Stiefelschritt und süßes Leben

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Als ich in Strausberg ankam, stellte sich heraus, dass der Hauptmann so und so für die Ausrichtung von Empfängen und Feierlichkeiten in den Gebäuden des Ministeriums und den umliegenden Gästehäusern zuständig war. Ich sollte, mit drei weiteren Abkommandierten, die alle als Berufsbezeichnung „Kellner“ angegeben hatten, als Ordonnanz bei einer Reihe von Staatsempfängen und Feierlichkeiten mitwirken, deren Durchführung bis zum 8. Mai 1965, dem 20. Jahrestag der Befreiung, geplant war.
Zuerst trieb der Hauptmann zur Eile. Wir wurden in einer Baracke in der Nähe jenes stalinistischen Kulturhauses, das an eine Akropolis erinnern sollte, einquartiert. Dann verkündete der Hauptmann, dass in wenigen Tagen eine hochrangige indonesische Militärdelegation eintrifft, zu deren Bedienung wir vorrangig eingeteilt wären. Dazu wurden als Erstes aus einem auf dem Ministeriumsgelände befindlichen Magazin Konserven, Getränke, aber auch Geschirrteile in die Fest- und Tagungsräume transportiert.
Es war das Jahr 1965, in der DDR-Provinz herrschte noch das Kundenkartensystem. Das Magazin war auch keineswegs überfüllt, viele Regale standen halbleer. Ich bemerkte, wie sich die anderen Abkommandierten die eine oder andere Dose Ananas oder Ölsardinen in die Taschen steckten, was damals ausgesprochene Delikatessen waren. Der Hauptmann schien das aber geflissentlich zu übersehen.
Ich entdeckte zwei Flaschen Beaujolais in einem ansonsten völlig leeren Regal. Beaujolais rangierte damals, noch vor sowjetischem Sekt, als höchste Delikatesse. Mich erinnerte er an genussvolle Abende mit Bruni, aber auch an das Weinstädtchen Clochemerle mit seinen sympathischen Bewohnern, die ich allerdings nur aus dem bekannten Roman von Gabriel Chevalier kannte, und das ich, da es auf NATO-Gebiet stand, nach dem Willen der Armeeführung zu gegebener Zeit, bei der „Vernichtung des Aggressors auf seinem eigenen Territorium“, mit meiner Haubitze zerdeppern sollte.
Die beiden einsamen Flaschen standen in Griffhöhe; ich würgte also eine davon in meine Hosentasche. Das ließ der Hauptmann jedoch nicht durchgehen, befahl mir, die Rotweinflasche sofort wieder ins Regal zu stellen. In versöhnlichem Tone erläuterte er, das seien die beiden letzten, denn die Franzosen lieferten nicht mehr; nun seien sie ausschließlich für den Genossen Walter Ulbricht reserviert, wenn der zur Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates im Ministerium erscheine.
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Dann erschien der indonesische Luftmarschall mit großem Gefolge, wurde mit allem militärischen Brimborium empfangen: mit Ehrenkompanie, Salutschüssen und lärmendem Militärorchester. Er war ein mickriges kleines Kerlchen in einer exotischen Phantasieuniform, seine Begleitung war nicht anders.
Die Feierlichkeiten anlässlich des hohen Besuches, bei denen auch einige sowjetische Generäle zugegen waren, verlief wie gewöhnlich. Ansprachen wurden gehalten, wobei der Luftmarschall, über seinen Dolmetscher, bittere Klage über die imperialistischen Kolonialherren führte, die ihm auf der Militärakademie nur Englisch, kein Deutsch beigebracht hätten. Natürlich wurde die antiimperialistische Solidarität beschworen.
Das Blabla ging noch eine Weile, dann hob ein Besäufnis an, das den leichtgewichtigen Asiaten nicht gut bekommen sollte.
