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Wenngleich es Betty in Anbetracht der mangelhaften Hygiene, die den Alltag der Abtei prägte, und der Exaltiertheit ihrer Bewohner beileibe nicht leichtfiel, passte sie sich doch in den folgenden Wochen und Monaten, so gut es ging, den Gegebenheiten an und arrangierte sich mit ihnen. Crowley, der sich als Verkünder und Prophet einer neuen Weltreligion sah, machte Raoul als seinen magischen Erben, aber auch Betty und all die anderen Aspiranten, überwiegend Künstler und Exzentriker aus England und Amerika, die sich in der Abtei die Klinke in die Hand drückten, mit der thelemitischen Ethik bekannt, welche jegliche Demokratie ebenso wie den Durchschnittsmenschen zutiefst verabscheute. »Thelema – der reine Wille« verachtete das Mitleid, verherrlichte den Krieg und strebte nach einem Herrenmenschentum.
»Tretet nieder die Jämmerlichen und die Schwachen: Dies ist das Gesetz der Starken, dies ist unser Gesetz und die Freude der Welt!«, skandierte Meister Therion vor seinen Getreuen, die seine Lehre in einer Lautstärke wiederholen mussten, dass die Wände bebten. »Mitleid und humanitäre Gesinnung sind die Syphilis des Geistes!«, eiferte er und richtete einen glühenden Appell an seine Jünger, diese Eigenschaften radikal auszuschalten.
Außerdem zelebrierte er mit seinen Konkubinen und Adepten – zu denen Betty gottlob nicht gehörte – sexualmagische Rituale. Den durchdringenden Schreien nach, die gellend durchs Haus hallten und einheimische Bauern und Hirten, die sich in der Gegend aufhielten, das Fürchten lehrten, musste es sich um harte sadomasochistische Praktiken handeln, die kaum jemand dauerhaft ertragen konnte. Dieser Aspekt sowie der exzessive Drogenkonsum waren wohl auch die Hauptgründe, warum Crowleys ehedem so begeisterte Anhänger nach geraumer Zeit wieder das Weite suchten – die Fluktuation in der Abtei war erheblich. Lediglich die frühere Lehrerin Alostrael, Crowleys Frau in Scharlach, die zweite Konkubine Ninette, eine ehemalige Erzieherin, und Raoul, der ausdauernder und zäher war, als Betty gedacht hatte und es seine fragile Konstitution vermuten ließ, hielten dem Meister unverbrüchlich die Treue.
Unter den Thelemiten waren Zeitungen verboten. Jeder hatte ein magisches Tagebuch zu führen, das dem Meister vorzulegen war. Crowley sah das Ich und das Bewusstsein als hinderlich an, daher wurde in der Abtei eine Übung praktiziert, bei der es nur ihm erlaubt war, das Wort »ich« zu gebrauchen. Das gemeine Volk indessen durfte nur »man« sagen; wer diese Regel brach, musste sich mit einem Rasiermesser in den Arm schneiden.
Da Crowley der Meinung war, Betty sei noch meilenweit davon entfernt, seine Adeptin zu werden und müsse erst einmal damit anfangen, in sich eine umfassende Spiritualität zu entwickeln, blieb sie innerhalb der thelemitischen Gemeinschaft außen vor, was ihr jedoch überaus recht war. Im Stillen konnte sie nur den Kopf darüber schütteln, was sich Crowleys Jünger, allesamt intelligente, vielfach sogar studierte Leute, von dem Mann mit dem fetten, femininen Gesicht und den starren, kalten Augen alles gefallen ließen. So pflegte er sich und seine Adepten mit einer vorgeblich aphrodisierenden Salbe aus Ziegenkot einzureiben, um die sexuelle Anziehungskraft zu steigern. Außerdem feilte er sich die beiden Eckzähne spitz, um seinen Auserkorenen den »Schlangenkuss« zu geben, indem er sie ins Handgelenk biss. War Crowley in Bettys Augen, die schon in mancherlei Abgründe geblickt hatten, ein aufgeblasener Wichtigtuer, nicht selten auch eine bösartige Witzfigur, der es Freude bereitete, andere zu quälen und zu demütigen, so stellte er für Raoul und die anderen Verblendeten den ehrfurchtsgebietenden Magier dar, dem sie sich blind unterwarfen.
