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Der Griff nach den Waffen zur Selbstverteidigung war allerdings das letzte Mittel, nicht das erste Mittel, um sich vor einem Aggressor zu schützen. Alle Verse im Qurʾān, bei denen es um Kampf geht, sind im Rahmen der Selbstverteidigung und eines bereits in Gang befindlichen Krieges zu lesen. Eine Interpretation hierüber hinaus dürfen sie nicht erhalten, da ansonsten die ursprüngliche Bedeutung dieser Verse verfälscht wird.
Maulana Wahiduddin Khan beklagt, dass weder Extremisten muslimischen Glaubens noch Nichtmuslime sich die Mühe machen würden, krasse Verse wie: Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt. Und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben; denn Verführung ist schlimmer als Töten. (…) (2:191) in ihrem Offenbarungskontext zu lesen. Nur ein Vers zuvor heißt es: Und bekämpft auf Gottes Pfad, wer euch bekämpft, doch übertretet nicht. Siehe, Gott liebt nicht die Übertreter. Stattdessen würden beide Seiten Verse wie Sure 2, Vers 191 aus ihrem Kontext herausreißen und sie in ihrer Propaganda als das Recht zum Krieg missverstehen. Gleiches könne man aber auch mit Matthäus 10,34–37 tun: Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, wobei jeder Christ über diesen Schriftumgang empört wäre.59
Khan unterscheidet nun bei zwischenmenschlichen Konflikten zwischen zwei Arten von ğihād: dem übergeordneten friedvollen ğihād, verstanden als gewaltlosen Aktivismus, und dem gewaltsamen ğihād, in Khans qurʾānischer Terminologie qitāl, zu Deutsch Kampf, im Sinne der Selbstverteidigung.60
Qitāl ist demnach nur ein Unteraspekt des ğihād, der nur dann zur Geltung kommen durfte, wenn alle friedvollen Handlungsmöglichkeiten gänzlich ausgeschöpft waren und die eigene Auslöschung bevorstand.61
Der indische Gelehrte widmet sich dann der Frage, wer im Islam überhaupt legitimiert sei, zur bewaffneten Selbstverteidigung aufzurufen. Diese Frage ist hinsichtlich zahlreicher Organisationen wie Al-Qaida, IS, Boko Haram und Hisbollah von höchster Aktualität. Sich auf das islamische Recht stützend, erklärt der Gelehrte, dass einzig der gewählte Vertreter aller Muslime – den es heute nicht mehr gibt – den Selbstverteidigungsfall ausrufen darf. Alle militanten Bewegungen, die sich auf den Islam berufen, stünden eigentlich im Widerspruch zu den islamischen Rechtsauffassungen, die diese Gruppierungen angeblich vorgeben, wiederherstellen zu wollen.62 Maulana Wahiduddin Khan verweist hierbei auf einen Vers aus der Offenbarung, der eine Befehlskette hinsichtlich Krieg und Frieden aufstellt:63
Und wenn ihnen etwas zu Ohren kommt, das Frieden oder Krieg betrifft, verbreiten sie es. Wenn sie aber (stattdessen) dem Gesandten oder denen, die Befehlsgewalt unter ihnen haben, berichteten, so würden diejenigen es erfahren, die dem nachgehen können. Und ohne Gottes Gnade gegen euch und Seine Barmherzigkeit wärt ihr sicher bis auf wenige Satan gefolgt. (4:83)
Folglich, so Khan, seien diese Milizen aus dem islamischen Rechtsverständnis heraus als Terrororganisationen einzustufen, die, obwohl sie sich auf den Islam berufen möchten, sich nur auf ein pervertiertes Unwesen namens Islam stützen können, das nicht dem Religionsverständnis von 1,5 Milliarden Muslimen weltweit entspricht.64
