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»Schon so früh bei der Arbeit«, sagte er anstelle einer Begrüßung und schaute ihr tief in die Augen. Sie drehte den Kopf zur Seite und senkte beschämt den Kopf.
»Müssen früher weg, deshalb auch früher anfangen.«
Ihm entging nicht, wie unangenehm ihr seine Anwesenheit war. Eilig tauchte sie den Schrubber in den Eimer, wrang ihn aus und wollte sich entfernen. Doch er hielt sie zurück.
»Du wirst dich doch nicht vor mir fürchten, wo wir uns schon so lange kennen.«
Er spürte ihre Verunsicherung und konnte nicht verhehlen, dass ihre Angst ihn eigentümlich erregte. Das war etwas ganz anderes wie diese Emanze. Er trat einen Schritt vor und berührte die junge Frau behutsam an der Schulter.
»Du bist so schön. Warum versteckst du deine Haare unter diesem abscheulichen Tuch?« Er strich ihr über den Kopf und wollte das Tuch entfernen. In diesem Moment erwachte die junge Frau aus ihrer Erstarrung. Sie schrie gellend auf und stieß ihn angewidert von sich. Er kam auf dem nassen Boden ins Rutschen, krallte sich an dem Geländer fest und riss es mit voller Wucht aus der Verankerung. Erstaunt ruderte er mit den Armen in der Luft, ehe er in die Tiefe stürzte. Im Fallen streifte ihn noch der Gedanke, dass er aus seinen Fehlern hätte lernen sollen. Aber dafür war es jetzt eindeutig zu spät.
Nicht Genügend
Hermann Bauer –
siebenunddreißig Dienstjahre
Als Erwin Marschall seine Klasse mit berufstätigen Abendschülern betrat, sah er ihn zunächst nur aus dem Augenwinkel. Ein Fremder, dachte er. Doch der Mann machte keine Anstalten zu gehen. »Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?«, fragte er deshalb und es klang unfreundlicher, als er beabsichtigt hatte.
»Mein Name ist Manfred Vogel. Ich bin Ihr neuer Schüler«, antwortete der Neue in provokantem Ton.
Nun stieg leichter Ärger in Marschall auf. Es war jedes Semester dasselbe. Man bekam als Klassenvorstand einen Haufen neuer Studierender, wie man Erwachsene nannte, die noch einmal die Schulbank drückten, hatte mit deren Administration einen Haufen Arbeit, teilte alles ein, so gut man konnte, und wenn man nach zwei Wochen kräftig durchatmete, weil die Anmeldefrist auf dem Papier längst vorüber war, saß ein neuer Schüler da und der gesamte Papierkram begann von vorn.
»Ich habe Sie auf keiner Liste stehen und auch keine Verständigung über Ihre Aufnahme erhalten«, teilte er Vogel mit. Er war nicht gewillt, dessen Anwesenheit ohne Weiteres hinzunehmen.
»Hier ist die Bestätigung Ihrer Chefin, Frau Professor König. Na, darf ich jetzt bleiben?«, ätzte Vogel und legte das entsprechende Papier vor.
Es war so, wie Marschall befürchtet hatte. Die Abendleiterin hatte, aus welchen Gründen auch immer, eine Ausnahme gemacht und er musste in den sauren Apfel beißen. »Kommen Sie in der Pause zum Lehrerzimmer, damit wir die Formalitäten erledigen können«, ersuchte er Vogel. »Ich heiße Sie übrigens an unserer Schule herzlich willkommen.«
*
Manfred Vogel kam nicht. Er war plötzlich verschwunden und tauchte auch den gesamten restlichen Abend nicht mehr auf. Ein Gespräch mit Ursula König ergab, dass es berücksichtigungswürdige Gründe für die späte Aufnahme gegeben hatte, von denen Marschall jedoch nichts hören wollte. Vogel war da und machte bereits die ersten Schwierigkeiten. Das genügte ihm.
