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»Ich bin Sekretärin bei einer Gebäudereinigungsfirma«, sagte sie und sah dabei zu, wie Joachims Mimik den Fahrstuhl nach unten nahm. Offenbar hatte er sich ein spannenderes Date gewünscht.
»Hm, ja, das ist bestimmt auch ganz nett«, hakte er ein. »Ich sage ja immer: Ein Beruf ist so interessant, wie man ihn sich macht. Ich zum Beispiel stelle mir jede Woche eine neue Herausforderung …«
Er zog ein Smartphone aus der Tasche, wischte wie wild auf dem Display herum und präsentierte eine Liste. »Hier. Nächste Woche will ich zwei Neukunden besuchen und insgesamt mindestens 1.500 Euro Umsatz machen. Das ist hart, oder? Ich meine, ich kenne die Kunden noch gar nicht und ich habe keine Idee, wie und wo ich sie finden soll. Aber man wächst mit seinen Aufgaben. Das ist einer meiner Grundsätze. Nur so kommt man weiter …«
Die Melodie der TV-Serie »The Munsters« erklang. Der Klingelton ihres Telefons unterbrach Joachims einsetzende Wortkaskade. Mit geweiteten Augen starrte er Greta an, als sie ihr Handy aus der Tasche zog und ihn entschuldigend anblickte.
Sie nahm ab. »Gerber? Ja … Ach so … Jetzt gleich? … Gut, ich komme.«
Sie legte Joachim eine Hand auf die Schulter.
»Es tut mir leid, aber ich muss dringend weg. Einer unserer Fensterputzer ist vom Gerüst gefallen. Nicht schlimm, nur aus dem ersten Stock. Das macht er oft. Wahrscheinlich will er sich eine Krankmeldung erschleichen. Ich muss die Unfallversicherungsunterlagen für ihn raussuchen. War wirklich nett mit dir.«
»Aber wir wollten doch noch einen Nachtisch …«, stammelte Joachim und sah ihr dabei zu, wie sie sich die schwarze Jeansjacke über die Schulter warf.
»Vielleicht ein anderes Mal. Ich ruf dich an«, sagte Greta und rauschte davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht loszuprusten. Eine dümmere Ausrede hätte sie wohl kaum finden können, aber offenbar zog Joachim die Geschichte keine Sekunde in Zweifel. Blieb zu hoffen, dass dieser Langweiler ihre Aussage richtig interpretierte und seine Balz anderweitig fortsetzte.
»Was soll denn der Blödsinn, Frau Gerber?«, quäkte Denis Schneiders Stimme aus dem Handy. »Haben Sie getrunken?«
»Ich bin derartig stocknüchtern, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Und ernüchtert. Danke, Schneider, Sie haben etwas gut bei mir«, sagte Greta und legte auf.
Vor der Tür der Cocktailbar atmete sie tief ein und ließ die frische Frühlingsluft in die Lungen strömen. Sie fröstelte. Obwohl die Temperaturen tagsüber schon ab und an die 20-Grad-Marke überstiegen, waren die Nächte noch kühl.
Aus der Grünanlage neben der Stadthalle war jugendliches Johlen zu hören. Flaschen rollten über den Boden, Gelächter. Die jungen Biberacher schienen sich schon auf den nahenden Sommer einzustimmen, der, wie in anderen Städten auch, mit Alkoholgenuss in Freianlagen einherging.
Greta wurde ein wenig wehmütig, als sie daran dachte, dass sie die warmen Abende wohl allein verbringen musste. Einen Moment schoben sich die Gesichter ihrer Mutter und ihrer Schwester ins Gedächtnis und legten sich wie ein Band aus Stahl um den Brustkorb. Sie ließ sich von einer Heimwehwelle überrollen und kämpfte gegen die Selbstmitleidstränen an. Sie sah zum Weißen Turm, der sich stolz und mächtig über die Innenstadt erhob. Wie oft war sie in den letzten Wochen den Weg hinauf zu ihm gestiegen, hatte seine Nähe genossen und sich von ihm behütet gefühlt.
