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Die Macht des unbewussten System 1 und seine massiven und permanenten Auswirkungen auf das bewusste System 2 werden dabei nach allgemeiner Meinung der Psychologie von den meisten Menschen völlig unterschätzt (vgl. Kahneman, S. 162). Dies ist eine wichtige Chance für eine effizienzorientierte Rhetorik, um hier erneut wirkungsvoll zu punkten. Wer Anker setzt, hat den Hörer an einem Haken, der unsichtbar ist und daher umso einflussreicher sein kann!
c) Framing
Die beiden Phänomene von Priming und Ankern zeigen, wie das unbewusste System 1 bereits durch wenige vorgegebene Informationen beeinflusst werden kann, die ein Redner bzw. Gesprächspartner bewusst vorgibt. Dies lässt den Schluss zu, dass auch ganze „Gedankenrahmen“, die von einem Redner vorgegeben werden, das Denken des Zuhörers, insbesondere über sein unbewusstes Assoziationssystem, aktiv beeinflussen können (s. dazu auch Bechmann, Sprachwandel – Bedeutungswandel, S. 270ff.). Das zentrale Ergebnis einer Studie dazu ist bei Elisabeth Wehling nachzulesen (vgl. Wehling, S. 76, nach Zhong/Liljenquist). Zwei Versuchsgruppen mussten einen Text Wort für Wort abschreiben:
Der Text der einen Gruppe handelte von einer guten Tat – jemand hatte einem Kollegen geholfen. Der Text der anderen Gruppe dagegen behandelte eine schlechte Tat – jemand hatte gegen seinen Kollegen intrigiert. Danach sollten die Teilnehmer angeben, wie sehr ihnen bestimmte Produkte gefielen. Und um solche Produkte ging es: Zahnpasta, Seife, Glasreiniger, Desinfektionstücher, Waschpulver, Orangensaft, Batterien, Post-It-sticker, CD-Hülle, Snickers und einiges mehr. Sie ahnen es schon: Diejenigen Teilnehmer, die eine schlechte Tat hatten abschreiben müssen, stuften die Reinigungsprodukte als viel attraktiver ein als jene, die von einer guten Tat geschrieben hatten.
Auslöser war ein assoziativer Frame: Moral wird mit Reinheit weitgehend gleichgesetzt und assoziiert. Die Folge der Assoziation war ein unmittelbarer Einfluss auf das Wahlverhalten der „unmoralischen“ Gruppe: Sie suchte nach Reinigung, natürlich im assoziativen Sinn. In einem vergleichbaren Setting wurden die beiden Testgruppen gefragt, ob sie bleiben und unentgeltlich einen Studierenden bei einem Projekt unterstützen wollten. Das Ergebnis verblüfft nicht weiter: 70 Prozent der „Unreinen“ entschieden sich, dem Studierenden zu helfen (und sich so zu rituell zu reinigen) – bei den „Reinen“ belief sich dieser Anteil nur auf 40 Prozent (Wehling, S. 77).
Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Beispiele, Zitate, Geschichten können ganze Assoziationsketten auslösen, die das weitere kommunikative Denken des Zuhörers voreinstellen. Man spricht dabei vom „metaphorischen Mapping“ – es werden also regelrechte moralische Koordinatensysteme im Unterbewusstsein angestoßen und ausgelöst, die das weitere Denken und Sprechen sowie das weitere Handeln nachweislich beeinflussen können (vgl. Wehling, S. 77f.). Selbst kontroverse Diskussionen können so gezielt gesteuert werden. Wehling beschreibt unter anderem das metaphorische Framing der „Vertikalisierung“: Gutes/Gott ist oben angesiedelt; Schlechtes/der Teufel unten. Daraus folge, dass Bürger mit viel Vermögen als „Oberschicht“ und damit implizit als „die Guten“ bezeichnet werden, während der Begriff „Unterschicht“ eine eindeutige Stigmatisierung der dazugehörenden ärmeren Mitbürger beinhalte (vgl. Wehling, S. 120). Ähnlich verhält es sich mit den Begriffen „Mindestlohn“ und „Lohnuntergrenze“, mit denen zwei unterschiedliche „Viewpoints“, also linguistisch verschlüsselte Positionierungen zum gleichen Thema gesetzt werden (Wehling, S. 137; s. auch unten S. 83).