Die Einstufung als Terrororganisationen ergibt sich dabei nicht nur aus der widerrechtlichen Bemächtigung zum Ausrufen des bewaffneten ğihād, sondern weil der sogenannte ğihād dieser Gruppierungen nichts mehr gemeinsam hat mit der islamischen Auffassung von Selbstverteidigung. Mit der Erlaubnis, sich mittels Waffen zu verteidigen legte der Prophet Muhammad den Muslimen zugleich eine Kriegsethik auf, die einzuhalten ist:
Nichtkombattanten sind zu verschonen,
destruktive Wirtschaftskriegsführung
und unnötige Zerstörungen von Infrastruktur sind zu unterlassen.65
Diese Kriegsethik wird jedoch, so der indische Gelehrte, von den militanten Bewegungen, die sich so gerne auf den Islam berufen, gar nicht eingehalten. Darüber hinaus hätten Gelehrte, die bestimmten militanten Bewegungen nahestünden, zugunsten diesen die islamische Kriegsethik pervertiert, indem sie beispielsweise Selbstmordattentate für legitim erklärten. Khan benennt hierbei den ägyptischen Gelehrte Yusuf Al-Qaradawi, der Mitglied der ägyptischen Muslimbruderschaft ist, die wiederum die Mutterorganisation der HAMAS ist. Khan hält Al-Qaradawi entgegen, dass die Selbsttötung niemals in der islamischen Geschichte als Märtyrertod verstanden wurde. Al-Qaradawi toleriere mit seinem Rechtsgutachten den im Islam rechtswidrigen Grundsatz, dass der politische Zweck alle Mittel heiligt. Politik, nicht der Qurʾān, werde damit zum wichtigsten Bezugspunkt im Denken dieses Gelehrten.66
Die Gleichsetzung von politischer Macht und Glaube, wie sie irrtümlicherweise von den Muslimen angenommen wurde, führte dann, so Khan, im Zuge des politischen Niedergangs der muslimischen Welt ab dem 18. Jahrhundert zu der Vorstellung, dass dies auch zugleich einen Niedergang des Islam bedeute. Khan macht jedoch unmissverständlich klar, dass es sich lediglich um einen Niedergang bestimmter Dynastien gehandelt habe. Der Glaube sei nicht gekoppelt an politische Macht. Nirgends im Qurʾān sei den Muslimen politische Herrschaft auf unbestimmte Zeit versprochen worden.67
Für den Gelehrten kann der Islam keine Religion der Gewalt oder der Gewaltverherrlichung sein, denn wie erkläre es sich dann, dass der Islam im Mittelalter eine der großen Menschheitszivilisationen hervorgebracht habe? Zivilisation befruchtet, Gewalt zerstört. Beides sind gegensätzliche Begriffe. Um die gegenwärtige Misere der muslimischen Gemeinschaft zu überwinden, müssten die Muslime für alle menschlichen Konflikte auf die Methode des Propheten Muhammad zurückgreifen, die Rache, Aggressionen und Vergeltung vermeide.68 Doch was bedeutet dies nun konkret?
Der gewaltlose ğihād
Durch die Instrumentalisierung des qitāl in der islamischen Geschichte, so Khan, blieben a) das Friedenspotenzial des Islam, b) die Anstrengungen des Propheten Muhammad, Gewalt in der arabischen Stammesgesellschaft zu unterbinden, und c) die Anleitung zu einer gewaltlosen Lebensweise weitestgehend unberücksichtigt.69
Gott beschreibt sich selbst im Qurʾān nicht als der Gott des Krieges, sondern als der eine und einzige Gott des Friedens, wenn Er sich in Sure 59, Vers 23 als der Friede (as-salām) benennt.70 Der Islam als Heilsweg zu Gott wird ebenso als ein Pfad des Friedens bezeichnet:71
Womit Gott zu Wegen des Heils/Friedens (as-salām) leitet, wer Sein Wohlgefallen anstrebt und sie mit Seiner Erlaubnis aus den Finsternissen zum Licht und auf einen rechten Pfad führt. (5:16)
