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Es ist just diese interne Sichtweise, die wir im moralischen Urteil dann auch auf andere übertragen – nämlich, wenn wir sie bewerten, und nicht bloß ihre Erwünschtheit oder ihren Nutzen. Wir übertragen unsere Weigerung, uns selbst ausschließlich aus der Außenperspektive heraus zu werten, auf andere und gestehen damit anderen ein Selbst zu, das dem unseren ähnlich ist. Aber diese Sichtweise gerät in beiden Fällen mit der Tatsache in Kollision, daß Menschen und alles, was auf sie zutrifft, brutal in eine Welt einbezogen sind, aus der sie nicht herausgelöst werden können und von der sie nichts als Bestandteile sind. Die externe Sichtweise zwingt sich uns im selben Augenblick auf, in dem wir sie verdrängen. Dies zeigt sich eben auch daran, daß sich unser Tun nach und nach auflöst, wenn wir abziehen, was lediglich geschieht.11
Indem wir Auswirkungen in unser Bild dessen, was wir getan haben, miteinbeziehen, geben wir zu, daß wir ein Stück der Welt sind. Aber die Paradoxien der moralischen Kontingenz, die sich aus diesem Eingeständnis ergeben, zeigen, daß wir letztlich unfähig sind, mit einer solchen Sicht der Dinge zu leben, denn ihr zufolge müßten wir uns ja damit abfinden, daß es niemanden mehr gäbe, der wir selbst sein könnten. Dasselbe kommt auch in jenem Schein zum Ausdruck, der Determinismus mache unsere Verantwortlichkeit unmöglich. Sobald wir einen Aspekt des Tuns, das wir selbst oder andere vollziehen, als bloßes Geschehen auffassen, entgleitet uns die Überzeugung, daß überhaupt noch etwas begangen wurde, und wir den Täter zu werten haben und nicht bloß das Geschehnis. Dies erklärt übrigens, weshalb der Begriff unseres Handelns vom Indeterminismus nicht minder wirkungsvoll untergraben wird als vom Determinismus – eine wichtige Einsicht, die in der Philosophie schon des öfteren einmal bemerkt wurde. In beiden Fällen wird die Tat nämlich aus der Außenperspektive, als Bestandteil des Gangs der Ereignisse betrachtet.
Man versteht die Problematik der moralischen Kontingenz nicht wirklich, solange man nicht über eine Erklärung der Innenansicht des Handelns und des ihr eigentümlichen Zusammenhangs mit spezifisch moralischen Einstellungen (im Gegensatz zu anderen Arten der Wertung) verfügt. Eine solche Erklärung hatte ich hier nicht anzubieten. Die Frage, ob und in welchem Grade das Problem überhaupt einer Lösung zuführbar ist, ließe sich nur entscheiden, wenn abzusehen wäre, ob und in welchem Maße sich die Inkompatibilität der internen Sichtweise und der unterschiedlichen Hinsichten, in denen sich unsere Handlungen der Kontrolle entziehen, als eine bloß scheinbare Inkompatibilität erweist. Auch zu dieser Fragestellung hatte ich hier nichts anzubieten. Jedenfalls bleibt es ungenügend, lediglich festzustellen, daß unsere fundamentalen moralischen Einstellungen uns selbst und anderen gegenüber lediglich von alldem abhängen, was wirklich der Fall ist, denn moralisches Werten wird von den Quellen jener Faktizität ebensogut bedroht wie von der Außenansicht des Handelns, die sich uns aufdrängt, sobald wir einsehen, daß all unser Wirken zu einer Welt gehört, die wir nicht geschaffen haben.
Für diesen Band neu übersetzt von Knut Eming.
Sexuelle Perversion
Über Sexualität läßt sich etwas aus der Tatsache lernen, daß wir über den Begriff der sexuellen Perversion verfügen. Ich möchte den Begriff der Perversion genauer analysieren, gegen den Vorwurf der Unverständlichkeit verteidigen und einen Versuch wagen, näher anzugeben, welche Eigenschaften humaner Sexualität dafür verantwortlich sind, daß sie pervertiert werden kann. Zunächst werde ich einige allgemeine Bedingungen anführen, die der Begriff zu erfüllen hat, wenn er denn haltbar sein soll. Man kann sie einräumen, ohne dabei von einer bestimmten Analyse auszugehen.