Geduld, das war es, was ihr fehlte. Und Gelassenheit. Es war alles eine Frage der Zeit, bis sie sich zurechtfand und nette Menschen kennenlernte. So viel besser war es ihr in Freiburg schließlich auch nicht gegangen. Der Beruf und die vermeintliche Karriere standen dem privaten Glück im Weg, und sie konnte in diesem Punkt auch nicht aus ihrer Haut. Vielleicht war sie keine gute Freundin, womöglich hatte sie als Liebhaberin Schwächen, aber eines war sie ganz gewiss: eine gute Polizistin. Das würde sie den Menschen hier in Biberach schon noch beweisen.
»Wenn nur mal etwas Interessantes passieren würde«, murmelte sie. Langsam schlenderte Greta die Theaterstraße in Richtung Marktplatz hinunter und nahm sich vor, sich in ihrer Wohnung noch ein Glas Rotwein zu genehmigen.
5
»Ist er tot?«
»Keine Ahnung … Warte … Nein, er atmet noch …«
»Lass uns abhauen.«
»Das können wir nicht riskieren.«
»Was schlägst du vor?«
»Heb die Knarre auf!«
»Wieso …?«
»Mach schon!«
»Aber das geht doch nicht.«
»Gib sie ihm in die Hand.«
»Was soll das denn?«
»Leg seinen Finger an den Abzug und drück ihm das Ding an die Schläfe …«
»Soll das wie ein Selbstmord aussehen, oder wie? Das glaubt doch kein Mensch.«
»Ich … Nein … Ich kann das nicht. Oh Gott, er kommt zu sich …«
»Drück ab!«
»Er macht die Augen auf.«
»Drück ab!«
»Ich kann das nicht!«
»Mach schon. Er wird keine Ruhe geben, bis er hat, was er will. Er liefert uns ans Messer. Wenn er auspackt, dann ist alles aus. Ist es das, was du willst?«
»Er will etwas sagen. Ich glaube, er hat mich erkannt.«
»Dann drück endlich ab.«
»Nein … Ich …«
»Drück ab!«
…
»Hör auf zu zittern. Wir müssen ihn wegbringen. Schnell.«
»Ich … Ich hab ihn umgebracht.«
»Unsinn. Du hast ihn wieder dahin befördert, wo er schon lange war. Wir müssen ihn wegschaffen. Ich kann ihn nicht mehr sehen.«
»Fass mit an, ich kann ihn nicht alleine tragen.«
»Mir ist schlecht. Ich muss kotzen.«
»Reiß dich zusammen und nimm seine Beine.«
»Wo bringen wir ihn hin?«
»Wir helfen ihm unterzutauchen. Endgültig.«
6
1. FC Oberschwaben schon bald drittklassig?
Andreas Goettle überflog den Bericht über den Club, der drauf und dran war, eine Institution im Profi-Fußball zu werden. Nach einem miserablen Start in die neue Saison stand das Team nun, kurz vor dem Ende der Rückrunde, an der Spitze der Regionalliga Südwest und konnte den Aufstieg in die dritte Bundesliga schaffen. Es war kein gewachsener Erfolg, sondern einer, der vom Kapital bestimmt wurde. Vor einigen Jahren hatte der Spielervermittler Siegfried Röder einige Großsponsoren um sich geschart und die Idee entwickelt, die nur bedingt erfolgreichen Fußballabteilungen von Olympia Laupheim und des FV Biberach zusammenzuführen. Unter dem neuen Clubnamen 1. FC Oberschwaben wurde eine schlagkräftige Mannschaft geformt, die, verstärkt durch einige ehemalige Bundesligaprofis, den Platz von Olympia Laupheim in der Verbandsliga übernahm und sofort um den Aufstieg mitspielte, den sie letztlich knapp verpasst hatte, in den folgenden beiden Spielzeiten jedoch erreichte.
