Stiefelschritt und süßes Leben

- -
- 100%
- +
*
Nach dem Herbstmanöver, in den ersten Oktobertagen, kamen ein paar Neue in das AR 9, einer auch in unsere Batterie. Sie alle hatten die ersten Monate ihrer Dienstzeit bei den Grenztruppen absolviert und waren bei der Überprüfung zum eigentlichen Grenzstreifendienst als unzuverlässig eingestuft und zu den Feldtruppen versetzt worden, wo sie nun das letzte Jahr des Grundwehrdienstes vertrödeln mussten. Unser Neuer hatte einfach seinen Dienst leger und ohne Engagement ausgeführt, ja in harmlosen Gesten und Worten Unlust durchblicken lassen. Er ließ sich durch Drohungen auch nicht zu einer lustvolleren Dienstdurchführung drängen. Hierbei war allerdings auch Vorsicht geboten, denn wer in dem, was er sagte, Feindschaft gegenüber den bewaffneten Organen erkennen ließ, wurde auch als Feind behandelt. Um ihn kümmerte sich der Militärstaatsanwalt. Es war aber, wie ich bald merkte, relativ einfach, von den Grenztruppen wegzukommen.
Ernteeinsatz
Wenige Tage später begann für unsere Batterie der Ernteeinsatz; „Ernteschlacht“ hieß es im SED-Jargon. Auf den Ladeflächen unserer H5 fuhren wir in Richtung Westen, nach Bodin, zu einer alten Junkerklitsche mit verrottetem Herrenhaus, Katenreihen und zahlreichen Vorwerken. Die Gemeinde nahm fast die gesamte Fläche zwischen den mecklenburgischen Kleinstädten Gnoien und Teterow ein.
Wir wurden alle in einer Schulbaracke einquartiert. Das Dorf machte einen äußerst traurigen Eindruck, war aber erstaunlicherweise von einer Vielzahl hübscher Mädchen bevölkert, während die jungen Männer ziemlich dumpfe Typen waren. Das Dorf hatte also eine Blutauffrischung dringend nötig.
Die Feldarbeit machte wenig Mühe, wurde von uns auch nicht mit sonderlicher Vehemenz betrieben, da die Vergütung geradezu lächerlich war. Die Verpflegung war aber gut, so dass für die Abende mit den jungen Frauen viel Zeit, Kraft und Muße vorhanden war.
Ich hatte in dieser galanten Frage besonders Glück, traf in Groß Lunow, einem der vielen Vorwerke der Gemeinde, auf Gisela, die bei ihren Eltern eine Auszeit von ihrer unglücklichen Ehe im brandenburgischen Havelberg nahm und besonderer Tröstung bedurfte. Wir beide erkannten uns sofort als passende Partner, hatten jeweils geraume Zeit Abstinenz in der Liebe geübt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Gisela gehörte nicht nur zu den Hübschesten im Dorfe, sie war mit Abstand die Erfahrenste in der Liebe hier. Wir hatten zwar die NVA-Ausgehuniform bei uns, mussten sie aber nach der Feldarbeit nicht tragen, waren vielmehr in dem eher martialischen, an Arbeitskleidung erinnernden Drillich unterwegs, was unser Wohlgefühl, jedenfalls meines, erheblich steigerte.
*
Die richtig widerlichen Unteroffiziere, die man oft in Nazi- und Antikriegsfilmen sieht und die es, wie ich erfahren habe, auch in anderen NVA-Einheiten gab, hatten wir in unserer Batterie nicht. Von den drei Offizieren der Batterie waren zwei jedoch ausgesprochene Widerlinge. Der eine, der Mecklenburger Ultn. Karpow, war das geringere Problem wegen seiner Dummheit. Eine zackige Meldung unter lautem Gebrüll, ganz gleich, was man brüllte, konnte seiner Bosheit relativ leicht die Spitze nehmen. Anders der Ultn. „Mölli“, der eine pfiffige Dresdner Vorstadtpflanze war, den einige Dresdner Rekruten aus anderen Batterien, noch von früher als „Rummelplatz-Stenz“ kannten. Diesem Widerling war mein Techtelmechtel in den Heuschobern des Vorwerks Groß Lunow selbstverständlich nicht verborgen geblieben. Neid und Niedertracht veranlassten diesen Menschen, an Wochenenden und bei Dorffesten mit Vorliebe, ja eigentlich ausschließlich, mich zum Wachdienst einzuteilen. Ich musste dann mit zwei anderen im Vier-Stunden-Rhythmus das Kriegsgerät mit den Fahrzeugen und die Baracke, mit 30 Schuss in meiner Kalaschnikow, bewachen.
