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Ursula Neeb

Ein britischer Krimi
aus den 20er Jahren

Für Markus und Twiggy,
meine Liebsten
»Panischer Schrecken (Panik), aus dem Altertum überkommener Ausdruck, womit man jeden heftigen Schrecken bezeichnet, der unerwartet, schnell und oft ohne sichtbare Veranlassung die Gemüter der Menschen ergreift.« (Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15, Leipzig 1908, S. 361)
»Erstaunlich, dass der Mensch nur hinter seiner Maske ganz er selbst ist.« (Edgar Allan Poe, 1809–1849)
Inhalt
Prolog
I. TEIL: BRUDER PAN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
II. TEIL: Die Seele des Mörders
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
EPILOG
Nachwort

Er hatte sie zur Feier des Tages zum Fünf-Uhr-Tee in den Wintergarten des noblen Seehotels eingeladen und sie schwebte regelrecht im siebten Himmel, als ihnen der livrierte Kellner die Prinzessinnentorte servierte, deren Anblick ein Traum war.
»Der aus Stockholm stammende Konditormeister liefert diese Tortenspezialität sogar in den Buckingham-Palast«, erläuterte er mit verliebtem Blick und küsste sie zärtlich auf die Nasenspitze. »Ich dachte mir, diese ausgesuchte Köstlichkeit ist für meine Prinzessin genau das Richtige.«
Sie hatte bereits von der mit hellgrünem Pistazienmarzipan überzogenen Schichttorte gekostet und verdrehte schwärmerisch die Augen. »Zu behaupten, jemals etwas Himmlischeres gegessen zu haben, wäre die reinste Lüge«, seufzte sie wohlig und genoss es grenzenlos, mit ihm an diesem wundervollen Ort zu sein.
Das üppige Palmengrün, die Orchideen in ihrer mannigfaltigen Farbenpracht und die anderen exotischen Pflanzen in der lichtdurchfluteten Glasveranda, deren Mobiliar und Accessoires ganz im Jugendstil gehalten waren, trugen dazu bei, dass sich die Gäste wie in einem Garten Eden wähnten. Eine kunstvolle Voliere mit zierlichen zitronengelben Kanarienvögeln, die anmutig trällerten und zirpten, und ein Springbrunnen mit rosafarbenen Seerosen rundeten die malerische Umgebung noch ab, die durchsetzt war von Klavierklängen, welche aus dem Nachbarraum herüberdrangen.
Sie wiegte sich im Takt. »Ein Walzer«, sagte sie mit übermütigem Lächeln, »wie schön! Ich krieg richtig Lust zu tanzen.«
»Das können wir gerne gleich machen, wenn wir unsere Torte verspeist haben, denn davon lass ich nicht den kleinsten Krümel auf dem Teller.«
Als sie aufgegessen hatten, stand er von seinem Stuhl auf, forderte sie mit höflicher Verbeugung zum Tanz auf und führte sie in den Innenraum des zum Luxushotel gehörenden Cafés, wo täglich um 17 Uhr ein Tanztee stattfand. Seitlich der kleinen Tanzfläche befand sich ein Flügel, auf dem ein Klavierspieler gängige Tanzmelodien spielte. Als der Pianist den Walzer »An der schönen blauen Donau« von Johann Strauss anstimmte, mischten sie sich begeistert unter die tanzenden Paare.
»Ich habe noch nie einen Walzer getanzt«, gestand sie leicht verlegen.
»Das ist doch kein Problem«, entgegnete er. »Vertrau dich einfach meiner Führung an!«
Schon nach den ersten Schritten war es ihr, als habe sie nie etwas anderes getan, und sie wirbelten schwungvoll über die Tanzfläche. Da wurde es ihr von den ständigen Umdrehungen ganz schwindelig, und sie bat ihn, nicht ganz so ausgelassen zu tanzen.