Andreas Goettle hatte diese Entwicklung zähneknirschend verfolgt. Zum einen war er glühender Fan des FV Biberach gewesen und hatte kein Heimspiel versäumt. Zum anderen ärgerte es ihn, dass aus den beiden Traditionsclubs eine Söldnertruppe entstanden war, die seiner Ansicht nach wenig mit der Region gemein hatte. Dementsprechend konnte er es auch nicht gutheißen, dass auf dem Gelände von Olympia Laupheim ein Fußballleistungszentrum zur Förderung junger Talente und ein Fußballinternat errichtet worden waren. Die Liebherr-Arena, den Stadionneubau vor den Toren Biberachs, der 20.000 Zuschauer fasste, hatte er aus Protest nie betreten. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn der 1. FC Oberschwaben in der obersten Spielklasse ankommen würde.
»Saubande, elendige«, resümierte Andreas Goettle und legte die Zeitung zusammen. Er nahm einen Schluck von seinem bereits erkalteten Milchkaffee und sah Renate Münzenmaier zu, wie sie die Post sortierte.
»Isch was G’scheids dabei?«, fragte er angesichts des mürrischen Ausdrucks seiner Haushälterin.
»Awa, bloß Rechnunga ond Werbung«, grummelte sie und rückte einem weiteren Umschlag mit dem Brieföffner zu Leibe. Einen Moment sah sie hoch, dann brannte sich ihr Blick fest auf Goettles Hemd. »Och noi, Herr Pfarrer, Sie hen ja immer no des Hemd an, des Sie geschdern mit dem Oi versaut hen. Sie sen doch ein Allmachtsschlamper.«
Goettle erhob mahnend einen Finger und setzte eine finstere Miene auf. »Versündiget Se sich net, Frau Münzenmaier. So schwätzt man nicht mit sei’m Vorgesetzten. Außerdem isch des mei Lieblingshemmad.«
»Was isch denn an dem so b’sonders? Die sen doch älle schwarz.«
»Aber des isch halt a besonders Schwarz. So leuchtend.«
»A leuchtendes Schwarz. Jetzt sen Se no so guad. Se gebet jetzt des Hemmad her, des kommt in d’ Wäsch. So könnet Se doch koi Beicht abnehma.«
Die Haushälterin hatte sich neben ihm aufgebaut und die Hände in die Hüfte gestemmt. Goettle war klar, dass sie keine Ruhe geben würde.
Widerwillig und umständlich widmete er sich der Knopfleiste. Er streifte das Textilstück ab und überreichte es der streng blickenden Ordnungskraft.
»Ihr Wille geschehe, alter Plog’goischd.«
Renate Münzenmaier nahm ihm das Hemd ab und blickte zum Fenster hinaus. »Sie solltet sich was azieha. Do kommt scho Ihre beschde Sünderin.« Goettle sah, wie sich Joanna auf hochhackigen, grell rosafarbenen Pumps, in sehr kurzen Shorts und einem schulterfreien Top der Kirche näherte.
»I möcht mol wissa, was des Menschle älleweil zum beichta hot. Die isch jo jede Woch do.«
Goettle errötete ein wenig und winkte ab. Joanna war eine junge Frau, die bereit war, alles dafür zu tun, um ihren Traum zu verwirklichen. Sie wollte ins Showgeschäft, egal wie. Da kam so einiges an Verstößen gegen die Zehn Gebote zusammen. Aber die junge Brasilianerin war auch eine gottesfürchtige Person und erleichterte das Gewissen regelmäßig durch ihre Beichte. Kann sein, dass sie auch zu Goettle eine besondere Beziehung hatte, da er sie auch verstand, wenn sie portugiesisch mit ihm sprach.
»Des was die beichtet, des kennet Sie alles net, Frau Münzenmaier. Ond i glaub, des isch au ganz guad so.«
Er verließ die Küche, um sich aus dem Schrank im Schlafzimmer ein neues Hemd zu holen, zog es an, streifte sich sein Priestergewand über und verließ das Haus in Richtung Kirche.
7
»Wie geht es dir?«, schnarrte es aus dem Telefonhörer.
Greta Gerber erstarrte. Seine Stimme genügte, um sie unverzüglich in den Gefühlssumpf zu stoßen, dem sie so mühsam entkommen war.