Ist ein solcher Rahmen erst einmal vom Redner bewusst gewählt und dann gesetzt worden, so wird er beim Zuhörer zwangsläufig Assoziationsprozesse im Weg der kognitiven Simulation auslösen, die davon beeinflusst werden. Und je mehr der Redner dieses assoziative Gerüst weiter bedient, umso wirksamer wird das aktivierte unterbewusste System 1 dies affirmativ unterstützen: Diese Assoziationen hat es schließlich gelernt und im Unterbewusstsein als Lerneinheit gespeichert. Wer etwa vom „Humankapital“ spricht, der entpersönlicht Diskussionen – Arbeit wird zur rein betriebswirtschaftlich zu behandelnden Ressource. Ist der Einzelne hingegen einer, der für den „Daimler“, „Bosch“ oder andere hart arbeitet – dann belegt er als Malocher oder treuer Arbeitnehmer, dass der Verlust eines Arbeitsplatzes ungemein stärker wirkt als der Begriff vom „Arbeitsabbau“ (vgl. Wehling, S. 139f.): „Wegrationalisierung“ wäre hier eine begriffliche Alternative, die deutlich negativer wirkt. Der assoziative Rahmen kann also bewusst durch solche wertenden Frames voreingestellt werden, was etwa in Podiumsdiskussionen durchaus erfolgsentscheidend sein kann.
Auch zum wirksamen Framing fehlen noch exakte wissenschaftliche Erkenntnisse, die dazu eine ganze Theorie formulieren können. Eines steht aber fest: Wir als „Humans“ lassen uns in unserem unbewussten System 1 massiv durch vorgegebene assoziative Frames in unserem Denken beeinflussen. Wer also für sich in bewusster sorgfältiger Auswahl den richtigen Sprachrahmen, die richtigen Metaphern und metaphorischen Rahmen setzt, kann zu seinen Gunsten einigen Einfluss auf das unbewusste System 1 des Zuhörers ausüben. Dieser Effekt wird sich auch auf das bewusste Denken des Zuhörers sehr subtil auswirken und kann dem Redeerfolg durchaus nachhaltig zugutekommen.
4. Rhetorik für „Econs“ (Vernunftmenschen) oder „Humans“ (Alltagsmenschen)?
Die Rhetorik als Wissenschaft war und ist seit Jahrtausenden darauf ausgelegt, auf den Grundlagen von sittlicher Vernunft, Argumentation und rationaler Entscheidungsfindung die wesentlichen Ziele von Wahrheitsfindung und Überzeugung durch richtiges Reden zu erreichen. Dabei stehen der „Ethos“ des Redners (seine Autorität und Glaubwürdigkeit) sowie der „Logos“ der Rede (die Beweis- und Argumentationsführung) im Vordergrund, wie etwa Aristoteles in seinem Standardwerk „Rhetorik“ ausführt (Aristoteles, Rhetorik, S. 11f.; s.a. Krieger/Hantschel, Handbuch Rhetorik, S. 18). Psychologische Elemente der Redekunst waren zwar bekannt; sie konnten mangels der Kenntnis der Psychologie als Wissenschaft aber nur unvollständig beschrieben und eingeordnet werden: In der Benutzung von rhetorischen Elementen, die das „Gefühl“ beeinflussen sollten, also der rhetorischen Funktion des Pathos, liegt das Hauptfeld dessen, was zwar als rhetorisch wirksam bekannt, aber letztlich nicht in seinen Wirkmechanismen verstanden war.