Er lächelte verschmitzt. »Schau auf mein Revers, das hilft gegen den Schwindel!«
Sie beherzigte seinen Ratschlag und richtete ihren Blick auf das Revers seines Jacketts. Sie mochte ihren Augen nicht trauen, als sie im Knopfloch seiner Jacke eine apricotfarbene Rosenblüte gewahrte. Der Duft, der ihr in die Nase stieg, war so schwer und süß, dass sie mit einem Mal ganz benebelt war.
Bathsheba, hallte es ihr durch die Sinne und sie fragte sich verwundert, woher er plötzlich diese Rose hatte. Die hat er doch vorher nicht getragen, das wäre mir aufgefallen …
Mit einem Anflug von Bangigkeit streifte ihr Blick über sein Gesicht – und ihr stockte der Atem, als sie erkannte, dass der Mann, mit dem sie in immer schnelleren Umdrehungen den Tanzboden umrundete, sich verändert hatte. Der Tänzer, der sie um gut eine Haupteslänge überragte, trug eine dunkle Sonnenbrille und grinste hämisch auf sie herab. Wie gebannt starrte sie ihn an und gewahrte zu ihrem grenzenlosen Entsetzen, dass sie in die schwarzen Augenhöhlen eines Totenschädels blickte.
Der Totenkopf neigte sich zu ihr herunter und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich werde dich vernichten!«


Die schäumende Gischt der aufgewühlten See stob in die Gesichter der beiden Reisenden, die am Abend des 26. November 1922 mit dem letzten Passagierdampfer am Hafen von Cefalù in Sizilien anlangten. Bis auf eine Gruppe Fischer, die sich auf der Rückseite eines umgedrehten Bootes niedergelassen hatten und über einem Feuer Sardinen rösteten, war der Kai wie ausgestorben. Die Frau im knöchellangen Tigerfellmantel mit der modischen Bubikopf-Frisur, die in Begleitung eines hageren jungen Mannes die Mole überquerte, zog sogleich alle Blicke auf sich. Mit ihrem mokkabraunen Haar, dem dunklen Teint und den schwarzen Kohleaugen hätte man sie für eine Sizilianerin halten können, doch ihre Extravaganz und die dominante Art, mit ihrem jungenhaften Begleiter im Schlepptau voranzustolzieren, straften diesen Eindruck Lügen.
Zielstrebig stakste die Frau mit den geschwärzten Augenlidern und den kirschrot geschminkten Lippen auf die Gruppe zu und richtete in gebrochenem Italienisch das Wort an sie: »Scusa, palare inglese?«
Ihre tiefe rauchige Stimme, die animalischen Gesichtszüge und die Verruchtheit, die von ihr ausging, weckten bei den Sizilianern Begehrlichkeit. Die Männer verneinten ihre Frage mit breitem Grinsen, woraufhin sich die Frau nach einer billigen Unterkunft erkundigte.
»Non caro?«, fügte sie hinzu.
»Non caro«, wiederholte einer der Fischer mit anzüglichem Blick auf die Fremde.
Dann trat ihr Begleiter, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte, an die Fischer heran. Im Vergleich zu der Frau, der man ansah, dass sie gelebt hatte, wirkte der schlaksige Mann mit dem Jungengesicht wie ein Oberschüler. Der Altersunterschied der beiden war so offensichtlich, dass die Sizilianer sie für Mutter und Sohn hielten. Nach einem kurzen Wortwechsel mit den Einheimischen, bei dem sich das Missverständnis dahingehend aufklärte, dass es sich bei dem vermeintlichen »figlio« tatsächlich um den »marito« von »la tigre« handelte, fragte der junge Mann die Fischer nach dem Haus eines gewissen Signore Crowley. Bei der Erwähnung des Namens prusteten die Männer los und schienen sich über gar nichts mehr zu wundern.
Den Heiterkeitsausbruch der Fischer ignorierend, wandte sich die Frau im Tigerfellmantel murrend an ihren Ehemann: »Baby, es ist doch schon viel zu spät, um dort noch hereinzuplatzen. Lass uns lieber im Ort ein Zimmer nehmen und morgen hingehen!«, suchte sie ihn umzustimmen, doch »Baby« zeigte sich widerspenstig.