Ich hatte von 0.00 Uhr bis 4.00 Uhr Wachdienst. Die Oktobernacht war lau, der Wind säuselte im Laub der Bäume. In der Ferne lärmten die Zecher vorm Dorfkrug und kreischten die Mädchen.
Wer kam gegen 1.00 Uhr, als der Lärm schon etwas abgeebbt war, von Bier und Schnaps schwankend, mit einer Dörflerin im Arm, heran? Es war der Ultn. „Mölli“. Ich hatte die Kalaschnikow in der Hüfte in Anschlag, der Trageriemen spannte sich straff über der Schulter. Mölli steuerte auf den ersten unserer LKWs zu. Ich sagte laut: „Halt, wer da?!“
„Kanonier Müller, machen Sie sich aus dem Weg!“, schnauzte Mölli. „Sie sind betrunken, Genosse Unterleutnant“, sagte ich in moderatem Ton und blieb stehen. „Aus dem Weg, sag’ ich!“, geiferte Mölli mit einem Griff zur Pistolentasche. Ich hatte bei der Eskalation des Dialogs mit Mölli die Knarre schon entsichert, nun rasselte ich mit dem Ladehebel. Das wiederum ist ein so bedrohliches Geräusch, dass selbst kühne Revolutionäre schon zur Besinnung gekommen sind.
Mölli nahm sofort die Hand von der Pistole, wurde ganz klein und verhandlungsbereit, stotterte Unverständliches. Ich ging bis auf Flüsterdistanz auf ihn zu und sagte leise: „Genosse Unterleutnant, von mir aus fahren Sie los, ich will Ihnen den Abend nicht verderben, aber Sie wissen ja, Befehl ist Befehl, und ein Wachtvergehen führt schnell nach Torgelow, Sie drohen ja ständig damit.“ Sodann ging ich beiseite. Mölli und seine verängstigte Braut kletterten in das Führerhaus des H5 (Vorläufer des sowjetischen Militär-LKWs Ural); er fand mühselig das Zündschloss, dann fuhr er los.
Nach kurzer Zeit, kaum eine halbe Stunde war vergangen, da war Mölli mit dem H5 wieder da. Der Suff, oder der Schreck, den ich ihm eingejagt hatte, ließen bei ihm ein intensives Schäferstündchen wohl nicht zu. Mölli kam ängstlich auf mich zu, fragte furchtsam: „Haben Sie die Waffe schon wieder entladen? Wenn das Magazin beim Wachwechsel nicht vollzählig ist, haben wir ein Vorkommnis in der Batterie, da wird vielleicht sogar der Einsatz in Bodin abgebrochen.“ Das aber wollten wir beide nicht. Ich sagte leutselig: „Genosse Unterleutnant, ich bin doch ein Virtuose auf dieser Balalaika, hatte nicht ganz durchgezogen, als Sie zur Pistole griffen und gleich wieder losließen.“
Mölli salutierte und sprach: „Na dann ist es ja gut. Gute Nacht, und vergessen Sie’s!“ Er verschwand, kaum noch torkelnd, in seiner Barackenunterkunft.
*
Wieder auf dem Feld, ereilte uns wenige Tage später die Nachricht vom Sturz Chrustschows. Wir waren sehr erstaunt, begriffen jedoch nicht die Dramatik der Ereignisse im Kreml, hatten auch anderes zu tun. Die Mädels waren uns zugetan, und Gisela freute sich ganz besonders, als ich, mit einem Abend Unterbrechung, wieder zum Tête-à-tête in unserem vertrauten Heuschober eintraf.