Hier kommt bei mir wieder der Mathematiker durch, eigentlich nur der Grundschüler, der das Einmaleins gepaukt hat: Wenn sich ein großer, dicker russischer General von 125 Kilogramm Lebendgewicht 100 Gramm („sto gramm“) Wodka von 45 Volumenprozent hinter die Binde kippt, hat er gerade mal 0,36 Promille intus, wenn hingegen der winzige Indonesier, mit gerade mal 88 Pfund, die gleiche Menge Wodka konsumiert, ist er mit 1,02 Promille schon längst fahruntüchtig. In diesem Verhältnis befand sich auch der Trunkenheitsgrad der Teilnehmer dieser antiimperialistischen Veranstaltung, zumal bei Toasts in Militärkreisen immer ausgetrunken werden muss. Wir vier Abkommandierten schenkten wahrlich immer fleißig ein.
Am nächsten Tag setzte sich das Treffen der Militärs erst am frühen Nachmittag fort; der Alkohol wollte und wollte aus den Körpern der Indonesier nicht weichen. Nach der Mittagstafel zog sich die Generalität – Armeegeneral Heinz Hoffmann war jetzt mit dabei – in die Tagungsräume zurück, zu denen wir Ordonnanz-Kräfte keinen Zutritt hatten.
Nach dem Abendessen, das wir in der Art eines russischen Buffets auf der U-förmigen Tafel angerichtet hatten, wollten die Gäste abreisen. Über seinen Dolmetscher beklagte sich der Luftmarschall über die Unzuverlässigkeit der westlichen Flugzeugtechnik, die bislang in seinen Hangars steht; von diesen Jets fielen ihm jedes Jahr mehrere vom Himmel. Der Landsknechttyp Stechbarth brüllte über die Tafel: „Das passiert bei uns auch, dafür sind wir ja Soldaten!“
Die Gäste erhoben sich, machten in strammer Haltung noch einige nichtssagende Bemerkungen über die Freundschaft und die antiimperialistische Solidarität und entfleuchten in ihr fernes Inselreich.
Danach eilte unser Hauptmann auf uns zu und sagte, noch bevor wir die Tafel ordnen konnten: „Jetzt für jeden Wodka, nur General Riedel und Stechbarth trinken Kognak!“
Die Sauferei hob wieder an, und die Zungen der hochrangigen Militärs lösten sich. Nach einem kräftigen Schluck Wodka meinte Hoffmann gewichtig: „Wenn jetzt dieses große Land auch noch auf unsere Seite tritt, sieht es weltpolitisch ganz anders aus!“
Ich dachte mir, dieser Barnabas mit seinem jämmerlichen Heer hat weltpolitische Tagträume.
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Ich muss hier zeitlich einen fünfmonatigen Sprung nach vorn machen. In der ersten Septemberwoche 1965 las ich im „ND“ vom Untung-Putsch in Indonesien und dessen blutiger Niederschlagung, bei der fast alle indonesischen Kommunisten ausgerottet wurden und die Suharto an die Macht brachte. Die Brutalität dieser Niederschlagung hatte amerikanische Filmemacher zu einem vielbeachteten filmischen Meisterwerk inspiriert.
Nun hörte ich die Bemerkung von Hoffmann mit anderen Ohren. Sollten diese Leute in Strausberg den Putschversuch ausgeheckt haben? Ich habe später in der Universitätsbibliothek in Rostock, wo das „Neue Deutschland“ fein säuberlich archiviert war, die Ausgaben von April und Mai 1965 nach einem Pressehinweis auf diesen Militärbesuch durchforstet. Ich fand aber nichts. Der Luftmarschall und die anderen Verschwörer waren demnach nicht in offizieller Mission in der DDR, denn sonst hätte die SED-Presse garantiert damit geprahlt. Immerhin war 1965 tiefste Hallstein-Doktrin-Ära.
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Doch wieder zurück nach Strausberg.
Es folgten das Festbankett zum erfolgreichen Abschluss der 1.-Mai-Parade und die Feiern zum Tag der Befreiung am 8. Mai, der im Jahre 1965 zum 20. Mal und auch letztmalig als offizieller Feiertag begangen werden sollte. (Durch die geplante Einführung der Fünftagewoche mit 43 dreiviertel Stunden Arbeitszeit wurden vier Feiertage gestrichen: der 8. Mai, Himmelfahrt, Ostermontag sowie Buß- und Bettag.)
Bei den obigen Festlichkeiten wurde natürlich wieder kräftig gesoffen. Wir Abkommandierten hatten zu tun, nahmen auch selbst so manchen Schluck aus der Pulle.
