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„Du gehörst nicht zum Daemon Rudel. Also gibt es für dich keinen Grund, mich zu bestrafen, weil ich mich nachts außerhalb der Stadt aufhalte.“ Innerlich stöhnte er auf. Was machte er da? Versuchte er durch Logik sein Leben zu retten? Und das gegenüber einem Wesen, das durch seine Instinkte unberechenbar war? Zum Glück hörte man ihm die Verachtung nicht an, die er für die Wandler empfand. Doch als die Wölfin sich umdrehte und weglief, traute er seinen Augen kaum. Damit hatte er nicht gerechnet. Sie humpelte und da sie ihm das Leben gerettet hatte, folgte er ihr unwillig. Während sie sich einige Meter weiter verwandelte und die Kleidung anzog, die zuvor achtlos auf den feuchten Boden geworfen wurde, wandte Flynn das Gesicht ab. Den Wandlern machte es nichts aus, wenn man sie nackt sah, doch als Mensch siegte sein Anstandsgefühl. Erst, als er kein Geräusch mehr hörte, sah er wieder zur Wölfin hin. Überrascht riss er die Augen auf.
„Maddie?“ Das Mädchen, das nur zwei Jahre jünger war als er, saß auf dem Boden, während sie auf ihre Beine starrte. Blut sickerte aus der Wunde und verfärbte den Jeansstoff rot.
„Woher kennst du meinen Namen?“ Noch immer sah sie nicht auf und Flynn bekam das Gefühl, dass sie unter Schock stand. Da er ein Mann der Tat war, ging er zu seinem versteckten Beet zurück, zupfte einige Kräuter und kam zu dem Mädchen zurück, das sich nicht von der Stelle bewegt hatte. Langsam, um sie nicht zu erschrecken, hockte er sich vor sie hin. Versuchsweise zog er das Messer aus seinem Stiefel. Er war bereit, jederzeit nach hinten auszuweichen, sollte sie ihn als Gefahr ansehen und angreifen.
„Wir sind auf der gleichen Schule. Ich bin zwei Stufen über dir, aber im Prinzip kennt dich wohl jeder auf der Schule. Pete versucht schon seit Monaten, dich zu seiner Partnerin zu machen. Mein Name ist Flynn.“ Endlich hob sie den Kopf.
„Wer ist Pete?“ Verwirrt schüttelte Flynn den Kopf. Hatte sie einen Schlag auf den Kopf bekommen, oder hatte sie eine Kopfverletzung, die ihr Verhalten erklärte? Aber letztendlich war das egal. Sie hatte sich verwandelt, vor seinen Augen. Das war eigentlich völlig unmöglich.
„Pete ist der Sohn des Alphas.“
„Vom Daemon Rudel?“ Flynn nickte, während er konzentriert ihre Jeans aufriss. Es wäre leichter gewesen, wenn sie sie einfach ausgezogen hätte. Aber in ihrem Zustand würde sie wohl auf solch eine Bitte erst gar nicht reagieren. Als er endlich ihre Beine freigelegt hatte, steckte er die Kräuter in den Mund. Er kaute so lange, bis sie ihre volle Wirkung entfaltet hatten. Dann spuckte er sie auf seine Hand. Ohne mit der Wimper zu zucken ließ Maddie sich die Kräuter auf die Bisswunden legen.
„Versteck die Wunden am besten vor deiner Mutter. Sie bekommt sonst einen Anfall.“
„Du kennst meine Mutter?“ Wieder ein Nicken.
„Ja, sie näht meiner Mutter ab und zu mal ein paar Sachen, um sich etwas Geld dazu zu verdienen. Als Hausfrau und alleinerziehende Mutter einer Tochter, die Kleidung und Nahrung braucht, hat sie es eben nicht leicht.“ Als Maddie zusammenzuckte, biss er sich auf die Zunge. Was hatte er sich nur gedacht? Schnell lenkte er das Thema wieder auf ihre Wunden.
„Ich muss die Kräuter verstärken, sonst wird die Wunde zu langsam heilen. Bist du damit einverstanden?“ Maddie zuckte mit den Schultern, also nahm er das als Zusage. Sanft legte er beide Hände über ihre Beine. Mit geschlossenen Augen murmelte er etwas vor sich hin, dass sie nicht verstehen konnte. Die Kräuter verströmten einen intensiven Duft und damit war seine Arbeit getan. Erschöpft ließ er sich schließlich neben sie auf den Boden sinken. Überlegend musterte er das Mädchen vor sich.