Erstens: Jede sexuelle Perversion muß in sexuellem Verlangen oder in sexuellen Praktiken bestehen, die in einem gewissen Sinne unnatürlich sind, wobei das Hauptproblem gewiß in der Aufklärung dieser Unterscheidung von ›natürlich‹ und ›unnatürlich‹ liegt. Zweitens: Ist überhaupt irgend etwas eine Perversion, so gehören bestimmte Praktiken mit Sicherheit dazu – Schuhfetischismus etwa, Sodomie oder Sadismus. Andere Praktiken, zum Beispiel herkömmlicher menschlicher Geschlechtsverkehr, sind keine Perversionen; und über wieder andere gehen die Meinungen auseinander. Drittens: Gibt es Perversionen, so bestehen sie in unnatürlichen sexuellen Neigungen. Unnatürliche Praktiken, die nicht aus Neigung, sondern aus anderen Gründen ausgeübt werden, gehören nicht dazu. So ist es schwerlich sinnvoll, Empfängnisverhütung als sexuelle Perversion aufzufassen, und zwar auch dann, wenn sie für eine bewußte Perversion der sexuellen und der Fortpflanzungsfunktionen gehalten wird. Eine sexuelle Perversion muß sich in einem Verhalten zeigen, das eine unnatürliche sexuelle Vorliebe ausdrückt. Zwar mag es durchaus eine Form des Fetischismus geben, der auf die Anwendung kontrazeptiver Maßnahmen gerichtet ist, aber das kann kaum die übliche Erklärung für den Gebrauch von Verhütungsmitteln sein.
Der Zusammenhang zwischen Sexualität und Fortpflanzung hat mit sexueller Perversion nichts zu tun. Der letztere Begriff ist aus psychologischen, nicht aus physiologischen Gründen von Interesse; es handelt sich um einen Begriff, den wir nicht auf niedere Tiere und schon gar nicht auf Pflanzen anwenden, obwohl sie allesamt reproduktive Funktionen haben, die auf vielerlei Weise verloren gehen können. (Man denke nur einmal an kernlose Orangen.) Und wenn wir bereit sind, auch höhere Tiere als pervers zu bezeichnen, dann liegt dies nur an ihrer psychologischen und nicht an ihrer anatomischen Ähnlichkeit mit dem Menschen. Schließlich fassen wir auch bei Menschen nicht jederlei Abweichung von der Fortpflanzungsfunktion der Sexualität als Perversion auf: Sterilität, Fehlgeburten, Empfängnisverhütung und Abtreibung sind Beispiele dafür.
Der Begriff sexueller Perversion kann auch nicht unter Bezugnahme auf soziale Mißbilligung oder auf gesellschaftliche Konventionen definiert werden. Betrachten wir all die Gesellschaften, die Ehebruch und Prostitution ablehnten. Diese Praktiken wurden nicht als unnatürlich aufgefaßt, sondern sie wurden aus anderen Gründen für verwerflich gehalten. Es ist keine Frage, daß in der einen Kultur etwas als unnatürlich gilt, das für eine andere natürlich ist, doch gleichwohl drückt man mehr als nur Mißbilligung oder Abscheu aus, wenn man etwas als unnatürlich bezeichnet. Tatsächlich wird Unnatürlichkeit oft als Grund für Mißbilligung angeführt; und ebendieser Tatbestand legt den Gedanken nahe, daß die Klassifikation von ›natürlich‹ und ›unnatürlich‹ einen unabhängigen Gehalt hat.