Bei der Sauferei der Generalität war Hoffmann nicht unbedingt der trinkfreudigste, er saß lieber auf seinem Stuhl und ließ sich von seinen devoten Generälen mit Trinksprüchen und Toasten feiern. Dieser Mann, der auch schon mal vom „gerechten Atomkrieg“ faselte, hatte ein bewegtes Leben hinter sich; war Rot-Front-Kämpfer gewesen, hatte am Spanienkrieg teilgenommen, ebenso am Fronteinsatz bei der Sowjetarmee, und war nun Armeechef der NVA. Die servilen Generäle und Obristen förderten alle naselang eine Heldentat aus dem Leben ihres Chefs zutage, auf die ein Glas geleert werden musste.
Da die Teilnehmer alle der europiden Rasse angehörten, die seit der Bronzezeit, vor 5.000 Jahren, an Alkohol gewöhnt, Alkoholverträglichkeitsgene in sich trägt, alle über 1,70 Meter maßen und wenigstens 75 Kilo wogen, blieben Volltrunkenheitszusammenbrüche, trotz der maßlosen Sauferei, aus. Ich erinnere mich noch eines alten weißhaarigen Obersten, der, aufrecht stehend, zu mir sagte: „Was ist denn das hier für eine Sauferei, die sitzen ja alle wie die Zivilisten in ihren Kneipen, damit sie nicht so weit fallen müssen, hä, hä, hä. Ein Soldat hat beim Saufen zu stehen, klar!“
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Es gab aber nicht nur Alkohol im Ministerium, es liefen auch viele ansehnliche weibliche Wesen in den Gebäuden herum; Sekretärinnen, Köchinnen und Serviererinnen für die Kantine. In der kalten Küche des Kantinentraktes hantierte ein besonders strammes und ansehnliches junges Weib von Anfang zwanzig. Anfangs tat sie unnahbar, dann gewährte sie Einblick in ihr Dekolleté mittels eines betont leger geschlossenen Kittels, bald schubste sie mich mit ihren herrlich weiblichen Hüften. Wen wundert’s, dass ich mich bei jeder Gelegenheit in der Küche herumtrieb und versuchte, mich dort nützlich zu machen. Als ich einmal für sie ein größeres Gefäß mit beiden Händen von einem hochgelegenen Bord herunterhob, schob sie mir zärtlich einen Oberschenkel in den Schritt. Ich hätte fast das Gurkenglas fallengelassen.
Jetzt war ich außer Rand und Band, wollte sie umarmen. Sie wehrte mich ab, sagte: „Jetzt nicht, ich habe zu arbeiten, komm doch heute Abend zu mir!“ Und sie nannte die Adresse.
Das kesse Weib wohnte in einem schrecklich tristen Plattenbau, gleich hinter der „Akropolis“; sie war die Tochter eines Oberstleutnants, wie ich am Türschild ersah. Dieser Baustil hat sich bei mir sonst immer negativ auf die Erotik ausgewirkt, das hier war aber eine Ausnahmesituation.
Ich läutete, sie öffnete in einem Bademantel. Als ich in die Wohnung trat, ließ das Götterweib ihren Bademantel fallen und stand nur mit Pantoffeln, Strümpfen und Strapsen bekleidet vor mir.
Ich muss einfügen, in der DDR der sechziger Jahre war das Angebot an Damenunterwäsche sehr hausbacken; der Begriff „Reizwäsche“ galt als westlich-dekadent. Die Frauen sollten ja in der Produktion arbeiten und nicht die Kerle verrückt machen.
Der hauptsächliche Zweck der Damenunterwäsche war die Gesund- und Warmhaltung der Produktionsarbeiterinnen, um deren Krankenstand wegen Unterleibserkrankungen zu senken. In den zugigen Werkhallen der VEBs und auf den Turmdrehkränen der Werft- und der Bauindustrie, wo Frauen ob ihrer Sensibilität bei der Handhabung technischer Geräte gern eingesetzt wurden, wären Strapse höchst hinderlich gewesen. Dort waren dicke, wollene Schlüpfer gefordert, die im Volksmund auch „Liebestöter“ hießen. Normale DDR-Bürger machten sich daher mit Gesten, Blicken, Worten und Zärtlichkeiten scharf, um dann beim Liebesakt alle Klamotten weit von sich zu werfen.