„Verrätst du mir, warum du dich mit einem Mal verwandeln kannst?“
„Ich konnte mich schon immer verwandeln.“ Flynn schüttelte den Kopf.
„Nein, das wüsste ich.“
Endlich schien Maddie aus ihrer starren Haltung zu erwachen. Sie schaute ihn an, musterte sein kantiges Gesicht, die kurzen blonden Haare und die hellblauen Augen, in denen sich das Licht des Mondes wiederspiegelte.
„Du bist ein Orakel. Ich finde es im Moment einfach zu anstrengend, alles zu erklären. Zumal ich es selbst noch nicht begriffen habe.“ Sie hielt ihm ihre Hand hin. Zögernd griff er danach. Sie war zart und die Haut fasste sich nicht so weich an, wie er vermutetet hatte. Ohne zu zögern öffnete sie sich ihm. Anscheinend war es nicht das erste Mal, dass sie mit einem Orakel arbeitete. Das machte Flynn schließlich nur noch neugieriger. Also öffnete er seinen Geist und nahm die Information auf, die Maddie ihm überlassen wollte. Sobald die Gestalt im Nebel vor seinen Augen auftauchte, sog er scharf die Luft ein. Mit klopfendem Herzen beobachtete er, wie Maddies Wunsch erfüllt wurde. Als es vorbei war und die Magie in ihm wieder abgeklungen war, sagte Maddie tonlos: „Ich habe meiner Mutter stundenlang versucht zu erklären, dass alles hier falsch ist. Sie hat mir nicht geglaubt und meine Behauptungen einfach weggelacht. So kenne ich sie nicht. Sie war immer stark. Eine Anführerin. Jetzt ist sie eine Hausfrau und eine Mutter, die sich aufopferungsvoll um mich kümmert.“ Maddie stockte. „Und meine Geschwister sind weg.“ Eine einzelne Träne rollte ihre Wange hinunter.
„Zuerst dachte ich, dass auch meine Wölfin verschwunden ist, aber sobald es Mitternacht wurde, musste ich raus. Ich hörte ihren Ruf. Und ich weiß einfach nicht, was hier los ist.“
„Und dann hast du mich vor dem Wolf gerettet, obwohl du keine Dominanz in dir trägst.“
Maddie legte den Kopf schräg und sah ihm endlich in die Augen. Fahrig fuhr sie sich durch die gefärbten Haare.
„Wenn du das so einfach siehst, dann ist es wohl aussichtslos. Ich war noch nie dominant und das vorhin war definitiv ein Spiel mit dem Feuer.“ Flynn schwieg, tief in Gedanken versunken. Er schaute nach oben und sah die Sterne an, die ihm nachts oft Trost gaben. Doch noch nie hatten sie auf seine Fragen geantwortet. Schließlich stand er auf und reichte Maddie die Hand. „Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“ Die Wandlerin sah ihn misstrauisch an, doch dann beschloss sie wohl, dass sie nichts zu verlieren hatte. Sie nahm seine Hand und zusammen liefen sie durch den Wald. Wobei Flynn immer auf der Hut war, denn es konnte durchaus passieren, dass sie einem Wandler aus dem Daemon Rudel begegneten. Wenn man Maddie hier erwischte, dann würde man sie ohne mit der Wimper zu zucken umbringen.
„Was machen die Orakel in der Welt, aus der du kommst?“ Zuerst zuckte sie mit den Schultern, doch nach einem Seitenblick und beharrlichem Schweigen antwortete sie: „Sie sind die Hüter der Magie. Sie greifen die Fäden auf, die für andere unsichtbar sind und verknüpfen sie so, dass Blicke in die Zukunft und die Vergangenheit möglich sind. Sie verhindern, dass die Magie zu wild wird und den Lebenden schadet.“
Flynn nickte, während er zielstrebig durch die Dunkelheit lief.
„Außerdem besitzen sie besondere Heilkräfte. In der Gemeinschaft einer Stadt regiert das stärkste Orakel. Ihm obliegt die Sicherheit aller, sodass er das Gleichgewicht wahren muss.“
Erstaunt blieb Flynn stehen. Maddie sprang gerade über einen umgestürzten Baumstamm, als sie seinen seltsamen Blick sah.