Ich werde eine psychologische Erklärung sexueller Perversion anbieten, die an eine Theorie des sexuellen Verlangens und der sexuellen Beziehungen des Menschen gebunden ist. Um an diese Lösung heranzuführen, möchte ich zunächst eine gegensätzliche Ansicht behandeln, die es rechtfertigen würde, die Existenz sexueller Perversionen überhaupt und vielleicht sogar die Bedeutsamkeit dieses Terminus zu bezweifeln. Das skeptische Argument verläuft folgendermaßen:
»Sexuelles Verlangen ist einfach ein Trieb unter anderen, wie Hunger oder Durst. Als Trieb kann es auf verschiedene Objekte gerichtet sein, von denen manche vielleicht üblicher als andere sind, aber keines dieser Objekte ist in irgendeinem Sinne ›natürlich‹. Ein Trieb wird als ein sexueller identifiziert, indem man auf die Organe und erogenen Zonen, in denen seine Befriedigung bis zu einem gewissen Grade lokalisiert werden kann, und auf die konkreten sinnlichen Genüsse verweist, die das Wesen dieser Befriedigung ausmachen. Damit sind wir in der Lage, äußerst verschiedene Ziele, Aktivitäten und Wünsche als sexuell zu betrachten, denn es ist im Prinzip denkbar, daß alles sexuelle Lust erregen oder daß ein unbewußter, sexuell geprägter Wunsch danach geweckt werden kann (und sei es nur durch Konditionierung). Zwar mögen wir einige dieser Wünsche nicht teilen, und etliche (wie zum Beispiel Sadismus) mögen aus Gründen, die mit ganz anderen Erwägungen zu tun haben, auch verwerflich sein; aber sobald wir erkannt haben, daß sie den Kriterien für sexuelle Wünsche genügen, gibt es zu dieser Frage nichts mehr zu sagen. Entweder sie sind sexuell oder sie sind es nicht: Sexualität läßt weder Unvollkommenheit noch Perversion noch irgendeine andere derartige Qualifikation zu – sie gehört einfach nicht zu Gefühlen solcher Art.«
Das ist vermutlich der authentische radikale Standpunkt. Wer ihn vertritt, meint, daß eine psychologische Erklärung sexueller Perversion nur aufrechtzuerhalten ist, wenn man in Abrede stellt, daß sexuelles Verlangen ein Trieb ist. Aber diese Strategie der Rechtfertigung – sofern sie überhaupt einleuchtend ist – sollte unser Mißtrauen gegen das naive Bild der Triebe wecken, das dieser Skeptizismus unterstellt. Vielleicht können nicht einmal unsere paradigmatischen Triebe wie der Hunger als reine Triebe in jenem Sinne aufgefaßt werden, zumindest nicht in ihrer Ausprägung beim Menschen.
Können wir uns irgend etwas vorstellen, das man als Perversion des Hungers bezeichnen könnte? Hunger und Nahrungsaufnahme haben – ganz wie die Sexualität – eine biologische Funktion und spielen darüber hinaus eine wichtige Rolle für unser Innenleben. Man beachte, daß es kaum eine Veranlassung gibt, das triebhafte Verlangen nach Dingen, die nicht nahrhaft sind, als pervers zu bezeichnen: Wir würden die Triebe eines Menschen nicht als pervertiert einstufen, wenn er gern Papier, Holz oder Baumwolle äße: Wir hätten es lediglich mit ziemlich merkwürdigen und sehr ungesunden Vorlieben zu tun. Sie besitzen indes nicht die psychologische Komplexität, die wir von Perversionen erwarten (wenn wir von Koprophilie einmal absehen, die ja eigentlich eine sexuelle Perversion ist). Wenn nun aber jemand gern Kochbücher und Zeitschriften äße, in denen Lebensmittel abgebildet sind, und diese der gewöhnlichen Nahrung vorzöge – oder wenn er die Befriedigung seines Hungergefühls durch Streicheln einer Serviette oder eines Aschenbechers aus seinem Lieblingsrestaurant suchte – dann schiene es schon eher angemessen zu sein, den Begriff der Perversion anzuwenden (in diesem Fall würden wir wohl von gastronomischem Fetischismus sprechen). Es wäre auch angemessen, jemandem einen pervertierten Hungertrieb zuzuschreiben, der nur essen kann, wenn ihm die Nahrung mittels eines Trichters durch die Speiseröhre gepreßt wird oder wenn seine Mahlzeit aus lebendigen Tieren besteht. Entscheidend ist die Eigentümlichkeit des Verlangens an sich, und nicht die Tatsache, daß der Gegenstand, auf den es gerichtet ist, der biologischen Funktion dieses Verlangens nicht angemessen ist. Auch ein Trieb kann pervertiert werden, wenn er außer seiner biologischen Funktion eine signifikante psychologische Struktur hat.