Somit gehört das Friedenmachen, so Khan, zu den Pflichten eines jeden Muslims, was schon durch den Gruß as-salāmu ʿalaikum (Friede sei mit euch) zum Ausdruck kommt.72
Zu seinen Lebzeiten war der Prophet Muhammad nicht darauf aus, Krieg zu führen, sondern Krieg zu vermeiden. Dreizehn Jahre lang wurde die muslimische Minderheit in Mekka von den Stürmen der Verfolgung durchgeschüttelt, ohne je die Hand gegen ihre Unterdrücker zu erheben. Langfristig blieben der kleinen monotheistischen Gemeinschaft zwei Möglichkeiten, mit der Lage umzugehen: entweder Gefühle der Verbitterung und des Hasses in ihren Herzen zuzulassen, die irgendwann in grenzenlose gewalttätige Handlungen münden würden, oder das Leiden in eine kreative Kraft umzuwandeln. Die Muslime entschieden sich, so der indische Gelehrte, für Letzteres, als sie damit anfingen, friedlich nach Medina auszuwandern, wo sie herzlichst empfangen wurden. Auf diese Weise wurde eine gewalttätige Konfrontation in Mekka vermieden, die in einem blutigen Bürgerkrieg geendet hätte:73
Sprich: „O meine (Gottes-) Diener, die ihr glaubt! Fürchtet eueren Herrn. Diejenigen, welche in dieser Welt Gutes tun, werden Gutes erhalten; und Gottes Erde ist weit. Die Standhaften werden ihren Lohn erhalten, ohne dass darüber abgerechnet wird.“ (39:10)
Und die ihr Land verließen, nachdem sie Gottes wegen Gewalt erlitten hatten, Wir wollen ihnen wahrlich eine schöne Wohnung im Diesseits geben, und der Lohn des Jenseits ist noch größer. Wüßten sie es nur, jene, die in Geduld standhaft sind und auf ihren Herrn vertrauen! (16:41–42)
Die Auswanderung wird damit nicht nur zu einer Auswanderung in die Freiheit, sondern auch zu einer Befreiung von den Unterdrückern.
Auch die spätere gewalttätige Konfrontation zwischen Medina und Mekka galt dem Propheten als notwendiges Übel, um die Vernichtung seiner Gemeinde abzuwehren. Als im Jahre 627 (5 n. H.) die mekkanischen Aggressoren abermals auszogen, um Medina anzugreifen, kam es zur sogenannten Grabenschlacht, die streng genommen gar keine Schlacht war. Auf Anraten des Muslims Salman Al-Farisi (gest. 657) errichteten die Muslime um Medina einen unüberwindbaren Graben. Hierdurch wurden nahezu jegliche Kampfhandlungen unterbunden.74
Der Gesandte Gottes Muhammad, so der Gelehrte, verstand niemals Krieg als eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, stattdessen versuchte er, durch kluge und pragmatische Diplomatie einen Frieden zwischen Medina und Mekka zu erzielen. Das Ergebnis dieser Bemühungen war der Friedensvertrag von Al-Hudaybiyyah 628 (6 n. H.), der die Beilegung aller Kampfhandlungen für einen Zeitraum von zehn Jahren vorsah. Auf diese Weise, so Maulana Wahiduddin Khan, wurde der Konflikt zwischen Monotheismus und Henotheismus/Polytheimus weg von den Schlachtfeldern auf eine intellektuelle Ebene gehievt, die dem Islam auf der Arabischen Halbinsel mit Blick auf seine dann rasante Ausbreitung zugutekam.75
Als die mekkanische Seite zwei Jahre später vertragsbrüchig wurde, indem ein mit Mekka verbündeter Stamm einen mit den Muslimen verbündeten Stamm angriff, nahmen die Muslime nahezu ohne jegliche Kampfhandlungen Mekka ein. Weder nahm die muslimische Seite Rache an ihren ehemaligen Verfolgern, noch demütigten sie ihre ehemaligen Unterdrücker, noch nahmen sie die Haltung des Siegers ein, sondern der Prophet Muhammad vergab der mekkanischen Bevölkerung und erteilte eine Generalamnestie, um damit der alten Feindschaft ein für alle Male ein Ende zu setzen.76