„Ich nehme an, hier ist das anders?“
Flynn wählte seine folgenden Worte mit Bedacht: „Ja. Es gibt keine Gemeinschaft, denn das Rudel führt mit eiserner Hand. Die Orakel werden bestraft, sobald sie sich zusammenschließen. Die letzte Todesstrafe gab es vor zehn Jahren, aber die Angst vor der Unberechenbarkeit hält den Käfig zusammen, in dem wir leben. Wenn sich ein Orakel gegen solch ein Leben entscheidet, wandert es aus. Doch die Familie ist meist durch Verträge an das Rudel gebunden. Sollte ein Orakel verschwinden, muss die Familie einen Blutzoll in Geld zahlen. Und das ist so viel, dass niemand den Zoll aufbringen kann. Dazu kommt, dass die Rudel weltweit vernetzt sind. Keine andere Stadt würde dem Orakel Arbeit geben. Es wäre dazu verdammt, durch kleinere Dörfer zu ziehen und von Tagelöhnen zu leben.“
„Aber ohne eine Gemeinschaft werden die Orakel verrückt. Zumindest habe ich das in der Schule gelernt“, antwortete Maddie erstaunt.
Flynn zuckte mit den Schultern und fuhr sich nervös durch die Haare.
„Sind wir jetzt an dem Ort angekommen, den du mir zeigen möchtest?“ Endlich war die Lethargie aus ihrem Gesicht verschwunden, aber Flynn war sich nicht sicher, ob er die Neugierde besser fand. Noch konnte er abbrechen. Doch ein Blick in Maddies große Augen sagte ihm, dass er das nicht tun konnte. Sie hatte sein Leben gerettet und es gab einen geheimen Kodex, nachdem er ihr etwas schuldig war. So forderte es die Magie. Und hätte er durch ihre Verbindung von vorhin nicht gesehen, was sie erlebt hatte, würde er ihren Worten wohl nicht glauben. Nein, stattdessen würde er sie für verrückt halten. Es war für ihn schwer, ihre Traurigkeit zu sehen und auch zu spüren. Immerhin kannte er sie in solch einer Stimmung gar nicht. Obwohl er sie natürlich immer nur aus der Ferne gesehen hatte. Flynn räusperte sich.
„Ich werde dir etwas zeigen, das noch niemand zuvor gesehen hat. Nicht einmal meine Familie. Ich habe es vor drei Jahren durch Zufall entdeckt und denke, dass wir vielleicht hier einen Hinweis auf die Frau im Nebel finden.“ Nun hatte er ihre Neugierde noch mehr geweckt. Doch bevor Flynn sich umdrehen konnte, um weiterzulaufen, hielt sie ihn am Arm auf. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe, doch dann riss sie sich zusammen.
„Ich muss dir noch etwas gestehen. Während ich dir gezeigt habe, was mir passiert ist, ist noch etwas geschehen.“
„Was denn?“ Flynn zog fragend eine Augenbraue nach oben.
„Ich weiß, dass du ein Nekromant bist.“ Erschrocken riss er sich von ihr los. Sein Kiefer malte und seine Augen verrieten so viele Emotionen, dass Maddie beschwichtigend sagte: „Keine Angst, ich werde es Niemandem verraten. Ich weiß nicht, warum ich das weiß. Diese Information war einfach da. Und in meiner Welt sind Nekromanten sehr selten und hoch angesehen. Ich gehe mal davon aus, dass das in dieser Version der Welt nicht so ist.“
Nur langsam beruhigte sich sein Herzschlag. Irgendwo in der Nähe rief eine Eule, als sie erfolgreich ein Beutetier erlegte und Flynn war sich bewusst, dass sein Leben nun in den Händen eines Mädchens lag, das selbst einige Schwierigkeiten hatte. Bewusst lockerte er seine Schultern.
„Kann ich auf dein Versprechen zählen?“
Maddie nickte. Worte waren nun überflüssig. Er musterte sie so intensiv, dass sie am liebsten den Kopf gesenkt hätte. Aber hier ging es nicht um Dominanz. Nein, es ging um Vertrauen zwischen zwei jungen Menschen, die sich praktisch fremd waren. Flynn seufzte schwer und lief schließlich weiter. Zögernd folgte Maddie ihm. Hinter einer Reihe von sechs Bäumen, deren Rinde stellenweise abgeplatzt war, schimmerte die Luft. Kalte Luft traf auf warme und in ihren Gedanken hörte sie das Flimmern, auch wenn nichts an ihre Ohren drang.