Zum Beispiel offenbart sich die psychologische Komplexität des Hungers am Verhalten, in dem er sich äußert. Hunger ist nicht nur eine störende Empfindung, die sich durch Nahrungsaufnahme beseitigen läßt, sondern es handelt sich um eine Einstellung gegenüber eßbaren Bestandteilen der Außenwelt, um den Wunsch, sie in einer ganz konkreten Weise zu behandeln. Die verschiedenen Formen der Nahrungsaufnahme – vom Kauen, Schmecken, Schlucken, bis hin zur Wahrnehmung der Konsistenz und des Geruchs – sind ebenso wichtige Komponenten dieser Beziehung wie die Passivität und Kontrollierbarkeit der Nahrung (die einzigen lebenden Tiere, die wir essen, sind ja hilflose Mollusken). Unsere Beziehung zur Nahrung hängt darüber hinaus von gewissen Größenverhältnissen ab: Wir leben nicht auf ihr wie Blattläuse und wir wühlen uns nicht in sie hinein wie Würmer. Einige dieser Charakteristika spielen eine wichtigere Rolle als andere, aber eine adäquate Phänomenologie des Essens hätte die Nahrungsaufnahme als eine Beziehung zur Außenwelt und als von typischen Erregungszuständen begleitete Aneignung von Bestandteilen der Welt darzustellen. Veränderungen oder ernsthafte Einschränkungen des Verlangens nach Essen ließen sich dann als Perversion behandeln, sobald sie jene unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und Nahrung beeinträchtigen, in der sich der Hunger natürlicherweise äußert. Das erklärt, weshalb es nicht schwer fällt, sich auch in bezug auf Hunger Fetischismus, Voyeurismus, Exhibitionismus, ja sogar Sadismus und Masochismus vorzustellen. Einige dieser Perversionen sind übrigens relativ weit verbreitet.
Können wir uns aber Perversionen eines Triebs wie Hunger vorstellen, so müßte es eigentlich möglich sein, auch dem Begriff der sexuellen Perversion einen guten Sinn zu geben. Ich möchte damit keineswegs behaupten, daß sexuelles Verlangen ein Trieb ist, sondern weise lediglich darauf hin, daß etwas auch dann pervertiert werden kann, wenn es ein Trieb ist. Wie beim Hunger ist das charakteristische Objekt sexuellen Verlangens eine bestimmte Beziehung zu einem Teil der Außenwelt. Nur besteht die Beziehung in diesem Falle eben zu einer Person und nicht zu einem Omelett; und außerdem ist die Relation wesentlich komplizierter. Und diese zusätzliche Komplexität bietet Spielraum für entsprechend komplexe Formen der Perversion.
Der Tatbestand, wonach sexuelles Verlangen ein Gefühl anderen Personen gegenüber ist, könnte eine fromme Auffassung des psychischen Gehalts dieses Verlangens nahelegen: Eigentlich drücke sexuelles Verlangen ja nur eine andere Einstellung, etwa Liebe aus; trete es hingegen isoliert auf, sei es unvollkommen und menschenunwürdig. (Die extreme platonische Version einer solchen Ansicht lehrt, daß alle sexuellen Praktiken vergebliche Versuche sind, etwas auszudrücken, das sie prinzipiell nicht erfassen können, und dies sie alle in gewissem Sinn zu Perversionen macht.) Aber sexuelles Verlangen ist für sich betrachtet schon kompliziert genug, als daß es erst an etwas anderes gebunden werden müßte, um phänomenologisch analysiert werden zu können. Sexualität kann unterschiedliche Funktionen erfüllen – ökonomische, soziale, altruistische – hat aber als zwischenmenschliche Beziehung obendrein auch ihren eigenen Gehalt.