Da mir Bruni, die nun schon im siebten Monat schwanger war, auf meine sehnsuchtsvollen Liebesbeteuerungen nichts Besseres mitzuteilen wusste, als dass sie sich mit einem Jugendfreund, den sie wiedergetroffen hatte, zusammengetan habe und ich sie nicht mehr besuchen solle, betrachtete ich Gisela in Groß Lunow in noch günstigerem Lichte. Sie war in meinem tristen Zwangsrekrutendasein ein strahlender Stern der Sinnlichkeit. Aber Gisela war wie alle Weiber, treibt sich mit mir 14 Tage lang in der Fremde im Heu herum, wälzt sich von einem Orgasmus in den nächsten, teilt mir Wochen auf meine Rendezvousgesuche lapidar mit, sie habe sich wieder mit ihrem Mann versöhnt.
*
Bei der NVA gab es damals 21 Tage Urlaub während der ersten 18 Monate Grundwehrdienst. Diese sollten alle sechs Monate zu je sieben Tagen genommen werden. Für brave Soldaten gab es noch jede Menge Sonderurlaube und Ausgänge über Nacht und Wochenendurlaube, jedoch immer in dieser schrecklichen Ausgehuniform. In der dritten Oktoberdekade bekam ich meinen Halbjahresurlaub von sieben Tagen.
Ich nahm am ersten Urlaubstag den Mittagszug (die anderen Urlauber waren schon am Vortag nach Dienstschluss gegen 20.00 Uhr gefahren), weil der um 22.06 Uhr in Dresden ankommen würde und ich mich dann, ungesehen von den Dresdnern, durch den Großen Garten in die Winterbergstraße schleichen konnte.
Zu Hause – sofort die Uniform vom Leibe gerissen und zivile Klamotten aus dem Schrank geholt. Das war zwar verboten, da es aber alle so taten, war es kaum zu kontrollieren und ergo auch nicht zu verfolgen.
Natürlich besuchte ich am nächsten Tag sofort Bruni auf ihrer Arbeitsstelle, wo sie die letzten Tage noch im Büro tätig war. Sie hatte aber eine Lebensentscheidung getroffen; alle meine Beteuerungen verfehlten ihre Wirkung. Ich brachte sie noch nach Hause, in das bescheidene Häuschen ihrer Eltern. Viele Frauen werden in der Schwangerschaft unförmig, anders Bruni, sie wurde immer schöner – wie eine Madonna.
Letztmalig umarmten wir uns und vergossen zwei oder drei Tränen.
Um nicht in Gruna gesehen zu werden, trieb ich mich in den nächsten fünf Tagen in der Umgebung Dresdens herum oder ging an der Peripherie der Stadt ins Kino. Vater hatte nämlich jedem, der nach mir fragte, gesagt: „Der sitzt.“ Im Knast sitzen galt bei vielen Arbeitern, von denen einige schon zwei Kriege miterlebt hatten, als ehrenvoller denn in dieser Armee zu dienen.
Am Sonntagmorgen vor 4.00 Uhr schlich ich mich wieder in meiner NVA-Uniform aus dem Haus, die Winterbergstraße entlang, durch den Großen Garten und nahm den ersten Zug in Richtung Norden. Als ich am späten Nachmittag in der Kaserne eintraf, herrschte Staunen am Kontrollpunkt; die anderen erschienen erst am nächsten Tag gegen 7.00 Uhr zum Dienstantritt.
Regimentsbibliothekar
Der trübe November war nun da, die Neuen, „Spritzer“ genannt, trafen in der Kaserne ein. Der Stumpfsinn sollte für mich noch ein ganzes Jahr währen. Ich besuchte daher oft die Regimentsbibliothek, die neben Agitationsliteratur in Sachbuch- und belletristischer Form auch eine Fülle von Klassikern, in- und ausländische Autoren in ihren Regalen stehen hatte. Ebenfalls standen Lexika und Sachbücher militärischen, naturwissenschaftlichen und künstlerischen Inhalts dort zur Einsicht und Ausleihe bereit.