Nach ihrem ersten Zusammenstoß bei der Ankunft vermied es Betty, ihm weiterhin eine Angriffsfläche zu bieten, und ging Konflikten möglichst aus dem Weg. In der Abtei herrschte ohnehin schon genug dicke Luft. Die erste und die zweite Konkubine, Alostrael und Ninette, hassten sich wie die Pest und stritten sich bei jeder Gelegenheit, wobei nicht selten die Fetzen flogen. Den beiden Jungen Hansi und Howard, für die es weder Regeln noch Verbote gab, bereitete es ein diebisches Vergnügen, den Erwachsenen auf die Nerven zu gehen oder sie zu drangsalieren – erst recht, da sie wussten, dass es keiner der Geplagten jemals wagen würde, die Hand gegen sie zu erheben. Auch unter den restlichen Thelemiten herrschten Neid und Missgunst vor – beim Buhlen um die Gunst des Meisters, der Auslegung der thelemitischen Gesetze oder einfach, weil man einander nicht sonderlich gewogen war.
Crowley betraute Betty mit Hausarbeiten, die in der Abtei von Thelema ohnehin Frauensache waren. So war sie einmal in der Woche für den Einkauf zuständig, wofür sie sich sogar freiwillig gemeldet hatte. Dadurch entkam sie dem Tollhaus wenigstens für einen halben Tag, konnte durch das malerische Städtchen Cefalù flanieren und sich etwas Gutes gönnen. Neben den Einkäufen für die Gemeinschaft erledigte sie auch eigene Besorgungen, wie beispielsweise den Cognac, von dem sie sich täglich eine Flasche genehmigte, seitdem sie keine Drogen mehr nahm. Ermöglicht wurde ihr dieser Luxus durch die regelmäßigen Geldanweisungen, die ihr der Sunday Express für ihre wöchentlichen Berichte zukommen ließ, welche sie für das Skandalblatt verfasste. In den schillerndsten – oder besser gesagt: düstersten – Farben erzählte sie von abscheulichen schwarzen Messen und abstoßenden Sexorgien, die Crowley und seine Jünger in der Abtei von Thelema abhielten. Zu behaupten, der Magier würde in ihren Schilderungen in schlechtem Licht erscheinen, war noch deutlich untertrieben. Ihre Artikel schickte sie als Express-Sendungen an die Redaktion und ließ sich ihre Vergütung im Gegenzug im lokalen Postamt auszahlen.
Da Zeitungen in der Abtei verboten waren, hatte Crowley von der Schlamm-Schlacht gegen ihn, die der Sunday Express in England entfesselte, nicht die leiseste Ahnung – und Betty nicht den Funken eines schlechten Gewissens. Ganz im Gegenteil: Wenn sie sah, wie das Tier 666 in der Abtei feist auf dem Sofa thronte, sein Opiumpfeifchen schmauchte und der eifrig tippenden Alostrael seine Lebenserinnerungen diktierte, erfüllte sie ihr Wissen mit einer grimmigen Genugtuung.
Am Sonntag, den 11. Februar 1923, ging es Raoul, der von Crowley in den Rang eines Hohepriesters berufen worden war, so schlecht, dass Betty hinunter nach Cefalù eilte, um den Landarzt Doktor Maggio, der Raoul in letzter Zeit schon häufiger behandelt hatte, zu verständigen.