An den nächsten Abenden glänzte der neue Schüler ebenfalls durch Abwesenheit. Er zeigte damit gleich zu Beginn seiner Karriere an der Abendschule, wie viel Ehrgeiz in ihm steckte. Von arbeitenden Menschen konnte man nicht verlangen, dass sie jeden Abend die Schule besuchten, und so wurden die Regeln in dieser Hinsicht nicht sehr streng gehandhabt. Man nahm an, dass jeder Studierende im eigenen Interesse so viel Zeit wie möglich für den Unterricht erübrigen würde. Leider gab es jedoch neben vielen fleißigen Abendschülern auch eine große Zahl solcher, die das Schulleben erst dann ernst nahmen, wenn sie dazu gezwungen wurden, wozu es allerdings nur äußerst selten kam.
Langsam begann Marschall, Vogel zu vergessen. Einige Zeit blieben ihm die dunklen, gewellten Haare, die Brille auf der schmalen Nase, der Vollbart und die vollen Lippen noch in Erinnerung, dann wurde der Eindruck nebulöser, ehe er schließlich ganz verschwand. Eines Abends wurde ihm jedoch sofort alles wieder ins Gedächtnis zurückgerufen. Er befand sich auf dem Weg in eine Klasse, die sich in einem entlegeneren Teil des Gebäudes befand. Der letzte Teil des Gangs war wieder einmal nicht beleuchtet. Mit einem Mal nahm er undeutlich Vogels Umrisse vor sich wahr. »Sie wollten einiges mit mir besprechen, Herr Professor«, hörte er ihn sagen.
»Jetzt geht es nicht, ich habe Unterricht«, versuchte Marschall, ihm klarzumachen. »Sie müssen schon zu einer Zeit kommen, die für solche Dinge vorgesehen ist. Besuchen Sie mich halt morgen in meiner Sprechstunde, Herr …«
»Vogel, Manfred Vogel. Sie sollten diesen Namen nicht vergessen, im Gegenteil: Eigentlich müssten Sie sich sehr gut daran erinnern.« Dann war der Besucher so plötzlich weg, wie er vor Marschall erschienen war.
Marschall dachte darüber nach, was der Mann mit der besonderen Betonung seines Namens gemeint haben könnte. Erst später, zu Hause, fiel ihm die ganze furchtbare Sache wieder ein.
Er hatte vor etlichen Jahren, damals noch in der Tagesschule am Vormittag, einen Schüler namens Willibald Vogel gehabt. Er war ein netter, liebenswerter Kerl gewesen, dem nur eins fehlte: die Begabung für Fremdsprachen. Marschall hatte ihn in Englisch unterrichtet, und es war ein ständiger Kampf gewesen. Schließlich hatten sich Vogels Schwächen als zu groß erwiesen. Die entscheidende Schularbeit für den klaglosen Aufstieg in die nächsthöhere Schulstufe hatte der damals Fünfzehnjährige nicht geschafft.
Kurze Zeit später war er ums Leben gekommen. Selbstmord, wie man Marschall mitteilte. Er wurde daraufhin in die Abendschule versetzt.
*
Erwin Marschall versuchte, sich Willibald Vogels Gesicht ins Gedächtnis zurückzurufen und es mit dem von Manfred Vogel zu vergleichen. Er hatte damals natürlich keinen Vollbart getragen wie der Abendschüler. Wenn man sich diesen Bart und die Brille aber wegdachte, blieben die charakteristische spitze Nase, die vollen Lippen, wobei sich die Oberlippe immer wieder ein wenig hinter der Unterlippe versteckte, und die schmalen, aber wachen Augen. Es handelte sich praktisch um dasselbe Gesicht, nur war Manfreds Hautfarbe dunkler als bei dem stets blassen und nervösen Willibald.
Das ließ aufs Erste nur einen Schluss zu: Manfred war Willibalds Bruder, der nun auf einmal die Abendschule besuchte und Marschalls Klasse zugeordnet war. Wollte er hier tatsächlich studieren und die Matura machen wie die anderen auch? Oder steckte mehr hinter seiner Teilnahme am Unterricht? Waren etwa die Umstände des Ablebens seines Bruders der Hauptgrund dafür?