Die Rhetorik war damit am Vernunftmenschen ausgerichtet – genauso wie die klassische Volkswirtschaft am Econ, dem rationalen Entscheider/Agenten von wirtschaftlichen Sachverhalten (vgl. Kahneman, S. 508f.). Die Geschichte der Wortschöpfung „Econs vs. Humans“ ist auch bei Thaler/Sunstein in ihrem grundlegenden Buch „Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ nachzulesen (S. 16ff.); Richard Thaler hat für diese Theorien mit Recht den Wirtschaftsnobelpreis 2017 erhalten. Im Mittelpunkt der Rhetorik stand der Wettstreit der Econs um die Wahrheit vor dem Hintergrund des Einsatzes vernunftbetonter Argumente. Wer davon abwich und die „dunkle Seite“ der Rhetorik anging, die Kunst der Manipulation und der Verführung, der wurde schnell mit dem Verdikt der Demagogie belegt, also verdächtigt, Rhetorik bewusst zur Propaganda und Massenlenkung zu missbrauchen. Die Opfer waren dann die „verführbaren Humans“, die Alltagsmenschen, die allzu leicht den „schwarzen Redekünsten“ auf den Leim gingen. Zu denken ist etwa an den rhetorischen Super-Beelzebub Josef Goebbels, der beispielsweise in seiner berüchtigten Sportpalastrede zum „totalen Krieg“ 1943 das ABC der dunklen Rhetorik gnadenlos – und auch gnadenlos wirkungsvoll – durchdeklinierte.
Die moderne Psychologie bringt uns in der Rhetorik einen sehr nüchternen und klaren Standpunkt bei: Es gibt in der Rhetorik keine Econs! Es gibt nur Humans! Wirkungsvolle Rhetorik ohne die Berücksichtigung der elementaren psychologischen Grundlagen unseres Denkens ist schlichtweg nicht möglich. Letztlich gibt es kein rhetorisches Phänomen, das sich nicht diese Grundlagen zunutze macht. Rhetorik ist daher untrennbar mit der Bereitschaft verbunden, auch psychologische Wirkmechanismen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu zu nutzen. Gesicherte Forschungsergebnisse der modernen Neurobiologie und Verhaltenswissenschaften einzubeziehen, ist korrektes wissenschaftliches Verhalten. Dies ist – noch – keine Manipulation. Wer die Redekunst beherrschen will, muss künftig das ganze, und damit auch das psychologische Instrumentarium der Beeinflussung des Menschen als Human kennen und auch anwenden wollen. Die Frage der Demagogie ist eine der ethischen Bewertung des Einsatzes von Redekunst, und dann ganz gleich, ob religiöser Demagoge (etwa ein salafistischer Prediger) oder politischer Demagoge (z.B. der rechtsradikale Nazi).
Der Einsatz dieser modernen Erkenntnisse, deren Verwendung für die Rhetorik ich im Folgenden als neurolinguale Intervention (NLI) bezeichne, ist für den modernen Redner unausweichlich. Ihr Potential kann verglichen werden mit einem „Treibsatz“ in der Chemie: Man kann mit ihm formen (etwa im Druckpressverfahren), man kann mit ihm Raketen für friedliche Missionen starten. Aber man kann damit auch zerstören (als Sprengstoff). Es liegt an uns, wie wir unser Wissen über die Wirkung rhetorischer Mittel verantwortungsvoll einsetzen.
Der weitere Aufbau des Buches trägt dieser Herausforderung an die moderne Rhetorik Rechnung: Jedem „klassischen“ Thema der Redekunst, das man aus der Literatur und Praxis auch bislang kennt, wird der „wirkungspsychologische“ Ansatz zugeordnet, der für Redner und Hörer relevant ist. Daraus ergeben sich manche interessante Querverbindungen und Aha-Effekte zu Erkenntnissen, wie wir sie etwa in den kurzweiligen Büchern von Rolf Dobelli zur „Kunst des klaren Denkens“ und „klugen Handelns“ aktuell erstaunt für unser wirtschaftliches Denken aufnehmen. Auch in der Rhetorik zeigt sich, wie profund wir im Alltagsleben mit Täuschungen und Illusionen konfrontiert werden, ihnen erliegen und trotzdem Erfolg haben können. Das Verständnis dieses Phänomens ist besonders wichtig für heute junge Menschen und die künftigen Generationen, die von Anfang an mit diesem Rüstzeug werden leben müssen. Auch in Zukunft wird erfolgreiche Kommunikation sich nicht auf Wischen und Klicken beschränken können. Wer nur „World of Warcraft“ spielt, wird wohl allenfalls virtuell erfolgreich sein. Es ist und bleibt eine Illusion. Wer aber bereit ist, in Echtzeit auf modernster Grundlage rhetorisch zu sprechen, zu kommunizieren und zu führen, der kann das reale Game of Power gewinnen oder zumindest erfolgreich im Beruf und Privatleben sein.