Eines Tages, Anfang November, sprach mich der Politoffizier des AR 9 ebendort an: „Genosse Kanonier, ich sehe Sie oft hier, trauen Sie sich zu, die Bibliothek zu leiten?“ – „Natürlich kann ich das!“ Er griff ins Regal und holte ein Buch heraus mit dem Titel „Der Tod heißt Engelchen.“ Er fragte: „Haben Sie das gelesen?“ Ich sagte: „Ja, natürlich!“ „Es heißt: Ja, Genosse Oberstleutnant!“, verbesserte er mich. Ich hatte das Machwerk freilich nicht gelesen, aber die Verfilmung gesehen. Dann ließ er mich eine knappe Inhaltsangabe machen und sprach: „Gut, ich werde mit Ihrem Batteriechef reden, wenn der nichts dagegen hat, sind Sie ab übermorgen hier Regimentsbibliothekar!“
Die meisten Soldaten hielten es nicht für möglich, doch der Stabschef, Major Kaspar, hatte sich mit seiner unförmigen Gattin, die sonst hier Bibliothekarin war, geschlechtlich vereinigt und sie dabei geschwängert, so dass sie für die nächste Zeit pausieren musste.
Zwei Tage später schritt ich nach Frühsport und Frühstück in die Regimentsbibliothek. Hier übergab mir die Gattin des Stabschefs die Schlüssel für die Räume; ich übernahm die Leser- und die Bücherkartei sowie eine Kiste mit den geheimen Gefechts-Dienstvorschriften, die ich bei jedem Gefechtsalarm zum Führungsfahrzeug des Regiments zu tragen hatte. Deren Verwahrung und Übergabe bei Alarm war nun meine einzige militärische Aufgabe.
Vergeblich versuchte ich an der Frau des Majors die Schwangerschaft zu entdecken, musste einfach glauben, was mir gesagt worden war. Den gesegneten Leib, mit dem Bruni mein Kind unter dem Herzen trug, vermisste ich bei der Stabschefsgattin gänzlich.
Nachdem ich die Leser-Karteikästen in eine alphabetische Ordnung gebracht hatte, worüber der Vormittag vergangen war, kamen zur Mittagspause die ersten Leser, brachten Bücher zurück und wählten neue aus. Hin und wieder holte ein Leser meinen Rat ein. Nach Dienstschluss füllte sich der Raum, so dass ich richtig zu tun bekam.
Zwischendurch machte ich mich daran, die zahllosen noch nicht erfassten Bücher, die meine Vorgängerin noch nicht einmal ausgepackt hatte, und die in hohen Stapeln in einem Nebenraum lagerten, aufzunehmen und in die Bücherkartei einzutragen. Nachdem ich den Ausleihzettel in den Vorsatz geklebt hatte, ordnete ich die Bücher in die Regale ein. Es war eine angenehme und leichte Arbeit, die ich durch meine pfiffige Antwort an den Politnik ergattert hatte. Zudem interessant – viele Karten der Leserkartei gingen zurück bis ins Gründungsjahr der Schule der Kasernierten Volkspolizei in Eggesin im Jahre 1951. Auf den Karten waren Name, Geburtsdatum, Dienstgrad, Einheit und Beruf angegeben. Es erstaunte mich schon sehr, dass bei den meisten Offizieren als Bezeichnung des Berufs „ohne“ stand. Erst die jüngeren Offiziere waren angehalten worden, „Offizier der NVA“ als Berufsbezeichnung anzugeben.
Bis kurz vor Weihnachten benötigte ich, um die druckfrisch gelieferten Bücher zu erfassen und Ordnung in die Bibliothek zu bringen.
Es war Anweisung, die Hauptwerke des Marxismus-Leninismus alle zehn Jahre zu erneuern, also die Exemplare auszuwechseln. Das waren: Marx/Engels „Gesammelte Werke in 18 Bänden“ und W. I. Lenin „Werke in 24 Bänden“. Die neuen Exemplare auszupacken, hatte meine Vorgängerin mir überlassen, aber auch, die alten zu entsorgen.
Alt? Laut eingeklebter Leihzettel hatte seit 1951 noch nicht einer diese herrlichen, in blauem und braunem Leder gebundenen und mit Goldschrift versehenen Bände in der Hand gehabt, die sollten nun ins Altpapier!
Heute sind diese Bände ein Vermögen wert, mancher Bourgeois schmückte gern für viel Geld damit sein Arbeitszimmer, quasi als Trophäe. Allerdings wiegen alle 42 Bände knapp zwei Zentner; solche Lasten kann man nicht einfach mit der Feldpost nach Hause schicken.