»Was für ein Unsinn, Betty! Meister Therion wird mit Sicherheit noch wach sein«, schnaubte er und machte seiner Gattin unmissverständlich klar, dass er auf der Stelle zur Abtei wolle – weswegen sie ja auch hier seien.
Die Frau seufzte resigniert und unterwarf sich dem Eigensinn ihres Gefährten, gegen den sie, wie sie in der Vergangenheit gelernt hatte, ohnehin machtlos war. Die Fischer hatten unterdessen zwar nicht genau verstanden, um was es ging, waren jedoch zu der Erkenntnis gelangt, dass »la tigre« zwar die Hosen anhatte, aber ihr Begleiter bestimmte, was gemacht wurde. Das nötigte ihnen einen gewissen Respekt ab. So erbot sich auch einer von ihnen, dem Paar den Weg zum Haus von »il mago« zu zeigen, wie Aleister Crowley von den Einheimischen genannt wurde.
Als sie durch das Gewirr der engen Gassen mit den pittoresken zitronenfarbenen Häusern liefen, die mit dem wuchtigen Felsmassiv im Hintergrund zu verschmelzen schienen, kam es Betty so vor, als habe sie nie eine malerischere Stadt gesehen. Dennoch war Cefalù für sie der letzte Ort auf der Welt, an den sie freiwillig gezogen wäre. Wegen des verfluchten Magiers und seiner unseligen Abtei hasste sie die ganze Stadt und wenn Raoul nur den Namen Cefalù erwähnte, was er in letzter Zeit ständig getan hatte, wurde ihr regelrecht übel. Aber sie war mitgekommen, um Raoul nicht gänzlich an Crowley zu verlieren. Immerhin war sie schon 38 und würde nicht für immer als Modell in der Londoner Künstlerszene arbeiten können.
Sie sah den Magier noch deutlich vor sich. Vor gut einem Jahr – Raoul und sie waren gerade frisch verheiratet und noch glühend verliebt gewesen – hatte er an die Tür ihres Zimmers in Soho geklopft. Nichtsahnend hatte sie aufgemacht und sich Auge in Auge mit einem korpulenten Mann mit Glatze befunden, der einen Schottenrock getragen und einen Holz-Stab mit einem Schlangensymbol in der Hand gehalten hatte. Er hatte dunkle, fiebrig glänzende Augen, mit denen er sie regelrecht hypnotisiert hatte. Sein süßlicher Geruch war ekelerregend gewesen.
Er hatte den Stab gehoben, als ob er sie hatte segnen wollen, und gewichtig genäselt: »Tu was du willst, sei das ganze Gesetz!« Anschließend hatte er sich als Aleister Crowley vorgestellt und Raoul Loveday zu sprechen gewünscht.