»Was willst du?«, erwiderte sie scharf. Sie war wütend. Wie konnte er es wagen, im Büro anzurufen? Was erdreistete er sich, sich noch einmal in ihr Leben zu drängen, nachdem er den knallharten Schnitt vollzogen hatte?
»Ich vermisse dich. Ich muss dich sehen.«
Er sagte es so zärtlich, dass ihr ein wohliger Schauer über den Rücken lief. Sie vermisste ihn auch, aber wusste, dass sie besser beraten war, ihm das nicht zu zeigen. Richards Problem war, dass er Entscheidungen traf und sie kurz danach widerrief. Daran würde sich nie etwas ändern, das war ihr im letzten Jahr immer wieder schmerzhaft in Erinnerung gerufen worden.
»Was ist? Lässt dich deine Frau wieder mal nicht ran? Hat sie endlich erkannt, was für ein Drecksack du bist?«, fauchte sie ihn an.
Greta senkte die Stimme und legte eine Hand um die Muschel des Telefons. Kollege Schneider sah herüber und grinste frech. Für einen Moment hatte sie vergessen, dass sie nicht allein im Raum war, zudem mit einem Menschen, den sie nicht besonders gut kannte. Sie senkte die Stimme und wandte sich wieder ihrem Gesprächspartner zu.
»Lass mich in Ruhe, hörst du?«
»Wir können doch noch mal über alles reden.«
»Sag nicht reden, wenn du vögeln meinst. Ich will weder das eine noch das andere. Um genau zu sein: Ich will dich nie, nie, nie mehr wiedersehen.«
Sie knallte den Hörer auf die Gabel und schlug mit der Faust auf den Tisch. Was bildete sich dieser Typ eigentlich ein? Dass sie bereitstand wie eine läufige Hündin, wenn er nur mit dem Schwanz wedelte? Wie viel räumliche Distanz musste denn noch zwischen ihm und ihr liegen, damit er sie endlich in Frieden ließ? Noch einmal ließ sie die Faust auf den Schreibtisch krachen.
»Guten Morgen, Frau Gerber. Wenn Sie mit der rabiaten Behandlung des Arbeitsplatzes fertig sind, würde ich gern mal mit Ihnen über die Sache Seitz sprechen. Sind Sie schon ein Stück weitergekommen?«
Kriminalrat Seidel, Leiter des Kriminalkommissariats Biberach, war hinter sie getreten und sah seine neue Mitarbeiterin über die Ränder seiner Brille an. Seine Stirn hatte er in Falten gelegt, was bei ihm ein untrügliches Zeichen des Missfallens war. Greta bemerkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Zu peinlich, dass ihr neuer Chef die emotionale Entgleisung am Telefon mitbekommen hatte.
Sie sortierte die Unterlagen aus der Akte Seitz und schüttelte den Kopf. Die bisherige Ermittlung hatte noch keine neuen Anhaltspunkte ergeben.
In die Villa von Kurt Seitz im Panoramaweg war eingebrochen worden. Außer ein bisschen Kleingeld war nichts entwendet worden, der Schaden belief sich auf wenige Hundert Euro. Wesentlich brisanter war jedoch die Entdeckung, dass auch eine Pistole, die Seitz als Mitglied des Schützenvereins besitzen dufte, aus dem Waffenschrank fehlte. Und das wiederum konnte bedeuten, dass der nun bewaffnete Täter vorhatte, weitere Schandtaten zu begehen. Die unausgesprochene Mahnung ihres Vorgesetzten zur Eile war also durchaus berechtigt, fand Greta.
»Wir warten noch auf den Abschlussbericht der Spurensicherung«, antwortete sie. »Wir haben am Tatort Blut gefunden, das höchstwahrscheinlich von dem Einbrecher stammt. Er hat sich offenbar verletzt, als er die Scheibe eingeschlagen hat. Vielleicht haben wir jemanden im Datenbestand, auf den die DNA passt.«
Seidel schob seine Brille nach oben und schnaubte. »Gut, aber beeilen Sie sich. Mir wird ganz flau bei dem Gedanken, dass in unserer Stadt ein Bewaffneter sein Unwesen treibt. Wir müssen ihn unbedingt dingfest machen, bevor etwas passiert.«
Greta hätte gern erwidert, dass nicht zwingend davon ausgegangen werden konnte, dass sich der Täter noch in der Stadt aufhielt, aber sie kam nicht mehr dazu. Der Vorgesetzte verschwand so schnell durch die Tür, wie er aufgetaucht war.