»Sie haben ja selbst gesehen, wie schlimm seine Arme aussehen«, sagte sie atemlos, als sie gemeinsam mit dem Arzt den steilen Weg zur Abtei hinaufstieg. »Der ständige Blutverlust ruiniert seinen ohnehin schon geschwächten Körper, ganz zu schweigen von der dürftigen Ernährung und den vielen Drogen, mit denen er sich zugrunde richtet. Und da ist noch etwas …« Sie stockte und musterte den Doktor vorsichtig. »In der Abtei gab es eine Katze und seit einiger Zeit ist sie nicht mehr da«, fuhr sie schließlich fort und barg vor Entsetzen ihr Gesicht in den Händen. »Sie haben sie geopfert und ihr Blut getrunken, diese kranken Schweine! Dadurch ist Raoul vergiftet worden.«
»Sind Sie sicher?« Doktor Maggio blickte skeptisch. »Das ist ja abscheulich! Können Sie den jungen Mann denn nicht dazu bewegen, mit Ihnen gemeinsam nach England zurückzukehren?«
Betty seufzte bekümmert. »Das versuche ich ja bereits seit einem Vierteljahr, doch er will einfach nichts davon hören. Schon in London habe ich ihn angefleht, nicht zu Crowleys Abtei zu fahren und stattdessen wieder sein Geschichtsstudium in Oxford aufzunehmen, zumal er so blitzgescheit ist. Doch er ließ nicht mit sich reden und war von der Idee, Crowleys Adept zu werden, wie besessen. Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich sagen, dieser Satan hat ihn verhext, aber ich glaube nicht an so einen Schei…, äh, Unsinn.«
»Ein Mann wie Aleister Crowley ist durchaus in der Lage, leicht beeinflussbare Menschen zu manipulieren. Insbesondere solche, die einen Meister suchen, und das scheint mir bei Signore Loveday der Fall zu sein. Wenn er so weitermacht, stirbt er, und das wäre jammerschade, erst recht, wo er noch so jung ist. Ich werde ihm nachher noch einmal ins Gewissen reden, aber ob das etwas nützt, ist eine andere Frage. Wenn er schon auf Sie nicht hört, Signora, wo Sie doch seine Ehefrau sind, wird er sich von mir erst recht nichts sagen lassen.«
Nachdem der Arzt Raouls Bauch abgetastet hatte, erklärte er ernst, dass die Leber und die Milz stark entzündet seien und sein Patient eigentlich ins Krankenhaus gehöre. »Auch den blutigen Durchfall halte ich für höchst bedenklich. Leider haben wir in Cefalù kein Krankenhaus, da müssten Sie schon nach Palermo fahren«, wandte er sich an Betty, die angespannt zuhörte.
»Wir haben aber kein Auto zur Verfügung, also müssten wir entweder mit dem Autobus oder dem Passagierdampfer fahren, doch das wird für Raoul zu strapaziös.«
»In der Tat«, bestätigte Doktor Maggio und übergab Betty ein Medikament mit der ausdrücklichen Anweisung, dem Patienten nur abgekochtes Wasser zu trinken zu geben. »Wenn etwas ist, melden Sie sich – und vergessen Sie bitte nicht, die Rechnung zu begleichen! Da ist auch vom letzten Mal noch etwas offen.“ Ehe er sich auf den Heimweg machte, beschwor er Raoul eindringlich, die Finger von den Drogen zu lassen und unbedingt mehr auf seine Gesundheit zu achten. »Und hören Sie um Gottes Willen mit dieser Selbstverstümmelung auf!« Er wies auf Raouls Unterarme, die von blutigen Streifen übersät waren. »Sie bringen sich damit noch ins Grab«
Raoul war viel zu geschwächt, um ihm zu antworten. Er nickte nur apathisch.
Zwei Tage später ging es Raoul so schlecht, dass Crowley persönlich Doktor Maggio herbeirief. Der Arzt diagnostizierte eine akute Entzündung des Dünndarms und ließ Betty und den Okkultisten wissen, dass der Zustand des Patienten lebensbedrohlich sei und mit dem Schlimmsten gerechnet werden müsse. Betty begleitete den Arzt nach Cefalù, wo sie Raouls Eltern ein Telegramm schickte, um sie über den lebensgefährlichen Zustand ihres Sohnes in Kenntnis zu setzen. Anschließend schickte sie eine Depesche an das Britische Konsulat in Palermo, worin sie Crowley beschuldigte, ein gefährlicher Geisteskranker zu sein, der für den desolaten Gesundheitszustand ihres Gatten verantwortlich sei. Als sie zur Abtei zurückkehrte – sie hatte zuvor in Cefalù etliche Cognacs gekippt, da ihr vor Aufregung die Knie schlotterten und sie das Gefühl hatte, kurz vor einer Ohnmacht zu stehen –, kam es zwischen ihr und Crowley, der sie in Empfang nahm, zu einem Eklat.