Als Betty ihm daraufhin mitgeteilt hatte, dass Raoul nicht da sei, hatte er sie gebeten ihm auszurichten, er möge Crowley am Abend bei einer gemeinsamen Bekannten namens Betty Bickers aufsuchen. Der Mann war ihr vom ersten Moment an zuwider gewesen. Bereits damals hatte sie geahnt, dass er ihr Unglück bringen würde. Seitdem hatte das Verhängnis seinen Lauf genommen und Raoul war ihr mehr und mehr entglitten. Was war nur aus dem jungen Oxford-Studenten geworden, der ganz verrückt nach ihr gewesen war und sie unbedingt hatte heiraten wollen? Nach zwei glücklosen Ehen hatte Betty das Gefühl gehabt, in Raoul endlich die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben. Doch inzwischen kam es ihr so vor, als sei er mehr mit Crowley als mit ihr verheiratet. Solange der Magier in London geweilt hatte, war Raoul ständig mit ihm zusammen gewesen und nächtelang nicht nach Hause gekommen. Wenn er dann zurückgekehrt war, war er total verdreckt gewesen, hatte nach Äther gestunken und war so erschöpft gewesen, dass er nur noch hatte schlafen wollen. Er hatte Betty auch nicht mehr angerührt. Als Crowley dann endlich abgereist war, war sie erleichtert gewesen und hatte gehofft, dass es zwischen ihr und Raoul wieder so werden würde wie früher. Doch was für ein Trugschluss! Denn Meister Therion, wie Raoul den Magier ehrfürchtig zu nennen pflegte, hatte ihn nicht mehr losgelassen und ihn selbst aus der Ferne noch beeinflusst. Ständig hatte er Raoul Briefe geschrieben, die Raoul mit der Begründung vor ihr zurückgehalten hatte, sie gingen nur ihn und Meister Therion etwas an. Er schwärmte von Crowley in den hellsten Tönen und hielt ihn für den größten Magier aller Zeiten. Als er unlängst von Crowley gebeten worden war, zur Abtei von Thelema zu kommen, um sein magisches Erbe anzutreten, war Raoul nicht mehr zu halten gewesen. Obgleich es der Okkultist tunlichst vermieden hatte auch Betty einzuladen, hatte sie darauf bestanden mitzukommen.
Jetzt erst recht, hatte sie gedacht und das Nötigste zusammengepackt. Ganz so leicht würde sie es Crowley nicht machen, Raoul vollständig zu vereinnahmen. Im Gegenteil: Er sollte sich an ihr die Zähne ausbeißen! Denn wenn es etwas gab, das Betty beherrschte, dann war es das Kämpfen. Früh hatte sie es lernen müssen, in dem Rattenloch unweit der Victoria Docks am Londoner Hafen, wo sie aufgewachsen war.
Während sie ihren düsteren Gedanken nachhing und hinter Raoul und dem Fischer den steilen Olivenhain erklomm, zeichneten sich in der Dunkelheit die Umrisse eines Gebäudes ab.
»Das ist die Abtei«, rief Raoul begeistert und bat Betty, dem Fischer, der sich auf den Rückweg machen wollte, einen Obolus für seine Hilfsbereitschaft zu geben, der in Anbetracht ihrer Geldknappheit allerdings recht dürftig ausfiel. Während sich Betty noch bei dem Mann bedankte, stürmte Raoul bereits den steilen Hügel hinauf. Dann wartete er vor dem Eingang des weißen, niedrigen Hauses, bis Betty ihn erreicht hatte. Seine dunklen Augen glänzten ergriffen, als er die Inschrift über der Tür vorlas: »Tu was du willst, soll sein das einzige Gesetz.« Er warf Betty einen seligen Blick zu. »Du glaubst ja gar nicht, wie glücklich ich bin, hier zu sein.«
Betty hatte es die Sprache verschlagen. Wie aus dem Nichts erschien plötzlich ihr Hochzeitsfoto vor ihrem geistigen Auge, das sie schon damals so schockiert hatte – mit seinen bleichen, eingefallenen Wangen und den tiefen Augenhöhlen sah Raoul darauf aus wie ein Leichnam. Sie war zwar viel zu abgeklärt, um abergläubisch zu sein, doch die dunkle Ahnung, die ihr schlagartig das Blut in den Adern gefrieren ließ, brach sich Bahn. Sie schloss Raoul in die Arme und drückte ihn an sich wie eine Ertrinkende.
»Darling, ich flehe dich an, lass uns umkehren! Dieser Mann ist dein Untergang«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.
Doch Raoul entwand sich gereizt ihrer Umarmung. »Was weißt du schon von Magie, du törichtes Geschöpf?«, sagte er abschätzig und klopfte an die wurmstichige Holztür.
Eine große, ausgemergelte Frau mit hennarot gefärbten Haaren und glasigen Augen, die in eine scharlachrote Robe gehüllt war, öffnete ihnen und bat sie hinein. Der niedrige, nur von Kerzenlicht erleuchtete Raum war so durchdrungen von Opiumqualm und beißendem Äthergeruch, dass es Betty den Atem verschlug.