Ich schaute aber doch in meinen Mußestunden in die Marx-Engels-Bände, besonders das Frühwerk, intensiv hinein. Hochinteressant waren vor allem Marxens Gedanken zum Krimkrieg und zur Olmützer Vereinbarung, die für den historisch Interessierten eine wahre Fundgrube darstellten.
Die alten Bände wanderten ins Altpapier, und die neue Ausgabe von 1962 stand in den Regalen; ich verwaltete nun tatsächlich eine ordentliche Bücherei.
Nach wie vor aber sah ich meinen Dienst bei der NVA als Strafe des Schicksals an. Vor Weihnachten fragte mich der Spieß, ob ich über die Feiertage oder über den Jahreswechsel in Urlaub fahren wolle. „Ich fahre nicht in Urlaub!“, entgegnete ich.
Irgendwann hat der Spieß das wohl dem Batteriechef erzählt, und der sprach mich eines Tages unter vier Augen darauf an. Ich muss nochmal erwähnen, dass von den drei Offizieren der Batterie nur die beiden Unterleutnants Widerlinge waren; Oberleutnant Strohbusch war ein 28-jähriger, stuckiger Mann, der auf seine Art um Gerechtigkeit und Harmonie bemüht war. Er ertränkte aber die Tristesse seines Daseins oft im Alkohol, wie man sagte und wie ich nach meiner heutigen Kenntnis, wenn ich mir seine Physiognomie ins Gedächtnis rufe, auch sagen würde.
Er fragte mich nun, fast sanft, warum ich nicht mal raus wolle. Ich dachte: ‚Dem sagst du’s.‘ – „Ich schäme mich, Genosse Oberleutnant; wir sind eine alte Arbeiterfamilie, waren immer gegen’s Militär. Mein Vater erzählt jedem, der nach mir fragt, ich wäre im Knast. Da kann ich nicht einfach in Uniform aufkreuzen.“
Der Batteriechef hätte nun mit der „Armee der bewaffneten Arbeiter und Bauern“, die die NVA ja sein sollte, argumentieren können. Er sagte aber nur: „Ja, wenn das so ist, dann bleiben Sie eben da!“
Es wurde ein trauriges Weihnachten, so richtig für einen gemacht, der seine Feindschaft gegen das System schärfen will. Obendrein war es gesund: Ohne fettes Geflügel und ohne Alkohol, der für mich immer Genuss bedeutete, kein Mittel war, um Tiefpunkte zu verdrängen. Allerdings habe ich in dieser Zeit meine erste Zigarette geraucht.
An diesen Weihnachtstagen sah ich natürlich oft im Gemeinschaftsraum der Kaserne, in Traurigkeit und Vereinsamung, das DDR-Fernsehen. Die Programmgestalter aus Adlershof hatten sich am Nachmittag des Heiligabends etwas besonders Weihnachtliches ausgedacht. Man strahlte einen sowjetischen Propagandafilm aus, der die Stärke und Zerstörungskraft der Nuklearwaffen der Sowjetarmee zeigte. Hier verbrannten angepflockte Tiere in Sekundenschnelle zu Asche, und Nuklearstürme fegten ganze Landstriche mit Bäumen, Gebäuden und Fahrzeugen hinweg. Nie wieder in der Zeit des „Kalten Krieges“ zeigte man solche schrecklichen Bilder wie an diesem Weihnachten des Jahres 1964.
In den ersten Januartagen des Jahres 1965 teilte mir das Dresdner Jugendamt mit, dass Bruni am 21. Dezember 1964 mit einem Knaben niedergekommen war. Nebenbei hatte sich die NVA verpflichtet, die fälligen Alimente von 40 Mark monatlich für den wehrpflichtigen Vater des Kindes zu übernehmen.
Frühjahrsmanöver
Der Winter war noch nicht vorüber, da begann im März 1965 das große Frühjahrsmanöver. Nach dem ersten Ton des Regimentsalarms schnappte ich meine Kiste mit den geheimen Gefechts-DVs und schleppte sie zum Führungsfahrzeug des Regiments. Anschließend musste ich um eine andere Kiste bemüht sein, die Spirituosen und Kaffee enthielt, aber genauso geheimnisumwittert war.
In einem weiteren Fahrzeug der Führungsgruppe fuhr ich dann, quasi als Stabsordonnanz, durch den Militärbezirk 5 und besuchte alle Feldherrnhügel daselbst.