»Er wird sterben«, sagte Crowley in sinisterem Tonfall. »Ich habe eben das I Ging zu Rate gezogen. Das Orakel hat mit dem Hexagramm ›Auflösung‹ geantwortet, das deutet klar auf Tod hin.«
Das war zu viel für Betty. Ihre ganze Erbitterung gegen den Magier brach sich Bahn und sie bekam einen heftigen Wutanfall, bei dem sie Gläser zertrümmerte und einen Krug nach Crowley warf, der seinen Kopf nur haarscharf verfehlte. »Du perverser Drecksack hast Raoul auf dem Gewissen!«, schrie sie außer sich.
Als Crowley versuchte, sie festzuhalten, trat sie nach ihm und schlug ihm mit der Faust auf die Nase. Schwester Ninette und die scharlachrote Frau, die in die Halle stürmten, um den Streit zu schlichten, wurden von ihr als Schlampen und Schlimmeres beschimpft. In dem allgemeinen Tohuwabohu wurde plötzlich die Tür geöffnet und Raoul, der nur noch wie ein wandelndes Gerippe war, wankte herein, bewegte die Lippen, um etwas zu sagen, und brach entkräftet zusammen. Betty eilte zu ihm hin, bettete seinen Kopf auf ihrem Schoss und brach haltlos in Tränen aus. Wenig später trugen ihn Crowley und die drei Frauen ins Zimmer zurück, wo sie ihn behutsam aufs Bett legten.
Am 16. Februar 1923 starb Raoul Loveday mit erst dreiundzwanzig Jahren. Betty, die nur kurz aus dem Zimmer gegangen war, fand ihn tot in seinem Bett. Sie schrie entsetzt auf und fiel in Ohnmacht. Als sie nach geraumer Zeit wieder das Bewusstsein erlangte, saß Crowley an Raouls Totenbett, während Schwester Ninette und Alostrael weinend an seiner Seite standen.
»Er verließ uns ohne Angst oder Schmerzen«, sagte der Magier mit stoischer Ruhe. »So als wäre er hinausgegangen, um einen Spaziergang zu machen. Als sein Werk erfüllt war, erlosch er wie ein Zündholz, das meine Zigarre angezündet hatte.«
Betty hätte dem Zyniker am liebsten ins Gesicht geschlagen, doch aus Achtung vor dem Verstorbenen unterließ sie es.
Am nächsten Morgen wurde die Totenbahre mit dem Sarg aus der Abtei getragen. Meister Therion, in einen langen Kapuzenumhang aus weißer Seide gehüllt, schritt dem Trauerzug auf dem Bergpfad, der zum örtlichen Friedhof führte, voran. Dahinter folgten die am ganzen Körper bebende Betty und Crowleys weinende Konkubinen. Die beiden Kinder Hansi und Howard, wie der Vater in weiße Seidengewänder gekleidet, trugen Blumenkränze auf den Köpfen und sprangen ausgelassen um den Sarg herum.
»Wir werden Raoul beerdigen, wir werden Raoul beerdigen«, jauchzte Hansi übermütig und hätte mit der unvermeidlichen Zigarette, die er glimmend in der Hand hielt, einem der Leichenträger fast ein Loch in die Hose gebrannt.
Nachdem ihr das Britische Konsulat die Fahrkarte bezahlt hatte, kehrte Betty nach London zurück. Gleich nach ihrer Ankunft erstattete sie bei Scotland Yard Anzeige gegen Crowley. Sie beschuldigte ihn, für den Tod ihres Ehemanns verantwortlich zu sein, weil er ihn bei einem Ritual gezwungen habe, Katzenblut zu trinken. Anschließend gab sie dem Sunday Express ein Interview zu Raouls Tod. Ihre Skandalgeschichten ließ sie sich teuer vergüten. Sie berichtete von ominösen schwarzen Messen, bei denen Crowley mit einem Ziegenbock kopuliert und ihm danach die Kehle durchgeschnitten habe, woraufhin er und seine Anhänger sich im Blut des Bockes gesuhlt hätten. Außerdem verwahre der Magier in seiner Nachtkonsole ein schwarzes Kästchen mit fünf blutverkrusteten Krawatten, die laut seiner Aussage Jack the Ripper bei seinen Morden getragen habe. Crowley kenne den Ripper und stehe mit ihm in Kontakt. Er sei ein mächtiger Schwarzmagier, der den Zauber beherrsche, sich unsichtbar zu machen, daher sei er auch nie gefasst worden.