Nachdem ich mich einige Sekunden an diesem reizvollen Anblick geweidet hatte – inzwischen schmiss ich schon die Klamotten von mir –, schritt meine Nymphe voran ins Wohnzimmer, das mit einem großen, dicken Teppich, gewiss sowjetischer Provenienz, ausgelegt war. Die Strapse waren nur an einem ganz schmalen Gürtel befestigt und ließen, trotz dieser Andeutung von Bekleidung, das ganze göttliche Gesäß frei. Dieses Kleidungsstück, das todsicher aus westlicher Produktion stammte, war gewiss von den knappen Währungsreserven der DDR importiert worden.
Mitten in dem Wohnzimmer, das im Übrigen wie bei Hans und Franz eingerichtet war, bückte sich meine Nymphe tief nach vorn, tat so, als wolle sie einen Fussel beseitigen. Meine erzwungene Abstinenz in der Liebe (eigentlich eine Menschenrechtsverletzung, für deren Anprangerung die West-Linken jedoch nicht den Schneid aufbrachten) ließ kaum ein intensives Liebesspiel zu; wir stürzten ineinander, und ich kann sagen, dass ich die Welt draußen und meine traurige Lage als Zwangsrekrutierter völlig vergaß.
Irgendwann trat aber dann doch Erschöpfung ein. Da drehte mich das Prachtweib, das nicht nur scharf, sondern auch kräftig war, auf den Rücken und machte sich mit dem Mund über mein ermattetes Eumel her, den Hintern meinem Gesicht zugewandt. Das Panorama, das sich mir bot – ich war damals noch nicht Brillenträger – und ihre oralen Bemühungen verfehlten ihre Wirkung denn auch nicht. Als sich dieses Prachtweib im Reitersitz auf das Werk ihrer Bemühungen setzte und laut stöhnend mir die Arbeit des Liebeswerkes abnahm, kam mir erstmals der Gedanke, dass ich es nicht nur mit einem Naturtalent der Erotik, sondern mit einer Professionellen zu tun habe.
Wenige Tage später musste ich wieder zurück nach Eggesin, ins AR 9. Der Hauptmann, dem mein Techtelmechtel mit der Kaltmamsell nicht verborgen geblieben war, sagte mir beim Abschied aus Strausberg noch, entweder als Warnung oder als Trost: „Die Kaltmamsell geht an manchen Abenden bei der Generalität reihum, manchmal auch bei den sowjetischen Genossen.“
Also doch eine Professionelle, dachte ich, war aber wiederum stolz, dass dieses Prachtweib es mit mir aus freien Stücken und umsonst gemacht hatte.
Letzter Sommer bei der NVA
Es war nun Mitte Mai 1965; wenn ich die 14 Tage Resturlaub abzog, hatte ich noch fünf Monate bei der NVA vor mir. Es war für mich Zeit, mir über mein weiteres Leben Gedanken zu machen. Mein Lotterleben als Aushilfskellner, das mich zwar ordentlich ernährt, Liquiditätsanhäufung ermöglicht und keineswegs gelangweilt hatte, war aber nichts auf die Dauer. Mein alter Seefahrts-Wunsch lebte wieder auf. ‚Vielleicht nehmen sie mich jetzt‘, dachte ich. Seefahrt: die Welt kennenlernen, sich den Wind um die Nase wehen lassen und die Wahl haben, ob man sich das DDR-System überhaupt weiter gefallen lassen will, oder besser nicht.
Ich schrieb also erneut eine Bewerbung an die DSR-Direktion nach Rostock und erhielt nach kurzer Zeit die Bewerbungsformulare zugeschickt, mit der Aufforderung, zusätzlich von meinen militärischen Vorgesetzten eine Beurteilung beizubringen.