Besonders martialisch ging es auf dem Feldherrenhügel zu, auf dem Generaloberst Stechbarth sein Zelt hatte aufstellen lassen. Unser Regimentskommandeur, Oberstleutnant Meyer in Eggesin, ein Gott, stand hier stumm wie ein Lakai herum, durfte erst seine Meldung brüllen, wenn er gefragt wurde. Unaufgefordert huschten immer mal Kuriere durch das Zelt, trugen Papierstreifen in der Hand, auf denen zweifellos wichtige Meldungen standen.
Plötzlich brüllte der Oberkommandierende los wie Agamemnon, als der von der Weissagung des Kalchas betreffs seiner Tochter Iphigenie hörte: „Man muss sich ja regelrecht schämen als deutscher Soldat; da gehen die Amis in sechs Stunden über die eisführende Donau, und diese Lahmärsche“ – er meinte die Pioniertruppen der NVA – „brauchen fast einen ganzen Tag für die pisswarme Elbe!“ Als wolle er den Zorn seines Herrn beschwichtigen, kam ein Hauptmann an mich heran und zischte mir zu: „Sofort Tee für den Generaloberst und eine Runde Wodka für die Genossen Stabsoffiziere!“
Ich warf sofort den Teesieder an, der wohl durch einen Feldgenerator mit Strom versorgt wurde, stellte die Tasse mit Teebeutel und acht Gläser auf ein Aluminiumtablett, wie es bis zum Ende der DDR auch in den HO-Gaststätten verwendet wurde, steckte den Spirituosenausgießer auf die 500 ml fassende Wodkaflasche und wartete kurze Zeit, bis das Teewasser kochte. Dann goss ich den Tee auf, balancierte das Tablett mit Tasse und den acht Wodkagläsern auf drei Fingern der linken Hand nach oben, fasste die Wodkaflasche zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten, schritt auf den Feldherrntisch zu und riss die Wodkaflasche, wie ich es oft bei Monsieur Vernon im „Berghof Zschertnitz“ gesehen hatte, zwischen den beiden Fingern nach oben, wobei der Wodkastrahl genau ein einzelnes Glas traf und es mit abgemessenen 60 ml füllte. Spitze der Servierkunst: Nun setzte ich die Flasche nicht etwa ab, um das nächste Glas zu füllen, sondern führte die ausgestreckte Hand mit der Flasche ruckartig nach unten und führte sie gleichzeitig, wenn sich der Wodka in der Schwerelosigkeit befand und daher nicht mehr austrat, über das nächste Wodkaglas, wo die Schankprozedur aufs Neue begann.
Als alle Gläser gefüllt waren, klemmte ich die fast leere Wodkaflasche – sie enthielt einen Rest von 20 ml – zwischen die freien Mittel- und Ringfinger der linken Hand unter dem Tablett und servierte dem staunenden Feldherrn mit der nun wieder freien rechten Hand seinen Tee. Dann reichte ich das Tablett mit dem Wodka in die Runde der Stabsoffiziere. In dem Feldherrnzelt herrschte während meiner Prozedur mit der Wodkaflasche gespannte Aufmerksamkeit; solche Eleganz und Perfektion waren diese Leute in ihren Trinkstuben bisher nicht gewohnt.
*
Zum Militärbezirk 5 gehörten auch die ausschließlich von den Sowjettruppen genutzten Übungsplätze im Norden der DDR. Die Stäbe und Führungszüge der NVA-Regimenter waren jedoch mitunter dort auch präsent. Wir besuchten in der Nähe von Wittenberge einen solchen Truppenübungsplatz, wo ich ein höchst unappetitliches Erlebnis hatte, das ich, der Vollkommenheit meiner Erinnerungen halber, erzählen will, obwohl ich in meinen Kindheitserinnerungen, aus den desolaten Jahren nach dem Krieg, versprochen hatte, keine Fäkalienepisoden mehr zu Papier zu bringen. Das große Interesse an meinen Lebenserinnerungen, die ja nun zeitlich die Kindheit weit hinter sich gelassen haben, zwingt mich aber, das Folgende zu erzählen.