In den darauffolgenden Tagen und Wochen übertrafen sich die Skandalblätter förmlich in der Schlammschlacht gegen Crowley. »Neue finstere Enthüllungen über Aleister Crowley«, »Der Zauberer der Verderbtheit«, »Der böseste Mann der Welt«, »Der Mann, den wir gerne aufhängen würden!«– so lauteten die Schlagzeilen der Sensationspresse.
Crowley schwor vor Gericht, dass Betty Mays Bezichtigungen gegen ihn nichts als böswillige Lügen seien. »Es gab kein Tieropfer und ich habe Raoul Loveday auch nie gezwungen, Katzenblut zu trinken«, beteuerte er unter Eid.
Während der Verhandlung stellte sich zwar heraus, dass Betty den Sunday Express von Anfang an über Crowley und seine Abtei auf dem Laufenden gehalten hatte, doch der Okkultist geriet durch ihre Verunglimpfungen ins gesellschaftliche Abseits und wurde von der Bevölkerung als Bestie verteufelt, die an den Galgen gehöre.
Am 23. April 1923 ließ der Diktator Benito Mussolini Crowley und seine Anhänger aus Italien ausweisen und verbot Geheimbünde dieser Art. Wenig später fanden Kinder beim Spielen auf einer Brache in Palermo die enthaupteten Leichen zweier nackter Männer mit abgetrennten Geschlechtsteilen. Unweit des Fundorts entdeckte die Polizei die Köpfe. Bei den Toten handelte es sich um zwei polizeibekannte männliche Prostituierte. Crowley geriet in Verdacht, die Morde begangen zu haben, da bekannt war, dass er Palermo häufig besucht hatte, um sich mit Drogen einzudecken und männliche wie weibliche Prostituierte aufzusuchen. Es stellte sich jedoch heraus, dass er ein wasserdichtes Alibi hatte, da er sich zur Tatzeit wegen einer Heilbehandlung in England aufgehalten hatte. Ein reicher Gönner hatte seinem »Herrn und Meister« mit einer großzügigen Spende die Kur ermöglicht.

»Der Beruf des Irrenhauswärters hat in unserer Familie gewissermaßen Tradition«, erklärte die Krankenschwester Maureen Morgan mit grimmigem Lächeln und trank einen Schluck Tee, um munter zu bleiben, denn die Nachtschicht war noch lange nicht zu Ende. »Mein Vater war dreißig Jahre lang Wärter im Bethlem Royal Hospital in London – in der Kriminalabteilung für Frauen.«
»Oh Gott, da hatte er ja das große Los gezogen, der Arme! Ein harter Job. Da sind Sie hier aber besser aufgehoben, Maureen, obgleich unsere Patienten auch sehr anstrengend sein können.« Doktor Sandler rollte mit den Augen und nahm noch ein rosa glaciertes Petit Four vom Kuchenteller.
In diesem Moment ertönte das durchdringende Läuten einer Patientenglocke in dem behaglich eingerichteten Salon, der dem Personal des Holloway-Sanatoriums in Virginia Water als Aufenthaltsraum diente.