Sie nahm sich die Akte und besah sich die Fotos, die die Spurensicherung vom Tatort gemacht hatte. Der Einbrecher war ziemlich plump vorgegangen. Er hatte eine Fensterscheibe mit einem Stein eingeworfen, den Hebel umgelegt und sich so Zutritt zur Villa verschafft. Ein paar Schränke waren durchwühlt und die Haushaltskasse geleert worden, in der sich laut Seitz’ Aussage 200 Euro befunden hatten. Relativ zielstrebig schien er zu den Waffenschränken geschritten zu sein. Den massiven Holzmöbeln hatte er heftig mit einer Axt oder einem Beil zugesetzt. Aus dem einen hatte er eine kleinkalibrige Pistole entnommen und aus dem anderen die Munition dazu. Offenbar hatte er gewusst, dass Waffe und Munition getrennt aufbewahrt werden müssen.
Dennoch: Ein Profi war das nicht, dachte Greta.
Für diese Vermutung sprach, dass er sämtliche wertvollen Gegenstände in der Villa unberührt gelassen hatte. Die Pokale, die Medaillen, eine Münzsammlung, die auf dem freien Markt einige Tausend Euro eingebracht hätte – alles befand sich noch an den angestammten Plätzen. Und es war relativ eindeutig, dass sich der Täter in dem Haus der Familie Seitz gut ausgekannt hatte und wusste, an welchen Stellen er suchen musste.
Die Befragung des Hausherrn und seiner Gattin hatte keine Anhaltspunkte ergeben. Sie waren zum Zeitpunkt der Tat bei einer Lesung in der Stadtbibliothek gewesen. Und leider gab es auf dem Seitz’schen Anwesen keine Alarmanlage.
»Bei ons gibt’s doch nix Rechts zum hola. Für des bissle Gruschd lohnt sich der Aufwand net«, hatte Kurt Seitz Gretas Frage abgeschmettert. »Außerdem isch mei Frau so dappig, die dät andauernd die Sirene auslösa.«
Während er seine Freude über den eigenen Witz hinausgluckste, hatte seine Gattin neben ihm gestanden und süßsauer gelächelt.
Auch die Befragung der Nachbarschaft hatte keine Anhaltspunkte gebracht. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört.
Nach dem Mittagessen gehe ich mal im Labor vorbei und mache denen ein bisschen Feuer unter dem Hintern, dachte Greta, schlug die Akte zu und begab sich in Richtung Kantine.
»Was haben Sie denn an vegetarischen Gerichten?«
Greta wusste inzwischen, dass es eigentlich überflüssig war, den Kantinenpächter Amesmaier danach zu fragen. Vegetarier oder gar Veganer deklarierte er als persönliche Feinde, er hielt Menschen, die sich so ernährten, für pervers.
»Kässpätzle könnet Se han«, lautete seine Antwort.
»Ich ernähre mich seit drei Wochen fast ausschließlich von Kässpätzle. Und heute ist mir nicht danach. Haben Sie noch etwas anderes?«
Amesmaier rührte mit seiner Schöpfkelle in dem Behälter mit Soße und sah sie angriffslustig an. »No esset Se halt an Salat. Onser Kartoffelsalat isch ganz frisch.«
»Ja klar, den Sie sicher mit Fleischbrühe angemacht haben.«
»Jo freilich, wie denn sonschd?«
Der Küchenchef wischte sich die Hände an der nicht mehr ganz sauberen Kochjacke ab. Greta stöhnte. Er begriff es einfach nicht.