Die Frau deutete auf ein Tablett. »Darf ich dir einen Lichtkuchen anbieten, Schwester?«, säuselte sie mit gedämpfter Stimme.
Die Kekse sahen wenig appetitlich aus und Betty musste gegen ihren Ekel ankämpfen, als sie einen ergriff und hineinbiss. Sie schmeckten zum Ausspeien.
»Unsere eucharistischen Hostien, die Lichtkuchen, sind aus Exkrement, auf das wir sie essen in Ehrfurcht und Liebe«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihr.
Betty fuhr herum und erkannt Crowley, der sie mit einem boshaften Lächeln genau beobachtete. Ihr drehte sich förmlich der Magen um, doch sie riss sich zusammen, da sie ihm den Triumph nicht gönnte.
Crowley musterte sie ungehalten. »Sie riecht nach Pöbel«, murmelte er abschätzig zu Raoul, der verlegen den Blick senkte.
Als ob er sich für mich schämt, ging es Betty durch den Sinn und ihr Herz schlug vor Zorn und Erbitterung bis zum Hals. »Das sagt der Richtige«, blaffte sie mit höhnischem Blick auf den Magier. »Ich will ja niemandem zu nahe treten, aber ein heißes Bad und ein Stück Seife können manchmal Wunder bewirken und«, sie rümpfte angewidert die Nase, »ab und zu mal lüften und den Boden wischen könnte auch nichts schaden.«
»Das darfst du gleich morgen erledigen«, raunzte Crowley.
»Wie bitte«, rief Betty entrüstet. »Ich bin doch nicht deine Putzfrau.«
»In der Abtei von Thelema hat jeder seine Aufgaben und deine wird es fortan sein, die Böden zu putzen und das Haus in Ordnung zu halten – und wenn dir das nicht passt, kannst du gleich wieder gehen.«
Betty starrte den Magier, der sich bedrohlich vor ihr aufgebaut hatte, vernichtend an. Das käme dir doch nur gelegen, dachte sie erbost und da sie ihm diesen Gefallen nicht tun wollte, erklärte sie ausweichend, man werde sehen.
Auch Crowley schien von seinem Konfrontationskurs abzuweichen und wandte sich Raoul zu, der den Wortwechsel mit betretener Miene verfolgt hatte. Er drückte den hageren Studenten an seine Brust und verkündete weihevoll: »Welch eine Lichtgestalt in unserer Abtei! Du bist ein Mann, der zum Magier geboren wurde, und genau der Schüler, den ich mir schon immer gewünscht habe.« Er küsste Raoul mitten auf den Mund und bat ihn in die Halle, auf deren rotem Kachelboden ein magischer Kreis mit einem Pentagramm gezeichnet war. Dort wies er auf die dünne Frau mit den Flecken im Gesicht. »Das ist meine erste Konkubine Alostrael, meine Frau in Scharlach.« Dann stellte er Raoul Schwester Ninette, seine zweite Konkubine, und zwei etwa fünf- und sechsjährige Jungen vor. »Meine Söhne Hermes und Dionysos«, erläuterte er stolz.
Verblüfft gewahrte Betty, dass der ältere der beiden, der Junge mit den filzigen blonden Haaren, eine Zigarette rauchte.
»Mein Vater ist das Tier 666 und ich bin das Tier Nummer zwei«, krächzte der Knirps, als er Raoul die Hand reichte. »Ich kann euch alle zerschmettern, wenn ich will!«, schrie der Dreikäsehoch und blies Raoul, der sich mühte, gute Miene zu machen und dem Berserker mit Wohlwollen zu begegnen, den Zigarettenqualm ins Gesicht.