Für Khan ist es folglich ein gänzliches Missverständnis, wenn Muslime den Propheten als einen Militärführer bewundern, da sich das Leben Muhammads als das Leben eines Mannes liest, der Gewalt eindämmen wollte. Auch die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong äußerte, dass Militärhistorikern zufolge Muhammad und die ersten Kalifen einzigartig darin waren, ihr Reich mehr durch Diplomatie als mit Gewalt aufzubauen.77
Aber für das Heute gilt: In einer Zeit, in der wir Menschen zu den Schöpfern unserer eigenen globalen Vernichtung geworden sind, sollten Muslime als Gewaltverzichter ein Vorbild für alle Menschen sein. Der indische Gelehrte schreibt:
Heute haben wir letztendlich eine Stufe erreicht, in der jede Form von Gewalt nicht wünschenswert ist. Wahrlich, eine friedvolle Strategie ist die einzige überlebensfähige Lösung. (…) Es ist daher keine Übertreibung zu sagen, dass in der heutigen Zeit ein gewalttätiges Engagement nicht nur eine viel schwerer zu ergreifende Alternative ist, sondern dass sie in der Praxis nicht sinnvoll ist. Dagegen ist die Gewaltlosigkeit nicht nur die viel leichter zu ergreifende Alternative, sondern sie ist im höchsten Maße die effektivere und Resultate erzielendere Methode. Heute ist die friedvolle Handlungsweise nicht nur eine von vielen Möglichkeiten, es ist die einzige praktikable und gewinnbringende Option. Da dem so ist, ist es nur rechtens zu sagen, dass Gewalt verworfen werden kann.78
In Zeiten, in denen der klassische symmetrisch geführte Krieg durch eine asymmetrische Kriegsführung ersetzt worden ist, in denen zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten nicht mehr unterschieden werden kann, in denen der einfache Soldat ausgedient hat und durch Kampfflugzeuge und ferngesteuerte Drohnen ersetzt worden ist und Waffensysteme ausgerichtet sind, möglichst große Zerstörung anzurichten, kann die vom Gesandten Gottes sanktionierte Kriegsethik nicht mehr angewendet werden. Dies bedeutet aber nicht, dass diese hierdurch obsolet geworden ist, sondern, dass der bewaffnete ğihād, gleichwohl es sich bei ihm um Selbstverteidigung handelt, obsolet geworden ist. Kampf, gleichgültig wie begründet, kann durch die heutige Waffentechnologie nur in der Zerstörung der uns anvertrauten Welt münden. Dies werde jedoch, so Khan, zum einen im Qurʾān durch die Bezeichnung fasad, zu Deutsch Verderbnis, (siehe Sure 2, Vers 205) untersagt, und zum anderen habe sich in der Gegenwart gezeigt, dass überall, wo insbesondere Muslime durch den Einsatz von Gewalt eine Veränderung ihrer Lage herbeiführen wollten, diese Länder in Chaos und Rückständigkeit versunken seien.79
Die prophetische Anleitung zu einem gewaltlosen Leben besagt nach Khan:
1) Selbstkontrolle: Der Gläubige soll durch Wachsamkeit und Aufmerksamkeit lernen, sein Gefühlsleben zu beobachten. Er soll nicht zum Sklaven von Gefühlsimpulsen werden, sondern Herr über seine Empfindungen sein. Khan erklärt, dass Gewalt zuallererst in den Gedanken geboren wird, wenn wir negativ und vorurteilsbehaftet über andere denken. Während des Schlafes würden diese Gedanken vom Bewusstsein in das Unterbewusstsein wandern und dort zu einem integralen Bestandteil der Persönlichkeit eines Menschen werden.80 Im Alltag hat dies zur Folge, dass man sich nun gegenüber diesen Menschen in Sprache und Handlungen feindselig verhält. Folglich solle der Muslim seine Persönlichkeit reinigen, was zu Arabisch tazkiya bedeutet,81 indem er kontinuierlich Hassgedanken mittels der Vernunft Einhalt gebietet.82