»Dann geben Sie mir ein Käsebrötchen.«
»Die sen aus.«
»Meine Güte, gibt es wenigstens einen Apfel?«
»Hem mer heut net. Heut gibt’s Rote Grütze zum Nochtisch.«
»Die natürlich mit Gelatine gemacht ist. Und somit für Vegetarier auch ausscheidet.«
»Do isch bloß Obschd dren ond koi Floisch.«
Greta verzichtete darauf, Amesmaier über den Zusammenhang von Gelatine und Rinderknochen aufzuklären. Ihr knurrte der Magen, außerdem war es verplemperte Zeit, dem Koch etwas über die vegetarische Esskultur zu erläutern. Selbst wenn er es verstanden hätte, würde er nicht von seinem bisherigen fleischgerichtsatten Speiseplan abweichen.
»Na gut, dann nehme ich die Kässpätzle«, seufzte sie.
»Warom et glei so«, antwortete der Kantinenchef und schöpfte mit der Kelle, die eben noch in Soße gebadet hatte, die gelbe, schleimige Masse auf einen Teller. Wortlos nahm die Hauptkommissarin ihn in Empfang.
Ganz ruhig bleiben, befahl sie sich und nahm sich fest vor, am nächsten Tag das Essen von zu Hause mitzubringen.
Ihr Mobiltelefon klingelte. Greta schob den Teller, den sie nur halb geleert hatte, zur Seite und nahm ab. Kriminalrat Seidel atmete schwer.
»Zwei Badegäste haben eine männliche Leiche am See bei Ummendorf gefunden. Das Opfer weist offenbar eine Schusswunde auf und war in einem Sack verpackt. Unfassbar.«
»Okay, ich fahre sofort hin.«
Greta notierte sich die Adresse des Fundorts, wollte aufspringen und besann sich dann doch einer gemächlicheren Bewegung, zumal die Kässpätzle im Magen zu einem mächtigen Gebilde aufgequollen waren, dessen Gewicht sie in den Stuhl drücken wollte. Auf dem Weg zum Ausgang sah sie Schneider mit Kollegen an einem Tisch sitzen. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Wir haben einen Fall. Ein Toter am Badesee bei Ummendorf. Erschossen. Wir müssen da sofort hin.«
»Ein erschossener Toter? Och Mönsch, ich esse doch gerade«, maulte Schneider und sah sein fast unberührtes Schnitzel wehmütig an.
»Dann nehmen Sie halt das Stück totes Tier mit«, grantelte Greta. »Aber wehe, Sie krümeln damit im Dienstwagen rum. Dann sorge ich dafür, dass Ihnen die nächste Innenreinigung in Rechnung gestellt wird.«
Schneider grummelte noch ein paar Flüche in seinen nicht vorhandenen Bart, warf sein Besteck auf den Teller und folgte ihr.
Durch und durch Schwabe, dachte Greta. Dieser Schneider hungerte lieber, als die Kosten für eine Autoreinigung zu übernehmen.
Am Ufer des Sees waren die Kolleginnen und Kollegen der Spurensicherung schon zugange. Es wurde fotografiert, jeder Grashalm umgedreht, nach Haaren, Hautschuppen, Zigarettenkippen, Fußspuren, nach Kleinigkeiten gesucht, die einen Hinweis auf den Täter geben konnten. Greta blinzelte gegen die blendende Maisonne an, die alle Pflanzen und Gegenstände zum Leuchten brachte.
Sie kroch unter dem Absperrband hindurch, bewegte sich auf die Spurensicherer zu, kniete sich neben den Mann, der die Leiche untersuchte, und stellte sich vor.
»Oliver Raible von der Gerichtsmedizin in Ulm«, erwiderte der Mittdreißiger, der in seinem weißen Schutzanzug ein wenig wie ein Spermium aus Woody Allens Film »Was Sie schon immer über Sex wissen wollten …« aussah.
Greta Gerber nickte anerkennend. Trotz der längeren Anreise war er noch vor der Polizei vor Ort.
»Sie sind wohl hergeflogen. Respekt«, sagte sie.
Raible lächelte. »Ich wohne in Biberach, daher musste ich meine Flugkünste nicht unter Beweis stellen.«
»Lässt sich schon etwas über die Todesursache und den Zeitpunkt der Tat sagen?«
Raible drehte den Kopf des Opfers zur Seite. Greta kämpfte angesichts der klaffenden Wunde an der rechten Schläfe mit dem Würgereiz, und auch Schneider nahm eine Gesichtsfarbe an, die ihm mühelos einen Nebenjob in einer Geisterbahn verschafft hätte.