Mein Batteriechef Oltn. Strohbusch schrieb mir eine glänzende Beurteilung, die mir fast die Schamröte ins Gesicht trieb, da er es ja wider besseres Wissen tat. Irgendwann im Juni reiste ich mit einem Unteroffizier aus einer anderen Batterie des AR 9, der drei Jahre NVA hinter sich gebracht hatte und der nach seiner Entlassung im Oktober 1965 ebenfalls zur DSR wollte, nach Rostock zu einem Bewerbungsgespräch, das damals Kadergespräch hieß.
Es war ein brütend heißer Tag, als wir beide mit dem Bummelzug über Torgelow und Stralsund nach Rostock fuhren und vom Bahnhof zu Fuß in das mir bereits bekannte DSR-Gebäude in die Lange Straße gingen. Das Gespräch mit den Reedereibonzen ließ sich sehr hoffnungsvoll an. Die DSR brauchte ständig Leute; die DSR-Flotte war für die DDR ein kräftiger Devisenbringer und wuchs daher ständig, durch Neubau auf den eigenen Werften, aber auch durch günstige Zukäufe im Ausland.
Eine feste Zusage wurde damals nicht gegeben. Wir fuhren jedoch frohgemut wieder durch den heißen Junitag zurück nach Eggesin.
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Der Juli begann, und ich musste mit meiner DV-Kiste an einer Stabsübung teilnehmen, wobei das Regiment in der Kaserne blieb. Die DV-Kiste wechselte wieder in das Führungsfahrzeug, während ich nun wieder die Schnapskiste zu verwalten hatte.
Die Geheimkiste musste einige Wichtigkeit haben, denn bei meiner Abwesenheit oder Abkommandierung musste ich den Bibliotheksschlüssel beim Offizier vom Dienst des Regiments (OvD) abgeben, der dann bei Alarm seinen Gehilfen (GOvD) mit dem Schlüssel losschickte, die Kiste zu holen. Warum sie nicht gleich im Stabsgelände untergebracht wurde, bleibt eine offene Frage.
Die Fahrt ging diesmal in die Gegend südlich von Berlin, eventuell auf den sowjetischen Übungsplatz bei Jüterbog, bin mir aber nicht ganz sicher. Auf alle Fälle stand unser Küchenzelt bald am Fuße eines aufgeworfenen riesigen Feldherrenhügels. Es war brütend heiß.
Plötzlich stand am Zelteingang ein mickriger Sowjetsoldat und bettelte mich an: „Kamerad, woda, woda.“ Das heißt „Wasser“; er kann aber auch „Wodka“ gesagt haben. Bevor ich aus meiner Kiste eine Flasche Mineralwasser holen konnte, war ein russischer Offizier herangekommen und trieb unter Gebrüll, mit Faustschlägen und Fußtritten die arme Kreatur davon. Ich sah nicht nur seine bösen Augen, roch auch seine Schnapsfahne; in der Kühle des Zeltes feierten nämlich er und seine deutschen Genossen gerade einen Manöversieg über irgendwen.
Diese „russische Barbarei“, für deren Abwehr der alte Bebel sogar „auf seine alten Tage noch die Flinte auf den Buckel nehmen“ wollte, wie er 1913, kurz vor seinem Tode, im Reichstag sagte, hatten wir nun, durch den Naziwahnsinn (an dem die Siegermächte von Versailles auch nicht ganz unschuldig sind) im Lande, sollten als ihre Verbündeten dieses System in die Welt tragen.
Heute, nach dem Ende der Sowjetunion ist es für Interessierte leicht, Informationen über das menschenverachtende russisch-sowjetische Militärwesen und deren Kriegführung aus Medien oder aus speziellen Sachbüchern zu erhalten. Die Stiftung „Memorial“ ist sehr rührig, und die „Russischen Soldatenmütter“ zeigen immer wieder auf, dass sich beim russischen Militär nicht viel geändert hat. Zu DDR-Zeiten musste ein Interessierter allerdings echtes Interesse zeigen, wollte er die Lebensumstände der Sowjetsoldaten in ihren verschlossenen Kasernen wahrnehmen – NVA-Soldaten hatten es in dieser Hinsicht etwas leichter.