Der Gegenstand sexueller Anziehung ist ein bestimmtes Individuum, das die Qualitäten, die ihm seine Attraktivität verleihen, allerdings transzendiert. Werden mehrere Menschen von ein und derselben Person aus unterschiedlichen Gründen angezogen – wegen ihrer Haare, ihrer Augen, ihrer Gestalt, ihres Lachens oder ihrer Intelligenz – haben wir nichtsdestoweniger das Gefühl, daß der Gegenstand ihres Verlangens derselbe ist. Wir haben dieses Gefühl unter Umständen sogar dann noch, wenn die Liebenden, etwa weil es sich sowohl um Männer als auch um Frauen handelt, unterschiedliche sexuelle Ziele verfolgen. Die verschiedensten Eigenschaften, die jeweils auf spezifische Weise anziehend wirken mögen, scheinen ein elementares Gefühl auslösen zu können, das sich wiederum in den unterschiedlichsten Zielen und Wünschen äußern kann. Eine sexuelle Einstellung gegenüber einem Menschen bildet sich zwar aufgrund gewisser anziehend wirkender Eigenschaften aus, aber diese Qualitäten sind nicht das Objekt dieser Einstellung.
Ganz anders verhält es sich, sobald jemand den Wunsch nach einem Omelett hat. Verschiedene Leute können aus uneinheitlichen Gründen ein Verlangen nach einem Omelett verspüren – der eine, weil es so locker gebacken ist, der andere wegen der Pilze und wieder ein anderer wegen der einzigartigen Verbindung von Aroma und visuellem Eindruck, und dennoch erheben wir den gemeinsamen Gegenstand ihrer Erregungszustände nicht in den Rang eines transzendenten Omeletts. Statt dessen können wir sagen, daß mehrere Wünsche rein zufällig auf dasselbe Objekt gerichtet sind: Jedes andere Omelett mit den entsprechenden Qualitäten würde es auch tun. Dagegen kann nicht jede Person mit derselben Gestalt oder derselben Art zu rauchen zum Objekt eines spezifischen sexuellen Verlangens werden, auch wenn das Verlangen durch ebendiese Eigenschaften geweckt worden ist. Es mag sein, daß bestimmte Eigenschaften mehrmals auftauchen, aber dann handelt es sich um eine andere sexuelle Anziehung mit einem jeweils anderen konkreten Objekt; das ursprüngliche Verlangen überträgt sich nicht einfach auf einen anderen Menschen. (Das gilt sogar in den Fällen, in denen der neue Gegenstand unbewußt mit dem früheren identifiziert wird.)
Wie wichtig dieses Moment ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wie kompliziert die psychologische Wechselwirkung gerät, die dem Phänomen sexueller Anziehung zugrunde liegt. Dies wäre unbegreiflich, sobald der Gegenstand der sexuellen Anziehung nicht in einer konkreten Person bestünde, sondern nur in irgendeiner Person einer bestimmten Art. Und mit der Anziehung fängt es ja erst an, die Erfüllung umfaßt dann noch viel mehr als bloß das Verhalten und die Berührung, worin die Anziehung zum Ausdruck kommt.
Die beste mir bekannte Erörterung dieser Fragen findet sich bei Sartre im dritten Teil seines Werks Das Sein und das Nichts.1 Seine Überlegungen zu sexuellem Verlangen, zu Liebe, Haß, Sadismus und Masochismus wie auch zu weiteren Einstellungen gegenüber anderen Menschen sind an eine allgemeine Theorie des Bewußtseins und des Körpers gebunden, die ich hier weder darstellen noch voraussetzen kann. Sartre setzt sich nicht mit Perversionen auseinander, was zum Teil damit zusammenhängt, daß er das sexuelle Verlangen als Ausprägung unseres fortgesetzten Versuchs eines verkörperten Bewußtseins ansieht, mit der Existenz anderer zu Rande zu kommen – ein Versuch, der jedoch zum Scheitern verurteilt ist, und dies unabhängig davon, ob er in der Form sexuellen Verlangens oder in einer der anderen Formen auftritt, zu denen sowohl Sadismus und Masochismus (vielleicht sogar Abweichungen, die nicht auf Personen gerichtet sind) als auch diverse nichtsexuelle Einstellungen gehören. Nach Sartre bleiben alle Versuche, den anderen als ein anderes Subjekt in meine Welt zu integrieren – also ihn zugleich als ein Objekt für mich und als Subjekt, für das ich ein Objekt bin, zu begreifen –, instabil sind und dazu verurteilt, nach der einen oder anderen dieser Seiten hin auszuschlagen und damit zu scheitern. Entweder reduziere ich den anderen vollständig auf ein Objekt – in diesem Fall entzieht sich seine Subjektivität meinem Besitz oder meiner Aneignung, die ich auf jenes Objekt ausdehnen kann; oder aber ich werde lediglich zu einem Objekt für den anderen, und auch in diesem Falle bin ich nicht mehr dazu in der Lage, mir seine Subjektivität anzueignen. Darüber hinaus ist keiner dieser beiden Aspekte stabil; jeder ist ständig in der Gefahr, von dem anderen verdrängt zu werden. Dies hat zur Konsequenz, daß es so etwas wie eine erfolgreiche sexuelle Beziehung nicht geben kann, denn das dem sexuellen Verlangen zugrunde liegende letzte Ziel kann prinzipiell nicht erreicht werden. Deshalb ist es letzten Endes unwahrscheinlich, daß im Rahmen dieser Auffassung zwischen erfolgreicher bzw. erfüllter und erfolgloser bzw. unerfüllter Sexualität unterschieden werden kann, und Raum für den Begriff der Perversion bleibt.