Flynn drehte sich um und sagte: „Keine Angst, mir ist bisher noch nie etwas passiert, wenn ich hindurch gegangen bin. Aber dieser Ort strahlt eine solch merkwürdige Energie aus, dass sich sonst noch Niemand näher herangewagt hat.“ Maddie nickte und beruhigte ihre Wölfin, die unruhig wurde. Die Verbindung zu ihr war schwach, aber zumindest war sie noch da. Mit klopfendem Herzen und schweißnassen Händen trat sie zusammen mit Flynn durch das Flimmern. Zu viele verschiedene Gerüche drangen an ihre Nase, sodass Maddie sich unbewusst an Flynn festkrallte. Ihre Haut kribbelte, während es sie heiß und kalt überlief. Die Sicht war anfangs schlecht, doch dann verschwand das Flimmern und Maddie traute ihren Augen kaum. Vor ihr befand sich eine Ruine, die schon lange zerfallen war. Der Wald hatte sich sein Recht zurückgeholt und auf dem Gestein wuchsen Schlingpflanzen, Moos und die Sprösslinge der Bäume, die hier viel größer und majestätischer aussahen.
„Ich kenne den Wald, als wäre er mein zweites Zuhause. Aber diesen Ort hier gab es vorher ganz bestimmt nicht. Da bin ich mir sogar ziemlich sicher.“ Flynn trat vor sie und machte eine Handbewegung, die die Ruine umfassen sollte.
„Herzlich willkommen im Tempel der Lyconia.“
Kapitel 2
Alles in ihr schrie danach, zu fliehen. Doch wohin sollte sie fliehen? Das Flimmern war verschwunden. Stattdessen sah sie sich nun den Überresten eines Tempels gegenüber, der einmal sehr beeindruckend gewesen sein musste. Tempel kannte sie nur aus Geschichtsbüchern. Es gab keine mehr, seit die Wandlergemeinschaft beschlossen hatte, sie dem Erdboden gleichzumachen.
„Was…? Wie…? Warum…?“ Flynn grinste und diesmal schlug Maddies Herz nicht auf Grund einer Gefahr höher. Er war unverschämt gutaussehend, das musste sie ehrlicherweise zugeben. Kopfschüttelnd vertrieb sie diesen Gedanken wieder. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als einen Jungen anzugaffen. Zum Beispiel herauszufinden, warum er sie hierhergebracht hatte.
„Ich weiß, dass das für dich sehr seltsam sein muss. Ich habe diesen Ort entdeckt und fast einen ganzen Tag hier verbracht, bis ich wieder hinausgefunden habe.“ Flynn ging zu einer umgestürzten Säule, aus der große Brocken herausgebrochen waren. Doch man konnte noch die liebevolle Arbeit auf dem weißen Gestein erkennen, obwohl auch hier die grüne Färbung des Waldes ihren Stempel hinterlassen hatte.
„Warum hast du mich hierhergebracht?“ Flynn lachte unsicher auf und fuhr sich durch die kurzen Haare.
„Tja, da wird es etwas komplizierter.“
Maddie machte bewusst große Augen und schwenkte die rechte Hand durch die Luft.
„Du meinst außer einem geheimen Tempel, der von Pfützen umgeben ist, die nach Schwefel riechen?“ Flynn lachte und Maddie konnte sich ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen.
„Ja, das meine ich. Am besten du folgst mir einfach.“ Vorsichtig umrundete sie die erwähnten Pfützen, wobei der Geruch ihr schon fast körperliche Schmerzen verursachte. Flynn schien es weniger auszumachen. Das hieß, dass ihre Wandler Sinne noch geschärft waren. Das war gut, wenn auch genau in diesem Moment nicht sehr praktisch. Flynn führte sie über weitere zerbrochene Säulen, in die Mitte des Tempels. Die Decke fehlte und vertrocknetes Laub kratzte beim leisesten Windhauch über den Boden.
„Da brennt ein Feuer“, sagte sie atemlos.