Die Führungsabteilung des Regiments hatte auch ein Küchenzelt für die Beköstigung des Stabes errichtet. Hier trieb ich mich herum, weil von deren Fahrzeug meine Schnapskiste und meine Person transportiert wurden. Wo gekocht und gegessen wird, müssen auch die durch die Verdauung entstehenden, mit Kolibakterien versetzten Stoffwechselprodukte möglichst hygienisch ausgeschieden werden.
Das geschah auf deutschen Truppenübungsplätzen und in Feldstellungen des Heeres auf zu diesem Zweck errichteten Latrinen, deren Aufstellung und Betrieb in der Dienstvorschrift DVA052/1/005 genauestens geregelt war. In diesen Einrichtungen, manche sogar überdacht, hatte, wenn schon nicht Häuslichkeit, so doch Hygiene zu herrschen, um die Gefahren des Krieges nicht auch noch durch Sepsis zu erhöhen. Im Trommelfeuer und beim Sturmangriff beherrschen viele Soldaten ihren Schließmuskel nicht mehr, so dass bei Verletzungen, die im Kampf ja nicht ausbleiben, leicht Darminhalt aus dem Hoseninneren in offene Wunden gelangen kann, was Feldärzten und Armeeführung schon seit Generationen große Sorgen bereitete. Deshalb war der Latrinengang vor dem Kampfeinsatz obligatorisch im deutschen Kriegswesen.
Russische Kriegsführung, überhaupt russisches oder sowjetisches Militär, kennt solche Vorsorge um das Menschenmaterial nicht. Latrinen im oben beschriebenen Sinne gab es hier also nicht, aber eines ihrer Scheißhäuser stand einsam im Walde.
Ich musste nun dringend dorthin. Das einsame Haus, eigentlich nur eine Laube, hatte die Tür nur angelehnt, hatte auch keine Verriegelung. Im Innern befand sich ein Loch, das in einem ungehobelten Bretterboden war. Da viele der sowjetischen Genossen das Loch mit ihren Ausscheidungen nicht getroffen hatten, war die Umgebung des Loches, eigentlich die gesamte Hütte, mit Kot beschmiert, in den ich mit meinem Kampfstiefel, im Jargon „Knobelbecher“ genannt, nicht hineintreten wollte. Ich entdeckte aber an der Innenseite der Tür eine Lederschlaufe, die ich als Haltegriff ansah. Also, Kampfanzug runter, mit den Stiefeln auf die Türschwelle getreten, den Haltegriff erfasst und den bloßen Hintern langsam in die Nähe des Loches gesenkt.
Die Lederschlaufe war aber nur zum Ausbalancieren beim Stuhlgang gedacht. Als die Schlaufe nun mein ganzes Körpergewicht zu tragen hatte, riss sie aus der Befestigung und ich krachte mit dem nackten Hintern in die Scheiße.
Ich hangelte mich wieder nach oben, hatte zum Glück eine ganze Rolle Toilettenpapier bei mir, mit der ich mir nun um den beschmutzten Unterleib quasi eine Toilettenpapierunterhose wickelte. Nun Kampfanzug wieder hoch, ins Küchenzelt gegangen und dem Koch mein Malheur erzählt. Der Koch stellte mir eine Schüssel mit heißem Wasser in das Zelt, in der ich mich nun, mittlerweile splitternackt ausgezogen, mit einem Stapel Küchenhandtücher säuberte. Ich bemerkte noch, als ich frisch gewaschen das schmutzige Wasser in den Wald kippte, wie der Koch ungerührt die dreckigen Handtücher in den Wäschesack warf.
Im Verteidigungsministerium
Ende April 1965, das zweite Halbjahr des Grundwehrdienstes war fast herum, mahnte mich der Spieß, ich solle meinen Urlaub einreichen.
Mein Batteriechef und ich kamen aber zu der Übereinkunft, dass ich die sieben Tage Urlaub, die nun für mich anstanden, an meinen Resturlaub vor der Entlassung anhängen könne. Dieser Geniestreich machte mich zum Zeugen eines welthistorischen Ereignisses. Ein oder zwei Tage später, es müsste der 21. oder 22. April gewesen sein, bekam ich einen Marschbefehl nach Strausberg. zum Ministerium für Verteidigung der DDR; sollte mich dort bei einem Hauptmann so und so melden.