2) Einladen zum Islam (daʿwa): Der Muslim soll weder dem Krieg noch muslimischen Militärführern huldigen, sondern er soll sich als Friedensstifter und Botschafter des Islam begreifen. Er soll den Menschen nicht Zerstörung, sondern Leben bringen. Er solle es sich zur Lebensaufgabe machen, die Botschaft des Islam und die Aufklärung über den Islam auf barmherzige Weise seinen Mitmenschen zu vermitteln.83
3) Gewaltloser Widerstand: Überall dort, wo Muslime durch einen Aggressor bedroht werden, sollen sie die Methode des gewaltlosen Widerstandes praktizieren. Gewaltloser Widerstand, so Khan, bedeutet nicht Passivität oder inaktiv zu sein, sondern er erfordert die Stärke, Herr über die eigenen Emotionen und das eigene Gewaltpotenzial zu werden. In Gewaltlosigkeit zu leben, selbst im Angesicht des Todes, erfordert höchste Selbstkontrolle. Der gewaltlose Widerstand ist nur insofern passiv, als dass der Gegner nicht physisch angegriffen wird. Aber die Vernunft und die Gefühle des gewaltlosen Aktivisten sind beständig aktiv, den Aggressor zu überzeugen, dass er im Unrecht ist. Gewaltloser Widerstand ist also aktiver gewaltloser Widerstand gegen das Böse.84 Khan verweist auf nachstehende Verse aus der islamischen Offenbarung:85
Wehre das Böse mit Gutem ab! (…) (23:96)
Und wer führt bessere Rede, als wer zu Gott einlädt und das Rechte tut und spricht: „Ich bin einer der Gottergebenen?“ Das Gute und das Böse sind fürwahr nicht gleich. Wehre (das Böse) mit Besserem ab, und schon wird der, zwischen dem und dir Feindschaft war, dir wie ein echter Freund werden. (41:33–34)
Der Gläubige soll sich auch nicht dazu verführen, provozieren und hinreißen lassen, auf erlittenes Leid mit Gegengewalt zu reagieren, sondern er soll die Notwendigkeit des Leids erkennen, um hierdurch ein Gefühl der Scham im Aggressor zu wecken. Dieser soll in sich zu der Einsicht gelangen, dass er in dem Moment, in dem er einem anderen Menschen schadet, seine eigene Menschlichkeit verrät. Daher soll der Muslim Leid mit Standhaftigkeit (ṣabr) begegnen86 und auf Gott vertrauen, der im Qurʾān verspricht:87
Doch wahrlich, mit (jeder) Schwierigkeit kommt (auch) Erleichterung! (94:5)
O ihr, die ihr glaubt! Seid standhaft und wetteifert in Geduld und haltet aus und fürchtet Gott, damit es euch wohl ergeht. (3:200)
Ein weiteres Charakteristikum dieser Methode ist, dass sie sich nicht gegen die Personen richtet, die das Böse tun, sondern nur gegen deren Handlungen. Der gewaltlose Aktivist soll nie vergessen, dass sein Gegenüber ebenso mit einer transzendenten Würde versehen ist, auch wenn er sich nicht ihr entsprechend verhält. Durch das Ertragen von Leid signalisiert der Gläubige seinem Gegenüber, dass er ihn in seinem Menschsein nicht aufgeben wird, dass selbst wenn er ihm jetzt schadet und verletzt, der gewaltlose Aktivist die Hoffnung hegt, dass wenn der Aggressor zu seinem Menschsein wiedergefunden hat, die zerbrochene menschliche Gesellschaft wiederhergestellt werden kann sowie Versöhnung und Freundschaft möglich sind.88