„Ja, es brennt glaube ich die ganze Zeit. Oder es geht an, wenn ich komme, keine Ahnung.“ Flynn ging zum Feuer, das sich aus drei Holzscheiten nährte und hörbar knisterte. Er hielt seine Hand erst ein Stück oberhalb der Flammen in die Luft, dann fuhr er direkt durch die gold-gelbe Hitze. Maddie schrie auf, doch Flynn sagte gleich: „Keine Angst, das tut nicht weh. Ich verbrenne mich auch nicht.“
Zögernd kam Maddie näher. Wieder hatte sie Herzrasen, aber sie zwang sich dazu, kein Angsthase zu sein.
„Ich spüre die Wärme des Feuers“, sagte sie atemlos. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und auch hier spürte sie deutlich die Hitze. Nachdem sie die Hand zurückgezogen hatte, weil aus dem Feuer Funken nach oben sprangen, sagte Flynn nachdenklich: „Interessant.“
„Und was genau ist interessant?“, fragte Maddie, während sie sich die Handfläche rieb, die rote Punkte durch die Funken aufwies.
„Ich wusste nicht, dass nur ich die Hitze nicht spüren kann. Immerhin habe ich bisher Niemanden hierhergebracht, um es auszuprobieren. Ich habe mich bisher noch nicht ein Mal verbrannt.“
„Was ist mit deiner Familie? Wenn mir so etwas gestern passiert wäre, dann hätte ich sofort meine Mutter um Rat gefragt.“
„Es ist seltsam sich vorzustellen, dass deine Mutter eine Alphawölfin sein soll. Sie verhält sich immer so still und läuft mit gesenktem Kopf herum.“
So wie sie selbst, wurde Maddie bewusst. Sie hatte die Angewohnheit, beim Laufen immer auf den Boden zu schauen. Es war seltsam, sich dessen bewusst zu werden. Flynn setzte sich auf den Boden, der nur hier und da Risse aufwies. Ernst sagte er: „Ich kann meiner Familie so etwas nicht verraten. Das würde sie in Gefahr bringen. Als Nekromant bin ich in der Lage, die Verstorbenen zu sehen. Ich kann rein theoretisch ihre Energie nutzen. Aber das macht mich auch zu einer Trophäe, die das Daemon Rudel sicher gern besitzen würde. Ich wäre nie wieder frei und würde meine Familie wahrscheinlich nicht wiedersehen, wenn das rauskommt.“ Als Maddie sich neben ihn setzte, schwieg sie betroffen. Sie kannte das fremde Rudel nicht. Aber das, was Flynn bisher erzählt hatte, machte ihr richtiggehend Angst. Als das Feuer wieder anfing zu knistern, sah sie überrascht auf. Die Funken flogen in die Luft, doch diesmal verbanden sie sich zu Zeichen, die sie nicht kannte.
„Was ist das?“, fragte sie leise. Eine unbekannte Ehrfurcht packte sie.
„Ich denke, das sind Botschaften. Ich habe in der Bibliothek nach Büchern über alte Orakel gesucht und habe in mehreren Bänden Hinweise zu Lyconia gefunden. Sie war ein mächtiges Orakel und versuchte sich an Magie, die zu unberechenbar war, um sie zu kontrollieren. Je länger ich hierbleibe, desto einfacher kann ich diese Zeichen deuten. Es scheint eine Sprache der Orakel zu sein. Wahrscheinlich kennen die Orakel in deiner Welt sie. Ich bleibe immer maximal eine Stunde, dann muss ich hier raus. Ich fühle mich dann jedes Mal so, als ob ich gerade aus dem Koma erwacht bin.“ Flynn klopfte sich unsichtbaren Staub von der Hose und Maddie ahnte, dass jetzt etwas kam, das ihr nicht gefallen würde.
„Normalerweise wäre ich das Risiko nicht eingegangen, dir das alles zu zeigen. Aber ich konnte ein paar Worte entziffern. Und da stand etwas von einer pinken Wölfin.“ Sein Blick wanderte unwillkürlich zu ihren gefärbten pinken Haaren. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte sie wohl lachen können.
„Das ist ein Scherz, oder?“
„Nein. Nicht wirklich.“
Maddie runzelte die Stirn und starrte auf die seltsamen Zeichen, während sie alles noch mal im Kopf durchging.