»Wem sagen Sie das?«, seufzte die junge Frau mit den rotblonden, modisch geschnittenen Haaren unter der weißen Schwesternhaube schicksalsergeben und erhob sich aus ihrem Sessel. »Das wird doch hoffentlich nicht wieder Sir Alfred sein!«
Als sie auf den langen Flur hinaustrat, an dessen Seiten sich zahllose Zimmerfluchten erstreckten, bestätigte sich ihre Befürchtung. Das Läuten kam aus einer Suite am Ende des Gangs, die von Sir Alfred de Kerval bewohnt wurde, der sie schon den ganzen Abend auf Trapp hielt. Obwohl Maureen erst 18 Jahre alt war, hatte sie ausreichend Erfahrungen mit jedweder Skurrilität und Schrulligkeit ihrer Patienten auf der Entgiftungs-Station des luxuriösen Holloway-Sanatoriums. Die Anstalt war 1873 gegründet worden, um seelisch kranken Menschen aus der Oberschicht die Möglichkeit zu geben, in einer Umgebung zu genesen, die keine Wünsche offen ließ. Doch Sir Alfred, ein rundlicher Herr im Schottenrock, der eine schwarze Perücke und eine Brille mit dunklen Gläsern trug, war noch absonderlicher als die anderen illustren Personen, die sich im Seitenflügel des weitläufigen, schlossartigen Gebäudes von ihren mannigfaltigen Süchten entwöhnten.
Maureen klopfte an die Tür und trat ein. »Was kann ich für Sie tun, Sir Alfred?«
Der korpulente Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht lag auf einer Ottomane und stöhnte gequält. »Der Odem unserer Dame könnte mir helfen, Fairy Queen, sonst mache ich heute wieder kein Auge zu.«
»Tut mir leid, Sir Alfred, aber es gibt keinen Äther«, beschied Maureen dem Patienten freundlich, aber bestimmt. Ihr war inzwischen hinlänglich bekannt, was sich hinter Sir Alfreds kryptischer Umschreibung verbarg. In dieser Hinsicht waren Süchtige alle gleich: Sie wollten so viele Drogen von ihr erhalten wie möglich. »Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass Sie unter Lähmungsgefühlen, Asthma und Kurzatmigkeit leiden. Dass Sie Ihre Krankheiten mit Kokain, Opium, Morphium, Heroin und Äther zu behandeln pflegten, hatte bereits fatale Folgen für Ihre Gesundheit.«
»Sie haben noch was vergessen, Fairy Queen, nämlich Haschisch, Wein und Schnaps. Dann bringen Sie mir wenigstens einen Cognac«, quengelte der Mann im Schottenrock wie ein unleidliches Kind. Den Kilt trug er Tag und Nacht, und das schon seit fünf Tagen, denn so lange war er jetzt hier.
Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und Maureen, die ihm den Puls fühlte, bemerkte, dass auch sein Körper schweißgebadet war. Er litt unter schweren Entzugssymptomen. Sie hatte ihm vorhin schon 300 mg Morphinsulfat verabreicht und mehr war nicht drin, so leid es ihr tat – und das machte sie ihm auch unmissverständlich klar. Als sie anschließend seinen Blutdruck prüfte und feststellte, dass er deutlich erhöht war, ließ sie sich jedoch erweichen und eilte zum Schwesternzimmer.
»190 zu 140«, sagte sie zu Doktor Sandler, der ihr aus dem Salon entgegenkam.
»Dann geben Sie ihm meinethalben ein Amlodipin, aber sonst kriegt er nichts mehr. Warten Sie, ich hole es!« Der dunkelhaarige Psychiater mit dem markanten Gelehrtengesicht, der auf der Entwöhnungsstation als Assistenzarzt arbeitete, betrat gemeinsam mit Maureen das Schwesternzimmer und machte sich am Medikamentenschrank zu schaffen.
Als er Maureen das Porzellanschälchen mit den Tabletten reichte, berührte er flüchtig ihre Hand. Sie erschauerte und spürte, wie sie rot wurde. Schon seit geraumer Zeit hegte sie Gefühle für den Psychiater, die sie jedoch geflissentlich zurückhielt – zum einen, weil Liebesbeziehungen zwischen den Angestellten des Sanatoriums strengstens verboten waren, zum anderen, da sie mutmaßte, dass sich der aufstrebende junge Arzt, der noch eine vielversprechende Karriere vor sich hatte, bestimmt nicht mit einer einfachen Krankenschwester abgeben würde. Obgleich »Joe«, wie sie ihn im Stillen zu nennen pflegte, nicht die Spur von Standesdünkel verströmte und sich ihr gegenüber stets freundlich und kollegial verhielt. Das traf allerdings auch auf die anderen Kollegen der Entgiftungsstation zu. Lediglich der Anstaltsleiter, Professor Sutton, ein Nachkomme des Gründers und Multimillionärs Thomas Holloway, strahlte die Arroganz der britischen Oberschicht aus.