Die dünne Frau mit dem roten Gesicht legte begütigend den Arm um den Jungen. »Schon gut, Hansi, wir wissen doch, dass du Daddys Nachfolger bist. Hansi ist schon immer ein Wildfang gewesen«, richtete sie sich entschuldigend an den Gast.
Betty fiel auf, dass die Arme der Frau in Scharlach von blutigen Schnitten übersät waren, und sie fragte sich beklommen, ob Crowley ihr diese zugefügt hatte. Ihre Blicke schweiften über die Wände, die von Gemälden mit Phalli und Vulven in sämtlichen Dimensionen und Variationen geziert wurden. Auf einem der stümperhaft gemalten Bilder konnte sie einen Mann mit Crowleys Gesichtszügen ausmachen, der mit dem Ziegengott Pan kopulierte, was ihre Vermutung bestätigte, dass der Magier bisexuell war.
»Gefällt dir das Bild?«, fragte Crowley, der Betty offenbar beobachtet hatte, mit einer gewissen Anspannung. »Ich habe es im Sommer gemalt – gewissermaßen als Erinnerung an Bruder Pan, der ein Adept von mir war.«
Betty musterte den Okkultisten, dessen Blick unversehens wie gehetzt wirkte, verwundert. »Ehrlich gesagt, ich finde es schrecklich«, erwiderte sie wahrheitsgemäß. »Vor dem Ziegenbock kann man ja das Grausen kriegen, der sieht aus wie der Leibhaftige.«
»Er ist der Leibhaftige«, stieß Crowley kurzatmig hervor und ließ sich keuchend auf eine der schmuddeligen Matratzen sinken, die im Raum herumlagen. Mit bebenden Händen zündete er sich eine Opiumpfeife an und nahm mehrere tiefe Züge, während sich seine beiden Konkubinen mit besorgten Mienen zu ihm gesellten.
»Warum hängst du das verfluchte Bild nicht endlich ab und verbrennst es wie den anderen Kram von Bruder Pan?«, fragte ihn die Frau in dem scharlachroten Gewand bekümmert. »Es verbreitet schlechte Vibrationen.«
»Du verstehst das einfach nicht, Alostrael, das hab ich dir doch schon hundertmal gesagt«, erwiderte der Magier erbost. »Das Bild ist ein Bannzauber, es soll Bruder Pan von hier fernhalten.« Er schaute mit schweren Lidern zu Raoul und Betty, die die Unterredung mit betroffenen Mienen verfolgt hatten.
»Kann ich Euch helfen gegen das Böse, Meister?«, fragte Raoul ergeben.
Crowley schüttelte den Kopf. »Darüber sprechen wir ein anderes Mal – wenn wir unter uns sind«, erklärte er mit unwilligem Blick auf Betty. »Setzt euch hin und ruht euch aus, den Eid der Verbündeten legen wir morgen ab. Schwester Ninette kann euch Wein bringen.« Er gab seiner zweiten Konkubine einen herrischen Wink. »Und hol auch die Tarot-Karten aus meinem Zimmer!«
Betty und Raoul setzten sich auf eine Matratze mit gelblichen und rötlichen Flecken, die Betty an Sperma und Blut gemahnten. Sie seufzte angewidert und entnahm der Tragetasche, die sie neben sich auf den Boden gestellt hatte, eine Cognacflasche, die sie entkorkte, an den Mund setzte und in großen Schlucken daraus trank, ehe sie Raoul die Flasche anbot. Er nahm einen Schluck und reichte die Flasche weiter an Crowley, was ihm einen ärgerlichen Blick von Betty einbrachte – zum einen, da sie nicht aus einer Flasche mit dem Magier und seiner ungepflegt anmutenden Entourage trinken mochte, zum anderen, weil sie um die eigene Ration bangte, die sie besonders heute bitter nötig hatte.