„Stand da noch was interessanteres als eine „pinke Wölfin“?“ Die Worte auszusprechen war lächerlich und sie brachte sie nur mit Mühe über die Lippen.
„So Einiges. Aber um ehrlich zu sein möchte ich das selbst erst einmal für mich sortieren, ehe ich es laut ausspreche.“ Alles in Maddie drängte danach, zu erfahren, welche Botschaft Flynn bekommen hatte. Doch letztendlich war sie für ihn eine Fremde. Und er für sie noch mehr. Immerhin war er ihr in ihrer Realität nie aufgefallen. Also schwieg sie und versuchte auch ihre Wölfin zu beruhigen.
„Einen Schritt nach dem anderen. Es sieht so aus, als wären wir jetzt ein Team. Das heißt, wir helfen uns gegenseitig.“ Maddie erwiderte schwach das Lächeln. Schließlich stand Flynn auf.
„Komm, lass uns gehen. Wir brauchen beide noch etwas Schlaf, bevor du deinen ersten Tag in der Schule meisterst.“
„Und wie genau kommen wir hier heraus?“ Misstrauisch sah sie sich um. Sie konnte das Flimmern von vorhin nicht mehr sehen.
„Ich mein, es gibt hier offensichtlich nirgendwo eine Tür, durch die wir einfach so spazieren können.“
Flynn lachte leise und kehlig.
„Du bist ein Scherzkeks, richtig?“ Maddie legte den Kopf schräg und versuchte den kühlen Blick, den sie an ihrer Mutter so oft gesehen hatte. Doch das brachte Flynn dazu, vor Lachen zu gurgeln. Schnaufend stand sie auf und klopfte sich den Schmutz von der Hose. Flynn riss sich zusammen und deutete auf einen Punkt, den nur er sehen konnte.
„Wir müssen genau zwischen diesem Strauch und dem Baum hindurch. Im Prinzip funktioniert es genauso, wie wir hergekommen sind. In der Luft schwirrt ein magischer Punkt, der selbst mir Gänsehaut beschert. Und durch den müssen wir hindurch.“
Maddie nickte und straffte die Schultern.
„Na dann los.“
Der Wecker holte sie aus einem unruhigen Schlaf, sodass Maddie letztendlich froh war, in dieser verdrehten Welt Herr ihrer Sinne zu sein. Anders als in ihren Träumen. Mit schweren Gliedern schleppte sie sich ins Bad, nur um in einen Spiegel zu schauen, der ihr eingefallene Wangenknochen und leere Augen zeigte. Sie beugte sich nah an den Spiegel heran, kniff sich in die Wangen und sah zu, wie die Farbe in ihr Gesicht zurückkam. Ein Schwall kalten Wassers verscheuchte auch die letzte Müdigkeit. Sobald sie sich angezogen hatte, warf Maddie einen weiteren Blick in den Spiegel. Bisher hatte sie die Gedanken an die letzte Nacht verdrängt. An die Begegnung mit Flynn und dem, was er ihr erzählt hatte. Doch nun gab es dafür keinen Grund mehr. Sie konnte die Augen nicht vor dem verschließen, was geschehen war. In ihren schwarzen Strumpfhosen, dem kurzen Rock und dem übergroßen T-Shirt sah sie eigentlich wie immer aus. Und dabei war ihre Welt komplett auf den Kopf gestellt worden. Ihre Wölfin spürte sie wie gestern am Tag nicht mehr und das machte ihr wohl am meisten Angst. Als sie ihre Mutter aus der Küche nach ihr rufen hörte, straffte sie sichtlich die Schultern und nickte ihrem Spiegelbild zu. Ein Schritt nach dem anderen. Das hatte Flynn gesagt und er hatte recht damit.
„Mom, ich muss los, sonst komme ich zu spät.“ Debbie packte gerade etwas Eingewickeltes in eine Dose, dann schenkte sie Maddie ein liebevolles Lächeln.
„Ich habe dir dein Lieblingssandwich gemacht. Ich hoffe, du hast deine Hirngespinste von gestern vergessen.“ Debbie kam zu ihr und fuhr ihr liebevoll über die Wange. Solch eine mütterliche Geste war sie nicht gewohnt, weshalb sie sich wohl auch die Dose in die Hand drücken ließ. Und ihren Rucksack.