Ein anderes Zusammensein in einer globalisierten Welt hält Maulana Wahiduddin Khan für ausgeschlossen. Die Welt ist geprägt durch Verschiedenheit. Wir alle sind erst einmal, bevor wir uns irgendeiner Religion oder Nationalität zuordnen, Weltbürger mit einer Weltverantwortung für die gesamte Menschheit. Weltgemeinschaft, so Khan, bedeutet menschliche Einheit in der Vielfalt, denn diese sei ein unauslöschbares Charakteristikum menschlichen Lebens. Wer diesen Gedanken verinnerliche, der würde andere in ihrem Anderssein belassen, und dies führe zum Frieden zwischen den Menschen.89 Frieden wiederum sei Voraussetzung für die Entstehung von Kultur und Zivilisation, all das, was der muslimischen Welt heute fehle, was sie aber einst besaß.90 Daher sollten Muslime sich jeglichen chauvinistischen Denkens entledigen und zurückkehren zum Humanum des Qurʾān, der die Geschwisterlichkeit aller Menschen trotz ihrer Verschiedenheit verkündet:91
O ihr Menschen! Fürchtet eueren Herrn, Der euch aus einem (einzigen) Wesen erschuf und aus ihm seine Gattin und aus ihnen viele Männer und Frauen entstehen ließ. Und seid euch Gottes bewusst, in Dessen Namen ihr einander bittet, und eueren Verwandtschaftsbindungen. Siehe, Gott wacht über euch. (4:1)
Alle Menschen sollten im Geiste dieser Geschwisterlichkeit zusammenleben.92 Das bedeutet: Solange ein Mensch sich in erster Linie durch eine Gruppenzugehörigkeit und erst in zweiter Linie durch sein Menschsein definiert, solange bleibe nicht nur derjenige, der nicht zur eigenen Gruppe gehört, ein Fremder, sondern der Mensch bleibe auch sich selber ein Fremder. Erkennt der Mensch sich aber zunächst einfach als Mensch, dann sieht er auch in dem anderen seinen Mitmenschen, der nicht anders ist als er selber. Nur die Glaubensvorstellungen, die Denkmuster, die Normen und Sprachen sind verschieden. Durch dieses Erlebnis erfahre der Mensch, was Menschlichkeit bedeutet. Er entdeckt den Einen Menschen.93
In diesem Zusammenhang weist der indische Gelehrte auch die Vorstellung zurück, die Muslime seien die einzige heilsgewisse Religionsgemeinschaft. Der Islam erhebe keinen Anspruch auf religiöse Exklusivität, sondern das Heil sei gekoppelt an drei Bedingungen: 1) Glaube an den einen und einzigen Gott, 2) rechtschaffendes Handeln im Leben und 3) Glaube an den Jüngsten Tag:94
Siehe, die da glauben, auch die Juden und die Christen und die Sabäer – wer immer an Gott glaubt und an den Jüngsten Tag und das Rechte tut, die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn. Keine Furcht kommt über sie, und sie werden nicht traurig sein. (2:62)
Nach Khans Ansicht ist der Islam aus seinem Selbstverständnis heraus ein Teil der monotheistischen Weltbewegung. Weder würde er vereinfacht aussagen, alle Religionen seien gleich, noch würde er das Heil vereinnahmen. Aus dieser Position heraus wäre die Akzeptanz anderer Religionen bestens gewährleistet, wobei er sich auf folgende Verse aus dem Qurʾān stützt:95
Kein Zwang im Glauben! Klar ist nunmehr das Rechte vom Irrtum unterschieden. Wer die falschen Götter verwirft und an Gott glaubt, der hat den festesten Halt erfasst, der nicht reißen wird. Und Gott ist hörend und wissend. (2:256)
Euch euer Glaube und mir mein Glaube! (109:6)
Darüber übereinzukommen, nicht übereinzustimmen, so Khan, würde eine Harmonie zwischen religiösen Menschen etablieren.96
Braucht Frieden Gerechtigkeit?