Die pfiffige Maureen, die aus einfachen Verhältnissen stammte, hatte ihre Schäfchen gut im Griff und war bei Patienten und Pflegepersonal gleichermaßen beliebt. Auch von den Anstaltsärzten wurde die Schwester, die selbst in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf bewahrte, wegen ihres angenehmen Wesens geschätzt. Obgleich sie noch jung war, verfügte sie schon über eine erstaunliche Reife und Charakterstärke – für die sie einen hohen Preis bezahlt hatte. Als Jugendliche war sie in schlechte Kreise geraten und erheblich ins Straucheln gekommen. Doch die Hilfe ihrer Eltern und ihr eigener unbändiger Lebenswille hatten ihr aus der Krise herausgeholfen. Sie hatte im London Hospital eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, die sie mit Bravour abgeschlossen hatte, und war danach ins Holloway-Sanatorium gewechselt, wo sie in der Pflege seelisch kranker Menschen ihre große Berufung gefunden hatte.
»Die andere Tablette ist kein Barbiturat, sondern lediglich ein Placebo«, riss die Stimme des Arztes Maureen aus ihrer Versonnenheit.
»Gut so«, erwiderte sie zustimmend, »denn der eiserne Grundsatz der Suchtmedizin lautet ja: so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Und ihre Wirkung wird die Pille trotzdem nicht verfehlen.« Sie hatte es schon häufiger erlebt, dass eine harmlose Milchzuckerpastille bei Patienten die gleiche beruhigende Wirkung erzielen konnte wie ein Sedativ, das den ohnehin vom Drogen- und Alkoholabusus geschwächten Körper noch zusätzlich belastete.
Doktor Sandler lächelte verschwörerisch. »Sie sagen es, meine Liebe – und halten Sie sich den alten Schwerenöter bloß auf Abstand!«
»Das dürfte schwierig werden«, flachste Maureen grinsend. »Ich möchte ihn nämlich dazu überreden, endlich mal seinen Schottenrock abzulegen, eine Dusche zu nehmen und ein frisches Nachthemd anzuziehen, denn das hat er bitter nötig«, fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu und nahm ein weißes Krankenhemd aus dem Wäscheregal des Schwesternzimmers. »Residiert in einer Luxus-Suite und hat noch nicht mal einen anständigen Pyjama dabei«, mokierte sie sich kopfschüttelnd, während sie über den chinesischen Seidenläufer im Flur lief.
Sie goss dem Patienten etwas Wasser in ein Glas und bat ihn, die Blutdrucktablette zu nehmen. Dann platzierte sie das Nachthemd auf der Lehne der Ottomane und fügte hinzu, dass Sir Alfred völlig verschwitzt sei und daher ein Bad oder eine Dusche ratsam wäre.
»Danach ziehen Sie sich ein frisches Nachthemd über, legen sich ins Bett, nehmen das Barbiturat und schlafen wie ein Baby!« Sie schenkte Sir Alfred, der ohnehin von ihr entzückt war und sie immer seine »Feen-Königin« nannte, ein strahlendes Lächeln.
»Das mach ich aber nur, wenn Sie mich einseifen«, säuselte er anzüglich.
Maureen musterte ihn resolut. »Das schaffen Sie schon alleine, Sir Alfred! Ich lass Ihnen aber gerne Wasser in die Wanne und lege alles zurecht, was Sie brauchen.«
Maureen, die sich auf einem Sessel am Kamin niedergelassen hatte, nachdem ihr Patient im Badezimmer verschwunden war, um ihm zur Seite zu stehen, falls er Hilfe brauchte, mochte ihren Augen nicht trauen, als Sir Alfred in einem goldverbrämten schwarzen Seidenkaftan, der mit einem goldenen Pentagramm und anderen okkulten Symbolen bestickt war, aus der Badezimmertür trat.
»Sie sehen ja aus wie ein Zauberer«, entrang es sich ihr unwillkürlich.