„Sei pünktlich zu Hause. Du weißt, ich mag es nicht, wenn du nach der Schule noch unterwegs bist. Ich kann heute keine Sorgen gebrauchen. Immerhin steht der halbjährliche Hausputz an. Aber keine Angst, ich koche uns was Schönes und dann vergeht die Zeit bestimmt schnell. Viel Spaß in der Schule. Hab dich lieb.“ Debbie begleitete ihre Tochter noch bis zur Tür. Ungelenk umarmte Maddie ihre Mutter, wobei ihr das Stirnrunzeln nicht entging. Dann lief sie los. Erst, als ihre Mutter nach drei Häusern die Haustür geschlossen hatte, atmete sie wieder frei. Das war – ja, das war seltsam gewesen. Aber auch irgendwie angenehm. Es klingelte zur ersten Stunde und sie beeilte sich, in das Schulgebäude zu kommen. Zum Glück war hier alles so, wie sie es gewohnt war. Sie winkte ihren Freunden zu, verbrachte die ersten Stunden in Klassenräumen mit Lehrern, die sie kannte und deren Stoff sie tatsächlich die letzten Tage über durchgenommen hatte. Sobald die Pausenglocke ihr eine kurze Verschnaufpause gönnte, machte sie sich gleich auf die Suche nach Flynn. Sie fand ihn auf dem Hof. Er stand in einer Traube anderer Schüler und lachte über etwas, das ein Junge in seinem Alter gesagt hatte. Noch während sie direkt auf ihn zusteuerte, wurden seine Augen groß.
„Flynn, kann ich dich kurz sprechen?“ Alle starrten sie überrascht an. Und da wurde ihr bewusst, dass sie sich wohl falsch verhielt. Normalerweise wäre es Niemandem aufgefallen, wenn sie Flynn angesprochen hätte. Immerhin war er ein Orakel und sie die Tochter einer Alpha Wölfin. Doch sie konnte nicht leugnen, dass sich eine seltsame Ruhe über die Gruppe gelegt hatte. Alle starrten sie an und das war tierisch unangenehm.
„Ja. Ja, natürlich.“ Flynn ergriff ihren Arm und zog sie weg. In ihr Ohr zischte er: „Was machst du denn? Willst du mich umbringen?“ Maddie schüttelte den Kopf.
„Wieso umbringen?“ Er brachte sie an einen Fleck, an dem es nur wenige Schüler gab. Äußerlich machte er nicht den Eindruck, angespannt zu sein. Doch Maddie konnte es riechen.
„Du bist ein normales Mädchen, ohne besondere Kräfte und sprichst ein Orakel an. Und, was am schwersten wiegt: Du bist die zukünftige Misses Daemon.“
Maddie knirschte mit den Zähnen und bemühte sich, die Ruhe zu bewahren. Doch langsam begriff sie, dass ihr Verhalten gedankenlos war.
„Es tut mir leid. Für mich ist das Ganze hier ziemlich anstrengend und verwirrend. Ich wollte mit Jemandem reden, der weiß, was los ist.“ Beschämt schaute sie auf den Boden. Flynn seufzte laut auf und heiße Röte stieg ihr in die Wangen. Sie verhielt sich wirklich kindisch. Doch ehe sie sich entschuldigen konnte, teilten sich die Schüler auf dem Hof. Ein Junge kam auf sie zugelaufen, dessen Blick so viel Dominanz ausstrahlte, dass sie sich am liebsten auf den Boden geworfen hätte, um ihren Bauch zu präsentieren Mit aller Kraft wiederstand sie diesem Wunsch.
„Pete?“, fragte sie leise. Immerhin hielt er ihren Blick eisern gefangen und seine zusammengekniffenen Lippen ließen darauf schließen, dass er keine allzu gute Laune hatte. Flynn nickte unmerklich und neigte anschließend ehrerbietig den Kopf, als der Sohn des Rudelführers sie erreichte. Hinter ihm tauchten fünf muskelbepackte Kerle auf, die viel zu alt waren, um noch zur Schule zu gehen. Ein junger Kerl mit dicker Brille und fünf Büchern im Arm konnte nicht schnell genug ausweichen, als die Gruppe sich hinter Pete aufbaute. Er wurde einfach auf den Boden geworfen, kurz darauf landete ein Fuß auf seinem Rücken. Maddie knirschte mit den Zähnen.