III. Der Hörer ist das Ziel: Was ein Redner bei seinen Hörern voraussetzen kann – und wie er an sie herankommt
1. Die Interaktion Redner – Hörer
Nachdem wir die wesentlichen modernen Erkenntnisse erarbeitet haben, die dem kommunikativen Denken zugrunde liegen, können wir uns nun der Interaktion zwischen Redner und Hörer/Zuschauer zuwenden. Diese Interaktion heißt Kommunikation. Und auch hierfür gibt es einige wesentliche Grundlagen, die wir als Redner unbedingt kennen sollten: Nur dann können wir wirksam beeinflussen. Sollten Sie dies vertiefen wollen, darf ich Ihnen dazu eine Empfehlung mitgeben: Das deutsche Standardbuch hierzu ist nach wie vor von Friedemann Schulz von Thun „Miteinander reden 1: Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation“; es erscheint seit über 30 Jahren mittlerweile in der 54. Auflage (s.a. zu den psychologischen Grundlagen Höhle, Psycholinguistik).
Grundlage der wirksamen Kommunikation ist die Erkenntnis, dass sie auf verschiedenen Kanälen parallel erfolgt. Wir kennen zwei Hauptkanäle: Verbale Kommunikation und nonverbale Kommunikation. Beide Aktivitätsebenen „produziert“ der Redner zur gleichen Zeit und parallel. Und nur dann, wenn beide „Produkte“ authentisch und glaubwürdig parallel beim Zuhörer ankommen, wird dieser den Redner und seine Rede akzeptieren.
Da wir uns der nonverbalen Kommunikation noch später intensiv widmen, zuerst eine Darlegung der wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur verbalen Kommunikation. Die verbale Kommunikation ist – wie wir mittlerweile wissen – ein „Gemeinschaftsprodukt“ von unbewusstem System 1 und bewusstem System 2. Diese Kooperation führt letztlich zu vier potentiellen Inhalten einer Rede und damit ihrer Kommunikationsaussage:
1 Die Sachinformation: Hier wird, klar von System 2 überwacht, das mitgeteilt, was sachlich-objektiv vermittelt werden soll.
2 Die Selbstkundgabe: Der Produktion der Sachinformation geht in wenigen Millisekunden in den aktivierten Gehirnteilen eine kaum messbare Fülle von neuronalen Abgleich-, Emotions- und Generationsprozessen voraus, die tief in den unbewussten Teil des System 1 hineinreichen. Damit ist unvermeidlich, dass wir auch viel von dem kundgeben, was buchstäblich „in uns arbeitet“, wie wir zu der mitgeteilten Information stehen: Zuversicht, Konstruktivität, Sorge, Destruktivität, neutrale Einstellung und vieles andere mehr. Wir haben dabei schon drei Instrumente kennen gelernt, die hier reflexiv unsere Einstellung mit beeinflussen: das Priming, das Ankern und das Framing (s.o. S. 31ff.). Dies gilt nicht nur für den Zuhörer, sondern auch für den Redner selbst: Wenn er zum Beispiel einen inhaltlichen Frame/Rahmen setzt, dann gibt er bewusst und auch unbewusst, also auf beiden Ebenen, kund, innerhalb dieses Frames weitersprechen und seine Gedanken an den Hörer vermitteln zu wollen. Gerade die Beeinflussung der unbewussten Gedankenführung darf hier nicht ausgeklammert werden; Frames können sich dabei über die Sprachverarbeitung hinaus sogar auf die Wahrnehmung auswirken (vgl. Wehling mit Beispielen, S. 32f.).Ein kleines Beispiel aus meiner Praxis: Bei der Besprechung eines studentischen Projektes zur beruflichen Integration von Flüchtlingen ging es um die Frage von Eignungskriterien, die Flüchtlinge für eine Studienrichtung erfüllen sollten. Ich erwähnte dabei scherzhaft ein bekanntes Leitmotto der Justizvollzugsanstalt Stadelheim in München: „Wir nehmen jeden“, um zu demonstrieren, dass man in einem Studienprojekt eben nicht jeden nehmen könne. Dies führte dazu, dass die Projektleiterin im folgenden Redebeitrag ausführte, welche Eigenschaften sie von ausgewählten Häftlingen (nicht Flüchtlingen!) erwarte. Errötend beschrieb sie mir später die unbewusste Denksequenz, die zu diesem belachten Versprecher führte – der Inhalt der Selbstkundgabe war Abgelenktsein und die Verarbeitung einer persönlichen Erfahrung.