Nachdem Schwester Ninette, die auch die Kinder ins Bett gebracht hatte, mit einer Korbflasche, zwei Bechern und Crowleys Tarot-Karten zurückgekehrt war, fing der Magier sogleich an, die Karten zu mischen und in Form eines umgekehrten Kreuzes verdeckt vor sich auf den Bodenkacheln auszubreiten. Keiner der Anwesenden sprach ein Wort, als er sie nach und nach aufdeckte und ihre jeweilige Bedeutung wortreich kommentierte. Bei der letzten Karte entrang sich ihm ein panischer Aufschrei und er starrte entsetzt darauf.
»Es ist die Karte fünfzehn, der Teufel«, murmelte er. »Das ist nicht der Gehörnte Gott, das ist Bruder Pan! Er ist immer noch hier und bedroht mich«
Am Morgen versammelten sich alle Bewohner der Abtei im »Kultraum«, wie der Wohnraum mit der niedrigen Decke hochtrabend genannt wurde. Raoul und Betty sollten vor dem Meister den Eid der Verbündeten ablegen. Der Okkultist trug zu dem feierlichen Akt einen goldverbrämten schwarzen Seidenkaftan, der mit einem goldenen Pentagramm und anderen okkulten Symbolen bestickt war. Seinen Kopf krönte eine schwarze Samt-Tiara, auf deren Vorderseite ein magisches Auge prangte.
»Weil wir gestern Abend nicht dazu gekommen sind, will ich euch vor dem Ritual noch rasch die Frau von Raoul Loveday vorstellen«, skandierte Crowley tückisch und deutete auf Betty. »Betty May – oder die Tiger-Frau, wie sie in den Lasterhöhlen von Soho genannt wird. Im Harlequin Club, einer heruntergekommenen Kaschemme, wo nur Fixer, Säufer und abgehalfterte Huren verkehren, die sich von Möchtegern-Künstlern aushalten lassen, hält Queen Betty Hof und wenn sie entsprechend mit Schnaps und Drogen abgefüllt ist, zieht sie sich sogar vor dem Publikum aus und trällert so geistvolle Lieder wie The Raggle Taggle Gypsies.« Er musste so heftig lachen, dass er kaum noch weitersprechen konnte.
»Ich verdiene meinen Lebensunterhalt in der Hauptsache damit, dass ich für Künstler Modell stehe«, erwiderte Betty eisig. »Immerhin ernährt uns das. Es ist nun mal nicht jeder in der glücklichen Lage, ein reicher Erbe zu sein, der es nicht nötig hat zu arbeiten.«
Obgleich Crowley sein Erbe schon längst aufgebraucht hatte und gezwungen war, von der Hand in den Mund zu leben, wenn er nicht von wohlhabenden Förderern unterstützt wurde, traf Betty damit genau ins Schwarze und das Lachen blieb dem Magier im Halse stecken. Er fixierte sie gehässig.
»Was von solchen Modellen zu halten ist, ist hinlänglich bekannt.«
Betty, die nicht mehr weit davon entfernt war, ihm für die Beleidigungen eine Ohrfeige zu verpassen, hielt sich in letzter Sekunde zurück, als der Magier mit öliger Stimme verkündete, sie sei immerhin die Frau des Mannes, welcher dereinst sein magisches Erbe antreten werde. Daher wäre es nun an der Zeit, mit dem Ritual zu beginnen. Der Meister reichte dem Paar ein »Manifest« und bat darum, es laut und deutlich vorzulesen.
»Im festen Willen, der Abtei Thelema treu zu sein, schwöre ich, dass ich jegliche Gefolgschaft zu allen Göttern und Menschen aufgebe, ablehne und verdamme, indem ich anerkenne als einziges Gesetz das Gesetz Thelema. Desgleichen schwöre ich, dass ich fraglos und unwiderruflich die Lebensbedingungen in der Abtei Thelema anerkenne und ihre Riten und Gebräuche aufrechterhalte und mich der Autorität der Frau in Scharlach und ihres Herrn, des Tiers 666, unterwerfe. Möge meine Hand dies bezeugen!«, sprachen Betty und Raoul im Chor und hoben die rechte Hand zum Schwur.