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Kaum war ich von diesem Ausflug in die südliche Mark, die „Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ wieder zurück in der Eggesiner Kaserne, da hielt ich auch schon das Ablehnungsschreiben der DSR in Händen. Sie hatten sich also nicht von Oberleutnant Strohbuschs Schreiben täuschen lassen, hatten mich endgültig als unsicheren Kantonisten eingestuft. Am 1. August kam die Gattin des Stabschefs aus der Schwangerschaftspause zurück, meine Bibliotheksepisode war damit auch zu Ende, und es lagen immer noch zehn Wochen bis zur Entlassung vor mir.
Bisher hatte ich mir keine Disziplinarverstöße im militärischen Sinne erlaubt. Abneigung oder Feindschaft durch Rüpeleien auch noch anzuzeigen, hielt ich für taktisch unklug, war bisher auch noch nicht bei „Vater Philipp“, wie der Arrest im Kasernenjargon heißt.
Jetzt, kurz vor der Entlassung, wurde mein Widerwille so stark, dass ich mir einige Missbilligungen, die vor angetretener Batterie ausgesprochen wurden, einhandelte. Ich durfte natürlich nicht übertreiben, denn ein Strafarrest in der Militärstrafanstalt Torgelow hieß, die Haftzeit musste nachgedient werden.
1965 begann der Ernteeinsatz unseres Regiments ziemlich früh. Ich glaube, es war erst Mitte August, als unsere Abteilung (drei Batterien eines Regiments) nach Löcknitz ausrückte, das in der Nähe der polnischen Grenze lag. Dort sollte in einer riesigen Betonhalle feuchtes Getreide umgeschaufelt werden, auf, dass es trockne. Das Getreide stank bereits. Dennoch war die Arbeit sehr staubig. Das Schlimmste aber war, es gab im Umfeld dieses Getreidespeichers keine Frauen.
Ich hatte mir aber das Rauchen angewöhnt, fand es so schön unmilitärisch leger, mit der Zigarette im Mund zu palavern, mit den Stiefelabsätzen auf der Erde zu scharren und einen schlenkernden Gang anzunehmen.
Einmal stand ich mit der Zigarette in der herunterhängenden Hand im Glied, als ein Hauptmann aus der Nachbarbatterie seine Befehlsausgabe schnarren wollte. Er bemerkte den Zigarettenqualm, der sich an meiner Hüfte kräuselte und brüllte: „Mensch, Genosse Kanonier, sind Sie denn verrückt! Qualmen im Glied, wenn ein ausgewachsener Hauptmann vor der Front steht!“ Er stand nur wenige Meter vor mir. Ich sagte in moderatem Ton: „Genosse Hauptmann, Sie sind nicht ausgewachsen, Sie haben bloß ein bissel ’ne schlechte Haltung.“
Der Trottel, der sich schon mal beim Politunterricht gebrüstet hatte, bei der NVA die 6. und die 7. Klasse nachgeholt zu haben, begriff meine Worte gar nicht, obwohl mehrere Soldaten feixten. Er wollte schon wegen meiner Zigarette weiterbrüllen. Da trat der Politoffizier des Regiments, jener Oberstleutnant, der mir den Bibliotheksposten verschafft hatte und der meine Worte mitgehört hatte, vor die Front und sprach: „Batterie, stillgestanden! Ich bestrafe den Kanonier Müller mit 20 Tagen verschärftem Arrest, wegen groben, unmilitärischen Verhaltens und Beleidigung eines Vorgesetzten!“
Im Knast mit Lenin
Stehenden Fußes wurde ich vom GUvD, der in voller Kampfausrüstung war, und einem ebenfalls bewaffneten Fahrer zurück in die Eggesiner Arrestanstalt gebracht. Arrest bei der NVA hieß, eine Zelle von 4 × 1,5 Meter, eine Holzpritsche ohne Matratze, die am Tag hochgeklappt und angeschlossen war, ein vergitterter Fensterschlitz kurz unter der Decke und brennende Glühlampe über Nacht; für die Mahlzeiten ein winziger Tisch und ein ungepolsterter Hocker. Es war stinkend langweilig.
Ich tigerte daher in meiner Vier-Meter-Zelle herum, wobei der Lärm meiner Stiefeltritte der Wachmannschaft auf die Nerven ging. Mit Gebrüll wollten sie mich zum Innehalten bewegen. Die zuständige DV gab aber keinen Anhaltspunkt, das durchzusetzen.