Weder mache ich mir diesen Aspekt seiner Theorie zu eigen noch kann ich die meisten seiner metaphysischen Voraussetzungen zugestehen, aber das Bild, das Sartre von dem Versuch zeichnet, finde ich durchaus interessant. Er sagt, daß sich die Art von Besitz, die das Objekt sexuellen Verlangens ist, durch ein »zweifaches wechselseitiges Zufleischwerdenlassen« verwirklichte; und dies wiederum werde typischerweise in Form einer Liebkosung in folgender Weise herbeigeführt:
»Ich mache mich zu Fleisch, um den anderen dafür zu gewinnen, für sich und für mich sein eigenes Fleisch zu realisieren, und meine Liebkosungen lassen mein Fleisch für mich erstehen, insofern es für den anderen Fleisch ist, das ihn zum Fleische geboren werden läßt.«2
Diese Fleischwerdung wird abwechselnd als ein Verkleben oder als eine Trübung des Bewußtseins beschrieben, das vom Fleisch, in dem es verkörpert ist, überflutet wird.
Die Position, die ich – wie ich hoffe, mit den Mitteln einer weniger dunklen Sprache – vertreten möchte, hat zwar mancherlei mit Sartres Ansichten gemein, unterscheidet sich von ihnen aber darin, daß, sie nicht von vornherein ausschließt, daß Sexualität bisweilen ihr Ziel erreicht, womit dann auch eine Basis für den Begriff der Perversion hergestellt wäre.
Sexuelles Verlangen führt stets eine Art Wahrnehmung mit sich, jedoch nicht nur eine einzelne Wahrnehmung des Objekts der sexuellen Begierde, denn der paradigmatische Fall wechselseitigen Verlangens zeichnet sich durch ein komplexes System einander überlagernder wechselseitiger Wahrnehmungen aus – und zwar spielen hier nicht nur Wahrnehmungen des Sexualobjekts eine Rolle, sondern vor allem auch Selbstwahrnehmungen. Darüber hinaus erfordert das sexuelle Gewahren eines anderen zunächst einmal, daß man seiner selbst gewahr wird, und zwar in weit höherem Maße als dies bei gewöhnlicher Sinneswahrnehmung der Fall ist. Das Erlebnis wird durch den Blick (die Berührung u. dgl.) des Sexualobjekts gleichsam wie ein regelrechter Angriff auf einen selbst empfunden.