Der gewaltlose Ansatz von Maulana Wahiduddin Khan beinhaltet auch die Vorstellung, dass Frieden nicht immer einhergehen muss mit Gerechtigkeit. Die Schaffung und Erhaltung des Friedens sei höher zu werten als die Durchsetzung von Gerechtigkeit.97
Mit dieser Argumentation rechtfertigt der indische Gelehrte in seinen Schriften auch die Kolonisierung weiter Teile der muslimischen Welt. Er sieht in den europäischen Imperialmächten die Überbringer von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt, von dem die Muslime hätten profitieren können. Doch stattdessen hätten sie die Fremdherrschaft irrtümlicherweise als Unterdrückung wahrgenommen. Das Bestreben nach Emanzipation, Autarkie und Selbstbestimmung hätte allerorts in der muslimischen Welt antikoloniale und damit auch antiwestliche Bewegungen hervorgebracht, die schließlich die Kultur der Gewalt nur weiter gefestigt hätten.98
Khan rechtfertigt so nicht nur den Kolonialismus und verklärt ihn zu einer Zivilisierungsmission, sondern er erklärt die Opfer des europäischen Imperialismus zu den Schuldigen, da sie sich gegen die Fremdbestimmung zur Wehr gesetzt hätten.99 So wettert Khan gegen die Philosophen Jamal Al-Din Al-Afghani und Muhammad Iqbal ebenso wie gegen die Ideologen Hasan Al-Banna (1949), Abul Aʿla Maududi, Sayyid Qutb und Ruholla Khomeini (gest. 1989).100 Der Gelehrte begibt sich damit nicht nur in Widerspruch, dass er an anderer Stelle Al-Afghani als einen großen Denker des Islam lobt,101 sondern auch mit seiner Bewunderung für Gandhi, der sich ebenso gegen die britische Fremdherrschaft in Indien erhob.
Ebenso weist er Kritik an der US-Invasion des Iraks im Jahre 2003 zurück.102 Wie schon zuvor den Kolonialismus betrachtet Khan scheinbar auch den Krieg im Irak lediglich als einen Wechsel von politischer Macht, der gerechtfertigt sei durch die amerikanische Überlegenheit in Wissenschaft und Technik. Statt aufzubegehren, sollten Muslime diesen Herrschaftswechsel dankbar annehmen, um am westlichen Fortschritt zu partizipieren.103
Nahezu die gleiche Argumentationsführung überträgt der Gelehrte auf den Nahost-Konflikt. Er verengt ihn auf die Stadt Jerusalem und unterbreitet den Vorschlag, den religiösen vom politischen Aspekt Jerusalems zu trennen. Da politische Herrschaft stets im Wandel sei, sollten die Muslime die politische Dominanz Israels über Jerusalem akzeptieren, wobei der jüdische Staat Christen und Muslimen ungehinderten Zugang zu ihren Gebetsstätten garantieren müsse.104
Für die Misere des Nahost-Konfliktes macht Khan nicht die widersprüchlichen Zusagen Großbritanniens an Araber und Juden während des Ersten Weltkrieges verantwortlich (Hussain-McMahon-Korrespondenz vom 24. Oktober 1915, das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916, die Zusage Großbritannien an eine Gruppe von sieben syrischen Nationalisten am 11. Juni 1917 und die Balfour-Deklaration vom 2. November 1917),105 sondern die muslimischen Araber in Palästina. Diese hätten anerkennen müssen, dass das Land Palästina den Juden von Gott verheißen wurde, und sich mit dem UN-Teilungsplan von 1947 zufriedengeben sollen.106 Wenn die arabischen Muslime in Palästina die Juden als ihre Nachbarn akzeptiert hätten, so der indische Gelehrte, dann wären sie durch die Juden in den Genuss westlichen Fortschritts in den Bereichen der Naturwissenschaften und der Technologie gekommen.107
Der indische Gelehrte blendet damit jegliche Mitschuld von Europäern und Amerikanern an der Entstehung und Verfestigung antiwestlicher und antisemitischer Haltungen in der gebeutelten muslimischen Welt aus. Damit wird das gewaltlose Widerstandsrecht, das Khan oben formuliert hat, an eine Prämisse geknüpft: Gewaltloser Widerstand ist nur dann legitim, wenn der Gegner zivilisatorisch keinen Mehrwert bietet.
Auf diese Weise wird jedoch das Primat des Stärkeren legitimiert, das aber sicherlich nicht dem Frieden auf der Welt dient. Khan akzeptiert somit eine räuberische Welt, in der die Schwachen und Wehrlosen Objekte der Ausbeutung sind.