»Ich würde sagen, Kopfschuss mit einer kleinkalibrigen Pistole aus nächster Nähe. Und vorher hat er mit einem schweren Gegenstand offenbar eins übergebraten bekommen. Der Todeszeitpunkt liegt schon ein paar Tage zurück. Mehr kann ich erst …«
»Nach der Obduktion sagen«, ergänzte Greta den Satz.
Raible schnitt eine Grimasse. »Na ja, er lag eine ganze Weile im Wasser. In diesem weißen Plastiksack hat er gesteckt, der wahrscheinlich mit Steinen beschwert war, um ihn am Grund zu halten. Irgendwann ist das Plastik gerissen und er wurde nach oben geschwemmt. Ein Glück, dass noch nicht so viele Badegäste hier sind.«
Greta schauderte bei dem Gedanken, dass planschende Kinder den Toten hätten entdecken können. »Haben wir die Tatwaffe?«
Raible schüttelte den Kopf. »Die Taucher sind bestellt und werden den See absuchen.«
»Hatte das Opfer Papiere bei sich?«
Erneut verneinte der Mediziner. »Keine Brieftasche, keine Papiere. Er hatte lediglich ein bisschen Kleingeld dabei.«
»Wer hat ihn gefunden?«
»Die zwei Athleten da drüben.«
Raible wies mit dem Kopf nach links.
Greta sah zwei übergewichtige Männer in Badehose auf einer Bank sitzen, die einem Polizisten Rede und Antwort standen. Sie ging zu ihnen, stellte sich vor und begann mit der Befragung.
»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?«
»Mir waret beim Schwemma und hen den Sack g’seha ond na hab i zum Markus g’sagt: Guck amol, da schwemmt a Gugg. Do hen welche wieder ihren Gruschd ens Wasser g’schmissa. I sag’s Ihne, i ben ganz fertig.«
Greta sah Schneider Hilfe suchend an.
»Die beiden haben den Sack, in dem sich der Tote befand, im Wasser treiben sehen und waren der Meinung, dass da Umweltsünder Unrat entsorgt haben. Er ist sehr aufgewühlt«, übersetzte ihr Assistent.
»Ja, ond dann hem mir die Gugg rausg’fischt ond no isch ons erschd an Chrischtboom uffganga.«
»Chrischtboom«, wiederholte die Hauptkommissarin Greta Gerber tonlos, Schneider verdrehte die Augen.
»Sie haben den Sack an Land gebracht und haben entdeckt, welch brisanter Inhalt in ihm steckt. Da sei ihnen ein Licht aufgegangen.«
Sie nickte und gab dem Sprecher der beiden ein Zeichen fortzufahren.
»Der Markus isch dann zum Bademoischder g’wetzt ond hot d’Polizei angrufa.«
Schneider holte Luft, um zur Übersetzung anzusetzen, doch Greta stoppte ihn mit einer Handbewegung. »Haben Sie etwas angefasst?«
»Ag’langt hem mer nix.«
»Was?«
»Nein, hat er gesagt.«
Greta wandte sich an den Polizisten, der alles eifrig mitnotiert hatte.
»Nehmen Sie die Personalien der beiden Herren auf und versuchen Sie, ein Porträt des Toten anzufertigen. Also eines, das ihn unversehrt zeigt. Es ist davon auszugehen, dass wir einen Aufruf über die Medien machen müssen, und wir wollen die Bevölkerung ja nicht schocken. Und Sie, Herr Schneider, fahren ins Büro zurück und sehen den Ordner mit den Vermisstenanzeigen durch. Vielleicht befindet sich dieser Herr ja darunter.«
Schneider schnaubte empört. »Und was machen Sie?«
»Ich sehe mich hier noch ein bisschen um. Die Frage ist, wie konnte der Täter die Leiche hierherbringen? Das Gelände ist doch eingezäunt.«