Wir wollen einen Fall untersuchen, bei dem sich die einzelnen Elemente voneinander trennen lassen. Um der Klarheit willen werden wir uns einstweilen auf den etwas künstlichen Fall des Verlangens aus der Distanz beschränken. Nehmen wir also an, ein Mann und eine Frau – nennen wir die beiden hier Romeo und Julia – befänden sich jeweils auf der entgegengesetzten Seite eines Partyraumes, an dessen Wänden zahlreiche Spiegel angebracht sind, so daß es möglich wird, jemanden unbeobachtet zu beobachten – ja, sich gegenseitig unbeobachtet zu beobachten. Jeder unserer beiden nippt an seinem Martini und mustert die anderen Gäste in den Spiegeln. Irgendwann wird Romeo nun Julia bemerken. Er wird vom Anblick ihrer weichen Haare und der schüchternen Art wie sie an ihrem Martini nippt, irgendwie ergriffen und schließlich sexuell erregt. Sagen wir hierfür im folgenden X spüre Y, wann immer X ein sexuelles Verlangen nach Y verspürt. (Y muß dabei keine Person sein, und X’ Wahrnehmung von Y kann visueller oder taktiler Natur sein; X mag Y durch den Geruch wahrnehmen oder es mag sich um bloße Vorstellung handeln; für die Zwecke unseres Beispiels wollen wir uns einmal auf die visuelle Wahrnehmung konzentrieren.) Romeo spürt also Julia, er bemerkt sie nicht bloß. In diesem Stadium wird er von einem Objekt erregt, das selbst nicht erregt ist; mithin hat sein Körper ihn stärker sexuell ergriffen als ihr Körper sie.
Nehmen wir nun weiter an, daß Julia in just diesem Augenblick Romeo in einem anderen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand ihrerseits spürt; doch bislang weiß noch keiner der beiden, daß er vom anderen gesehen wird (die Reflexionswinkel der Spiegel ermöglichen Profilansichten). Romeo beginnt nun, an Julia die kaum sichtbaren Zeichen sexueller Erregung zu bemerken: den unverwandten Blick unter halb geschlossenen Augenlidern, die erweiterten Pupillen, das leichte Erröten. Das intensiviert natürlich ihre körperliche Präsenz für ihn, und er bemerkt dies nicht nur, sondern spürt es auch. Für ihn bleibt seine Erregung allerdings immer noch unbeantwortet. Aber nun erkennt Romeo, der Blickrichtung Julias geschickt folgend, ohne ihr dabei aber in die Augen zu sehen, daß ihr Blick durch den Spiegel an der entgegengesetzten Wand auf ihn gerichtet ist: Er bemerkt, ja spürt, daß Julia ihn spürt. Das ist nun aber ein ganz neues Stadium, denn in Romeo wird ein Gefühl der Verkörperung geweckt, und zwar nicht nur durch seine eigenen Reaktionen, sondern auch durch die Augen und die Reaktionen des anderen. Dieses Stadium läßt sich außerdem von demjenigen unterscheiden, in dem Romeo Julia anfänglich gespürt hat. Denn die sexuelle Erregung kann auch dadurch ausgelöst werden, daß jemand spürt, daß er selbst von einem anderen Menschen gespürt wird – so daß er durch die Wahrnehmung des Verlangens des anderen Menschen bestürmt wird, und nicht bloß durch die Wahrnehmung des anderen Menschen.
Aber es gibt noch ein weiteres Stadium. Nehmen wir an, daß Julia, die ein bißchen langsamer ist als Romeo, nun auch spürt, daß er sie spürt. Dies versetzt Romeo nun wiederum in die Lage zu bemerken – und dadurch auch erregt zu werden – daß sie in Erregung gerät, weil er sie spürt. Er spürt, daß sie spürt, daß er sie spürt. Dies ist erneut ein anderes Stadium der Erregung, denn nun wird sich Romeo seiner Sexualität bewußt, da er sowohl ihre Wirkung auf Julia bemerkt als auch beobachtet, daß sie erkennt, daß diese Wirkung auf ihn zurückzuführen ist. Wenn sie nun auch in dieses Stadium kommt, also spürt, daß er spürt, daß sie ihn spürt, wird es langsam schwierig, noch weitere iterierende Stadien anzugeben oder sich gar vorzustellen, obwohl sie vielleicht logisch durchaus von den anderen Stadien unterschieden werden könnten. Wären die beiden nun allein, würden sie sich vermutlich umdrehen, um sich direkt anzusehen – und die Vorgänge würden sich auf einer anderen Ebene fortsetzen. Physische Berührung und Geschlechtsverkehr sind die natürlichen Erweiterungen dieses komplizierten visuellen Austauschs; und bei gegenseitiger Berührung können die Wahrnehmungsvorgänge ebenso verwickelt sein wie im visuellen Fall, aber sie lassen einen weitaus größeren Spielraum für Nuancierungen und Intensitätsabstufungen.