. Dagegen gab es auch neues Personal, das für die Bewältigung der Krise und einen Neuanfang erforderlich war. Zu den für die Jugendhilfe maßgeblichen Personen gehörte Heinrich Eisenbarth. Der Sozialdemokrat war bereits von 1925 bis 1933 Senator der Jugendbehörde und später zusätzlich der Sozialbehörde und wurde am 15. Mai 1945 erneut in dieses Amt berufen. Er gehörte dem Senat bis zu seinem Tod im Jahr 1950 an. Er übertrug Hermine Albers die Leitung des Landesjugendamtes. Die 1894 geborene Sozialwissenschaftlerin wurde 1928 für den Aufbau einer behördenübergreifenden Familienfürsorge in die Hamburger Sozialverwaltung berufen. Als sozialdemokratische Reformerin wurde sie 1933 aus dem öffentlichen Dienst entlassen und überstand als Wirtschaftsprüferin und Treuhänderin die Zeit bis zum Kriegsende. Sie arbeitete nicht nur in Hamburg mit großem Engagement an einem Wiederaufbau, sondern wirkte auch bundesweit am Aufbau der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und der 1949 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge“ mit. Als Mitherausgeberin der Fachzeitschrift „Unsere Jugend“ beeinflusste sie den Diskurs über die Fortentwicklung der Jugendhilfe in der Nachkriegszeit.{192}
Unmittelbar nach Kriegsende stand zunächst die Aufgabe im Vordergrund, der Not in der städtischen und gesellschaftlichen Trümmerlandschaft zu begegnen. Die Briten hatten verständlicherweise wenig Mitleid mit den Deutschen. Für ihre Verwaltung und ihre Soldaten requirierten sie Wirtschaftsgebäude und auch Wohnraum. Ihre eigene Versorgung hatte Vorrang. Sie stellten sich aber auch der Aufgabe, die Menschen in der Stadt zu versorgen, auch wenn Großbritannien selbst Not litt und zeitweise Lebensmittel rationieren musste. Die Lebensmittelversorgung war trotz aller Bemühungen zwischen 1945 und 1947 immer wieder prekär. Die täglichen Rationen lagen mit 800 Kalorien unter dem als Minimum anerkannten Wert von 1500 Kalorien. Die Briten lieferten Wellblechhütten, die auf Trümmergrundstücken aufgestellt wurden. Im bitterkalten Winter 1946/47, in dem mehrere Kältewellen von minus 20 Grad die Stadt wochenlang erstarren ließen, schafften sie Brennstoff heran, damit die Strom – und Gasversorgung zumindest für wenige Stunden am Tag aufrechterhalten werden konnte.
Für alle britischen Militärangehörigen galt mit dem Einrücken in die Stadt ein striktes Fraternisierungsverbot. Kontakte waren nur aus dienstlichem Anlass erlaubt und standen im Übrigen unter Strafe. Die Soldaten verbrachten ihre Freizeit unter sich, in extra eingerichteten britischen Clubs, Lokalen und Theatern. Das britische und das deutsche Alltagsleben verliefen strikt getrennt. Zunächst jedenfalls, denn die britischen Soldaten vermochten es offenbar nicht, sich an das Verbot zu halten.{193} Da es zu Kontakten kam, vor allem auch zwischen Soldaten und den Hamburger Mädchen und Frauen, sah sich die britische Militärführung bereits im August gezwungen, das Verbot zu lockern. Man durfte sich auf Straßen und im öffentlichen Raum unterhalten. Faktisch war es aber Sex in Grünanlagen, wie die Polizei in einem Bericht festhielt: „Die Verbrüderung schreitet fort. Allerdings scheinen ‚Schwestern‘ gefragter zu sein als ‚Brüder‘. Hierbei entstehen Auswüchse, die sowohl im Interesse der deutschen als auch der britischen Verwaltung vermieden werden müssten. Auf Anlagen – mitten in der Stadt – wo noch dazu Schilder stehen mit der Aufschrift ‚betreten verboten‘ – liegen britische Soldaten und deutsche Mädchen in mehr als zweideutigen Situationen. (…) Immerhin muß man dabei geltend machen, daß es sich in erster Linie um sehr junge Mädchen handelt oder um solche, die hoffen, irgendetwas (Schokolade, Zigaretten usw.) von den Kavalieren zu erhalten.“{194} Viele Hamburger waren über diese Verhältnisse empört, behielten es aber weitgehend für sich. Aus den Kontakten entstanden Partnerschaften und Eheschließungen, uneheliche Kinder und Infektionen mit Geschlechtskrankheiten. Bereits kurz nach Kriegsende hat es in Hamburg Prostitution gegeben, und zwar nicht nur die professionelle, sondern auch die heimliche oder „Hungerprostitution“, die als Ursache für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten angesehen wurde. Die Behörden stellten fest, dass sich durch das „Fehlen familiärer und damit sittlicher Bindungen“ und aufgrund „des sinkenden Verantwortungsbewußtseins der Erwachsenen“ zahlreiche männliche Jugendliche auf dem Schwarzmarkt betätigten und nicht zur Arbeit gingen, und junge Mädchen in die heimliche Prostitution abglitten.{195} In einem Lagebericht der Polizei vom Juli 1945 heißt es dazu. „Die Gefahr der Verbreitung venerischer Krankheiten ist (…) durch den Zustrom weiterer Personen männlichen und weiblichen Geschlechts und den inzwischen ungebundenen Verkehr der Bevölkerung mit den Besatzungstruppen zu erwarten.“{196} Sowohl die Militärpolizei als auch die Hamburger Sittenpolizei griffen Frauen aus Bars und von der Straße auf, um sie zu untersuchen. Stellten sie sich als infiziert heraus, wurden sie in ein Krankenhaus zur Behandlung eingewiesen. Ein durchschlagender Erfolg war der Aktion nicht beschieden. Das offenbar rüde Vorgehen der Polizei geriet 1946 in die Kritik und veränderte das Vorgehen. „Durch die Initiative der Gesundheitsbehörde gelang es, anstelle der Razzien einen aus weiblichen und männlichen Fürsorgekräften bestehenden neuen Streifendienst einzusetzen“, berichtete der Senat rückblickend.{197} Er hatte auf der Grundlage eines von der Bürgerschaft beschlossenen Gesetzes umfassende Befugnisse zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Neben der Zwangsbehandlung Infizierter betrieb die Behörde Aufklärung in der Öffentlichkeit, um die Unkenntnis vor Gefahren und über den eigenen Schutz zu überwinden. Die Razzien wurden im Spätherbst 1947 schließlich aufgegeben.