3 Die Beziehungsindikation: Mit der unbewussten Verarbeitung einher geht auch die zumeist unbewusste Verarbeitung, wie das Gehirn des Redners zu Zuschauern und Umwelt steht. Dies kann von neutral und sachlich über wohlwollend bis hin zum Extremfall, der kundgegebenen Angst vor oder der Wut in der Kommunikationssituation reichen. Für den daraus resultierenden Gefühlssturm beim Redner kennen wir auch einen Begriff im Extremfall der Angst: das Lampenfieber (dazu eingehend Kapitel X.3). Wortwahl, nonverbale Signale bis hin zur Tonhöhe: eine Fülle von Parametern wird unbewusst beeinflusst, produziert, aber damit auch für den Zuhörer wahrnehmbar gemacht.Die Kommunikationswissenschaft hat dabei überzeugend herausgearbeitet, wie eine gestörte Einstellung des Redners zum Zuhörer, versteckte Aggressionen, Sorgen und Ängste buchstäblich „zwischen den Zeilen“ durch das unbewusste System 1 des Redners eingearbeitet werden und konsequenterweise auch vom Hörer herausgelesen werden können. Die wichtige und bekannte Analysefrage „Was sagt er – was meint er“ ist zentral mit dieser Beschreibung der Beziehungsebene verbunden.Ein klassisches Beispiel für die Bedeutung der Beziehungsindikation finden wir beim Einstieg in die Rede: Hier ist es ein wesentliches Ziel, die Beziehungsebene zwischen Redner und Hörer vor allem zu Beginn einer Rede positiv zu gestalten. Ein gerade in den USA sehr beliebtes Mittel dazu ist etwa ein selbstironischer witziger Redeeinstieg. Der Redner konzentriert sich nicht auf die Sachinformation, sondern lockert die Atmosphäre dadurch auf, dass er sich selbst auf die Schippe nimmt. Er will damit von der Stufe der Rednerautorität herabsteigen und begibt sich auf eine Ebene mit den Zuhörern, insbesondere um Vorbehalte auszuschalten. Lachen über einen Witz steigert unmittelbar die sogenannte „kognitive Leichtigkeit“ und das Wohlwollen des unbewussten System 1 des Hörers (vgl. Kahneman, S. 93; s.a. unten S. 237). Die Selbstkundgabe und die Gestaltung der Beziehungsebene stehen für den Redner in diesem Moment im unausgesprochenen (!) Vordergrund. Auch die alte römische Rhetorik kannte diese Wirkung – selbst wenn sie von der modernen Kommunikationswissenschaft noch weit entfernt war. Sie verwendete das Stilmittel der „captatio benevolentiae“: Erheische das Wohlwollen des Auditoriums!