Marschall beschloss abzuwarten. Die Sprechstunde würde ihm genügend Zeit lassen herauszufinden, wer dieser Manfred Vogel wirklich war. Mit ein wenig Geschick würde er schnell wissen, woran er war.
Doch Manfred Vogel ließ auch diese Gelegenheit verstreichen. Marschall hatte mit einer Ungeduld auf ihn gewartet, die eine immer größere Unruhe in ihm auslöste. Weshalb kam Vogel nicht? Es war zwar nichts Außergewöhnliches, dass es die Abendschüler mit der Termintreue nicht so genau nahmen. Aber Vogel hatte anklingen lassen, dass ihm die Unterredung mit Marschall wichtig war. Er hatte sich am Vortag nur den falschen Zeitpunkt dafür ausgesucht. Wenn er etwas von ihm wollte, dann musste er doch vorbeikommen.
Ein kurzer Blick in die Klasse zeigte Marschall, dass Vogel nicht anwesend war. Daraufhin beschloss er, ihn anzurufen. Das war auch die von der Direktion gewünschte Vorgangsweise, wenn ein Studierender oft fehlte oder wichtige Termine unentschuldigt verstreichen ließ.
Manfred Vogel meldete sich am Telefon. Er gab an, aus beruflichen Gründen keine Zeit für die Schule und damit für die gewünschte Unterredung gehabt zu haben. Er werde kommen, sobald sich die Lage in der Firma, in der er tätig war, entspannte. Er hoffe, dass dies nächste Woche der Fall sein werde, und entschuldigte sich für sein Fehlen.
Als am Beginn der darauffolgenden Woche wieder nichts von Vogel zu sehen war, entspannte sich Marschall ein wenig. Seine Erfahrung sagte ihm, dass Vogel es sich wohl doch anders überlegt hatte. Wenn er ein halbwegs ordentlicher Mensch war, würde er in den nächsten Tagen eine Abmeldung an die Schule schicken und der Fall wäre damit erledigt. Tat er das nicht, konnte man ihn selbst von der Klassenliste streichen. Der Verdacht, er könne etwas mit Willibald Vogel zu tun haben, war wohl unberechtigt gewesen.
Eine Woche verging. Der Abendunterricht war zu Ende, und Erwin Marschall ging knapp vor zweiundzwanzig Uhr zu seinem Auto, das er in einer finsteren Nebengasse der Schule geparkt hatte. Manchmal musste er, so wie heute, ein wenig suchen, da er sich nur ungefähr erinnern konnte, wo er es abgestellt hatte. Da spürte er plötzlich die Nähe eines Menschen hinter sich – etwas, das man ohne Geräusch, nur durch die bloße Ausstrahlung des anderen wahrnahm. Die Nähe von Manfred Vogel.
»Die Schule ist zu Ende«, sagte Marschall mit leichtem Ärger.
»Ich komme auch nicht, um mir von Ihnen irgendwelche Spielregeln erklären zu lassen«, vernahm er. »Ich komme, um Sie an etwas zu erinnern.«
Marschall drehte sich um. Er war müde von der Arbeit und erkannte in der Dunkelheit alles nur sehr undeutlich. Bilder poppten vor ihm auf. Sie schienen vom Display von Vogels Handy zu kommen. Er sah den Punkt, wo Willibald Vogel nicht weit von seiner Wohnung entfernt durch einen Sturz über die Böschung zu Tode gekommen war. Dann noch ein Foto von der letzten Seite der missglückten Englischschularbeit, auf der in roten Buchstaben ein »Nicht genügend« prangte. »Darüber möchte ich sprechen. Nicht hier und nicht heute, sondern morgen. Wir treffen uns nach der Schule an dem Ort. Sie kennen ihn ja.«
In Marschalls Kopf ging alles durcheinander. Eindrücke aus der Vergangenheit mischten sich mit dem Bedürfnis, alle Schuld von sich zu weisen. »Aber es war doch … Ich kann doch nichts …«, stammelte er.
»Morgen«, wiederholte Vogel. Dann war er auch schon weg wie eine Gestalt aus einem bösen Traum.