In meiner Zelle hing ein Zettel mit der Anstaltsordnung aus, und ich erfuhr, dass dem Arrestanten das staatsbürgerliche und politische Selbststudium ermöglicht werden sollte. Ich dachte: Jetzt nimmst du dir Lenin vor!
Mein diesbezüglicher Antrag an den Anstaltsleiter wurde mit einem ungläubigen Stirnrunzeln bedacht. Als ich aber auf den entsprechenden Punkt in der Arrestordnung verwies, glättete sich seine Stirn. Er meinte: „Aber keinen Unfug damit anstellen!“ Er dachte vielleicht, ich will die Lenin-Bände benutzen, um besser an den vergitterten Fensterschlitz heranzureichen und dort mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen. Ich sagte: „Ich möchte die Bände 1 bis 6 aus der Gesamtausgabe der Werke W. I. Lenins, sie stehen in der obersten Reihe an der Westwand des Eingangsraumes der Regimentsbibliothek des AR 9 und sind in braunem Leder eingebunden. Sind leicht zu finden, wiegen aber ungefähr 30 Pfund.“ – „So schwer? Die holen Sie sich selber!“, sagte der Anstaltsleiter und befahl einem herumstehenden Soldaten: „Genosse Gefreiter, Sie eskortieren den Arrestanten auf dem Weg in die Bücherei, lassen Sie ihn aber die Bücher selber schleppen, Sie nehmen mir als Posten nicht die Hand von der Waffe!“
So wurde ich also in die Regimentsbibliothek geführt. Sechs Lenin-Bände wiegen tatsächlich 30 Pfund, also 15 Kilogramm; ich nahm deshalb nur die ersten beiden mit und wiederholte so alle zwei Tage meinen Spaziergang über das Gelände der halben Division. Manchmal war ich mit interessanten Leuten unterwegs, denn die Posten in der Arrestanstalt wechselten alle paar Tage; sie kamen aus der gesamten Division zwischen Ueckermünde und Prenzlau und waren Wehrpflichtige wie ich.
Lenin war ein scharfer Pamphletist, hielt sich kaum mit volkswirtschaftlichem Zahlenwerk auf wie etwa Karl Marx (allein das „Kapital“ macht fast ein Viertel seines Werkes aus). Lenin zerschmetterte mit Worten seine Gegner; er liest sich daher abwechslungsreicher als Marx. Seine Artikel und Pamphlete über einzelne Begebenheiten seiner Zeit (Gedanken zum Russisch-Japanischen Krieg, der imperialistischen Politik des Deutschen Kaiserreiches, der Zimmerwalder Konferenz) sind interessant und die Gedanken Lenins zur Lage der russischen Bauern beeindruckend. Zu einer tieferen Erkenntnis oder gar einer Überzeugung von der kommunistischen Ideologie leninistischer Prägung fand ich hingegen nicht angesichts des daraus hervorgegangenen Sowjetsystems.
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Nach meiner Entlassung aus der Arrestanstalt und vor dem Beginn meines Resturlaubs, den ich nun herbeisehnte, da er quasi mit meinem Weggang von der Armee identisch sein würde, trat ein Ereignis ein, das mich, wenngleich es völlig unbedeutend war, noch heute tief beschämt. Es fand eine sogenannte „Volkswahl“ zur „Volkskammer“ statt.
Gemäß Ulbrichts Devise, die dieser gleich nach seiner Einsetzung als sowjetischer Satrap in der Sowjetzone im Juni 1945 herausgegeben hatte: „Es soll demokratisch aussehen, aber wir müssen immer alles in der Hand behalten“, wurden diese „Wahlen“ mit Einheitslisten durchgeführt. Sie hießen später auch im Parteijargon „Stimmabgabe“.
Ich erinnere mich, als 18-jähriger „Jungwähler“ 1959 einmal einen Stimmzettel in eine dieser Urnen geworfen zu haben. Nach dem Mauerbau allerdings habe ich mich an „Wahltagen“ immer verdrückt, war einfach nicht aufzufinden, wenn die „Wahlschlepper“ die säumigen Stimmabgeber von daheim abholten.