4 Die Appell-Ebene: In ihr kommt der Zweck der Kommunikation zum Ausdruck. Ich will den Zuschauer/Hörer zu einem bestimmten Verhalten, zu einer Entscheidung oder Einstellung auffordern.Schon auf der neuronalen Ebene der Redeschöpfung weiß das unbewusste System 1 durchaus, was es will. Es will mehr als nur die Beziehungsebene gestalten, sondern effektiv ein Ziel erreichen. Auf dem erfolgreichen Weg dorthin warten aber viele Hindernisse wie die geschickte Dosierung, die strategische Vorbereitung und die finale Aufforderung.Sicher steht diese Appell-Ebene nicht immer im Vordergrund, etwa bei der sogenannten Anlass- bzw. Festrede – es sei denn, man zählt den (ohnehin erwarteten) Applaus dazu. Bei der Überzeugungsrede hingegen ist die Appell-Ebene ganz klar der wesentliche Inhalt und das angestrebte Ziel des Redners. Dabei ist zu beachten, dass zu viel Appell das Gegenteil erreicht und abstoßend auf den Hörer wirken kann. Sehr leicht kippt die Stimmung, wenn der „Kauf mich, zahl es, zieh in den Krieg“-Appell wiederholt, geradezu stakkatoartig intoniert wird. Wie es richtig geht, werden wir noch sehen.
Worauf soll ich mich als Redner bei diesen vier Ebenen konzentrieren – was soll ich als Zuschauer heraushören? Diese Fragen beziehen sich im Wesentlichen auf unser bewusst denkendes System 2. Seine Aktivität ist energieaufwendig und seine Aufnahmefähigkeit überschaubar – um seine Kapazitäten einzuschätzen, muss man nicht die (angebliche) Unfähigkeit des Mannes zum Multitasking bemühen. Beachten Sie daher unbedingt folgenden Hinweis: Niemand kann auch nur über einen kurzen Zeitraum hinweg alle vier Ebenen gleichzeitig bewusst kommunikativ gestalten oder mitverfolgen.
Die Konsequenz ist klar: Was wir bewusst übermitteln, bezieht sich in der Regel auf ein bis maximal zwei Kanäle von vier Kanälen; der Rest wird unbewusst durch System 1 mitgesteuert. Der Zuschauer verhält sich als Empfänger der Kommunikationsbotschaften genauso. Nur wissen wir in der Regel nicht, ob er sich gerade auch bewusst auf dasselbe konzentriert wie der Redner oder ob es nicht ein anderer Kanal ist. Daher sollte zumindest die unbewusste Mitsteuerung der sonstigen Mitteilungskanäle des Redners synchron verlaufen! Sonst fällt dem Zuhörer womöglich auf, dass zwischen dem bewussten und dem unbewussten Auftreten eine Diskrepanz besteht. Bedenken Sie, dass gerade dies unbewusst Misstrauen, Unglauben und Skepsis im Hörer hervorrufen kann. Er spürt intuitiv, dass etwas nicht stimmt. Der weitverbreitete Appell von Redetrainern: „Seien Sie natürlich, seien Sie authentisch“ setzt hier an. Wie wir das effektiv umsetzen, werden wir noch sehen.
2. Kommunikation als Transaktion
Kommunikation – auch in der Rede – ist gleichzeitig als Transaktion zu verstehen. Diese Dimension der Kommunikation bringt zum Ausdruck, dass man nicht nur spricht, „sondern der eine dem andern etwas tut und dieser wieder etwas tut“ (transactional stimulus und transactional response). So verstanden kann Reden also bereits Handeln sein! (Vgl. dazu Harris, S. 27ff.) Von dieser Eigenschaft der Rede als Handeln, das wirken kann wie Gewalt oder Zuneigung, erzählen auch viele Sprichwörter.
„Lieber mit den Füßen ausrutschen als mit der Zunge.“
„Die Zunge hat keinen Knochen, aber sie kann ein Rückgrat brechen.“
Es liegt auf der Hand, dass sich der Redner daher bewusst sein sollte, dass er schon allein mit Worten handelt und was sein Handeln auslösen kann. Die Transaktionsanalyse als eine Teildisziplin der Psychologie hat dazu zwei wesentliche Erkenntnisse für das richtige Reden entdeckt und entwickelt. Die erste betrifft unsere Sicht auf uns und die anderen: o.k. oder nicht o.k. Die zweite betrifft die Instanzen, die diese Entscheidung beeinflussen: das Eltern-Ich, das Erwachsenen-Ich und das Kindheits-Ich.