*
Erwin Marschall schlief in der darauffolgenden Nacht kaum. Er schwitzte und wachte immer wieder jäh aus seinen Albträumen auf. Zuerst erschien ihm darin das strenge, fordernde Gesicht Manfred Vogels mit seinem durchbohrenden Blick. Dann löste sich der Vollbart, bis er schließlich ganz verschwunden war. Übrig blieb ein junger, unschuldiger, fragender Ausdruck mit einem sanften Lächeln. Das war nun Willibald Vogel, dessen Gesichtszüge verschwammen und gleich darauf wieder schärfer wurden. Es schien, als wolle er etwas sagen, das ihn von jeglicher Schuld an seinem Tod befreite, doch genau in diesem Augenblick taumelte Marschall zurück in die Wachheit.
Wie viel Angst ihm diese Bilder doch machten, wie verstörend die von seinem Unterbewusstsein hervorgerufene Wiederbegegnung mit diesem sympathischen, liebenswerten Jungen, der nur über seine mangelnden Kenntnisse in der Fremdsprache Englisch gestolpert war, doch auf ihn wirkte. Was wollte sein Bruder Manfred von ihm? Sollte Marschall an den Ort des tragischen Geschehens zurückkehren, um sich dort mit ihm zu treffen? Oder einfach kneifen und darauf warten, dass Vogel sich wieder in der Schule zeigte?
Aber nein, es war besser, die Angelegenheit rasch zu erledigen. So verbrachte Marschall den Tag voll Nervosität und war auch während des Abendunterrichtes nicht voll bei der Sache. Er war bemüht, sich bei den Studierenden nichts anmerken zu lassen, aber vollständig konnte er seine Unruhe wohl nicht verbergen. Er fragte sich die ganze Zeit, was Manfred Vogel ihm vorzuwerfen hatte. Er hatte der Direktion und dem Stadtschulrat nach Willibalds Tod ohnehin Rede und Antwort stehen müssen. Er hatte dabei nachweisen können, dass er ihn den Vorschriften entsprechend behandelt und nach Möglichkeit im Gegenstand Englisch unterstützt hatte. Das hatten Vogels Mitschüler und Mitschülerinnen bestätigt. Und die ausschlaggebende, mit »Nicht genügend« beurteilte Schularbeit hatte den Anforderungen wirklich nicht entsprochen. Um Marschall über dieses tragische Ereignis hinwegzuhelfen und ihm die Möglichkeit eines Neuanfangs zu geben, war er in die Abendschule versetzt worden. So lag der Fall, und so würde er sich Manfred Vogel gegenüber auch verteidigen.
Er setzte sich in sein Auto und fuhr zu dem Ort, den Vogel ihm angedeutet hatte. Es handelte sich um einen aufgelassenen Steinbruch, der ein wenig außerhalb der Stadt in der Nähe des Hauses lag, wo Willibald Vogel mit seinen Eltern gelebt hatte. Dort war der Junge in den Tod gestürzt. Dort hatte er auch seinen Lieblingsplatz gehabt, wohin er sich des Abends oft zurückgezogen hatte. Es wunderte also niemanden, dass er ihn für seinen Selbstmord gewählt hatte.
Als Marschall dort ankam, schien alles menschenleer. Kein zweites Auto, das auf die Anwesenheit Manfred Vogels hingewiesen hätte. Aber vielleicht kam er zu Fuß von der Wohnung seiner Eltern. Marschall machte ein paar Schritte und atmete die herbstlich-kühle Nachtluft ein. Er zögerte, an den Rand der Böschung nach vorn zu gehen, dann tat er es doch. Er schaute hinunter. Jetzt in der Dunkelheit, wo sämtliche Konturen verschwammen, wirkte der Abgrund wie ein Schlund, der drohte, alles zu verschlingen, was ihm zu nahe kam.
Fröstelnd tat er einen Schritt zurück. Da spürte er, wie schon am Vortag nach dem Abendunterricht, die Nähe eines anderen Menschen.
»Ganz schön tief, nicht?«, hörte er eine Stimme sagen. Das musste Manfred Vogel sein. »Würden Sie da hinunterspringen?«, fragte er.