Die Transaktionsanalyse als psychologische Theorie wurde von dem US-amerikanischen Psychiater Eric Berne (1910–1970) entwickelt und u.a. in dem wegweisenden Buch „Die Spiele der Erwachsenen: Psychologie der menschlichen Beziehungen“ (1964) anwendungsorientiert beschrieben. Thomas Harris (1919–1995) als enger Mitarbeiter von Eric Berne konzentriert sich in „Ich bin o.k., Du bist o.k.“ (1963, Deutsch 1973) auf die wesentlichen Kernaussagen, die sich aus dem Verständnis der menschlichen Kommunikation als Transaktion ergeben. Dies betrifft zum einem die Aufdeckung von drei klassischen Ich-Zuständen, mit und in denen jeder Mensch situationsbezogen denken kann: Es handelt sich um das Eltern-Ich, das Erwachsenen-Ich und das Kindheits-Ich. Harris kombiniert diese „Seinszustände“ (S. 33) mit der Beschreibung von vier möglichen Grundeinstellungen („Lebensanschauungen“, S. 54ff.) eines Menschen zu sich und seinen Mitmenschen. Damit legt er die Grundlage zu einem ganzheitlichen psychologischen Verständnis des menschlichen Denkens und seiner unbewussten, aber auch bewusst gestalteten Beziehung zur Umwelt mittels Kommunikation. Dieses Verständnis spielt auch für die Rhetorik als spezifischer Disziplin in der Schnittstelle der Kommunikation eines Redners zu seinem Publikum eine große Rolle.
Aus Sicht der Transaktionsanalyse ist die Einstellung des Redners zum andern und zu sich selbst letztlich fast digital: o.k. oder nicht o.k. (vgl. Harris, S. 54ff.). Daraus resultieren vier grundsätzliche Lebensanschauungen/-einstellungen, die auch die Kommunikation zutiefst prägen (man spricht auch von den sogenannten emotionalen Kernpositionen):
1 Ich bin o.k. – du bist o.k.
2 Ich bin o.k. – du bist nicht o.k.
3 Ich bin nicht o.k. – du bist o.k.
4 Ich bin nicht o.k. – du bist nicht o.k.
Man muss kein studierter Psychologe sein, um zu wissen, dass die tendenzielle persönliche Einstellung zu sich selbst und die persönliche emotionale Kernposition zum anderen die Kommunikation und damit auch eine Rede enorm beeinflussen kann. Dabei kann gerade der „nicht o.k.“-Modus des Selbst von Minderwertigkeitsgefühlen bis hin zur Selbstaggression reichen (vgl. Harris unter Bezug auf Alfred Adler, S. 62f.). Natürlich muss das in der Rede nicht offenkundig sein. Wir wissen und wir werden noch weiter kennen lernen, wie hervorragend das bewusste System 2 auch schauspielern und täuschen kann. Nicht umsonst heißt das Hauptwerk von Eric Berne, dem Begründer der Transaktionsanalyse, „Spiele der Erwachsenen“.
Egal wie gut Sie Ihr System 2 im Griff haben: Das unbewusste System 1 arbeitet währenddessen auf der Grundlage dieser „emotionalen Basisverdrahtung“ in den Abermillionen seiner neuronalen Verknüpfungen permanent im „o.k. – nicht o.k.“-Modus und generiert so auch die Vorlagen für das bewusste Sprechen. Damit generiert es auch die Vorlagen für das Verstehen! Beides geschieht folglich durch einen positiven oder negativen Filter. Für den Redner heißt das: Beeinflusse die Beziehung zum Zuschauer in Richtung „ich bin o.k. – du bist o.k.“. Dieser Maxime entspricht die (rhetorische …) Frage des Rhetorik-Trainers: „Meinen Sie, Sie können mit einer negativen Selbstausstrahlung oder einem erkennbar negativen Selbstbild andere positiv rhetorisch lenken?“ Und ebenso: „Meinen Sie, Sie können mit einer negativen Bewertung von Zuhörer und Publikum dieses positiv rhetorisch lenken?“