- -
- 100%
- +
»Magier wäre treffender«, konterte Sir Alfred, der sich auch der dunklen Brille und Perücke entledigt hatte. Dadurch kam seine Kahlköpfigkeit zum Vorschein und die dunklen, glasigen Augen, die Maureen eindringlich fixierten. »Und – erkennen Sie mich?«
Maureen zuckte nur mit den Achseln, was Sir Alfred zu enttäuschen schien.
»Lesen Sie denn keine Zeitungen? Ich bin der gefährlichste Mann der Welt, der Zauberer der Verderbtheit.«
Erst jetzt dämmerte es Maureen, wen sie vor sich hatte. »Sie sind Aleister Crowley, über den die Presse die ganze Zeit diese schlimmen Hetzartikel schreibt«, äußerte sie verblüfft. »Ich hätte Sie fast nicht erkannt. Sie sehen so … so harmlos und gutartig aus, ganz anders als auf den Zeitungsfotos.«
Ehe sie sich’s versah, ergriff der Okkultist ihre Hand und küsste sie. »Mein gutes Kind, Sie haben mich erkannt! Im Grunde meines Wesens bin ich harmlos und gutartig. Und dass Sie diese Zeitungsschmierereien als das erkennen, was sie sind, nämlich bösartiges Machwerk, zeigt mir einmal mehr, wie klug Sie sind. Sie durchschauen die schnöde Welt, obwohl Sie noch so jung sind. Da ist eine ganz eigene und mächtige Kraft in Ihnen, das habe ich von Anfang an gespürt. Und es kommt auch nicht von ungefähr, dass ich Sie ›Fairy Queen‹ nenne – was nicht alleine an ihrer feenhaften Anmut liegt, sondern auch daran, dass sie in der Lage sind, den Dingen auf den Grund zu schauen. Deswegen habe ich mich auch entschlossen, Ihnen meine wahre Identität zu offenbaren, die sonst nur dem Anstaltsleiter und den behandelnden Psychiatern bekannt ist. Eine Vorsichtsmaßnahme, die leider unumgänglich war. Denn dank Queen Bettys Schandmaul, das das Blaue vom Himmel herunter lügt und alles verdreht, was verdreht werden kann, bin ich zum meistgehassten Mann Englands aufgestiegen. Auch hier in dieser Luxus-Klapse gibt es bestimmt einige, die mich lynchen würden, wenn sie wüssten, wer ich bin.«
»Von mir erfährt keiner was«, sicherte ihm Maureen zu.
Sein Blick wirkte mit einem Mal gehetzt und er schaute immer wieder hektisch zur Tür. »Ich weiß, dass ich Ihnen trauen kann, Fairy Queen«, erklärte er mit gedämpfter Stimme, »deswegen möchte ich Ihnen auch etwas zeigen.« Er verschwand in seinem Schlafzimmer und kehrte mit einem Kuvert zurück, dem er mit bebenden Händen einen Zeitungsartikel entnahm, den er Maureen zeigte.
»Aleister Crowley – Ein zweiter Jack the Ripper«, stach ihr die fette Schlagzeile ins Auge. In dem Artikel aus dem John Bull wurde reißerisch über die Leichenfunde in Palermo berichtet und dass die italienische Polizei Crowley verdächtigte, die Morde begangen zu haben.
Maureen schüttelte unwirsch den Kopf. »Aber das ist doch gar nicht mehr aktuell! Im Daily Telegraph war vor zwei Tagen zu lesen, dass Sie für die Morde gar nicht infrage kommen, da Sie für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi haben. Ich habe es selbst gelesen.«
»Natürlich kann ich das nicht gewesen sein, denn als die Morde begangen wurden, war ich ja schon hier im Holloway-Sanatorium. Der Anstaltsleiter hat mich informiert, dass er das Scotland Yard gegenüber bestätigt hat. Nein, darum geht es gar nicht.« Crowley war so erregt, dass ihm Schweißperlen übers Gesicht rannen. »Der Artikel wurde mir heute mit der Post zugestellt. Was ich damit sagen will, ist – es muss durchgesickert sein, dass ich hier bin. Irgendjemand da draußen weiß es und hat mir das geschickt.«
Maureen musste ihm zwar recht geben, dennoch war ihr daran gelegen, den aufgelösten Mann zu beruhigen. »Wer immer das auch gewesen sein mag, der Ihnen diesen üblen Streich gespielt hat, ich kann Ihnen jedenfalls versichern, Mr Crowley, bei uns auf der Station sind Sie so sicher wie in Abrahams Schoß. Kein Außenstehender oder Unberufener hat hier Zutritt, dafür sorgt schon unser Pförtner. Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen, Sir, und können sich beruhigt zu Bett begeben.« Sie reichte Crowley das vermeintliche Barbiturat, welches er mit einem Schluck Wasser hastig herunterwürgte.
»Das kann ich jetzt auch gut gebrauchen«, krächzte er heiser, »denn ich sage es Ihnen unumwunden, Fairy Queen: Ich habe panische Angst. Bitte helfen Sie mir und lassen Sie mich nicht alleine«, stammelte er und umklammerte angstvoll Maureens Hand.
Sie sagte ihm in besänftigendem Tonfall, dass derlei Angstzustände beim Entzug häufiger auftreten würden, das würde sich aber wieder legen und ihm könne gar nichts passieren. Anschließend geleitete sie ihn zu seinem Bett, wo sie fürsorglich die Decke über ihn breitete und ihm wie einem Kind versprach, bei ihm zu bleiben.
»Wenn es Ihnen guttut, über Ihre Ängste zu sprechen, dann tun Sie das ruhig, denn das kann durchaus heilsam sein.«
»Danke, mein Engel!«, stieß der Okkultist unter Tränen hervor. »Aber ich weiß gar nicht, ob ich deine reine, unschuldige Seele überhaupt mit solchen Abgründen belasten soll.« Er war Maureen gegenüber nun noch vertraulicher geworden.
»In meinem Beruf ist mir nichts Menschliches fremd, Mr Crowley«, entgegnete sie. »Also sagen Sie ruhig, was Sie auf dem Herzen haben.«
»Ich … ich habe einen ganz schrecklichen Verdacht. Ich glaube nämlich, dass er mir den Artikel geschickt hat.« Der Magier gab ein peinvolles Wimmern von sich und war kaum noch in der Lage, weiterzusprechen.
Maureen musterte ihn mit wachsender Anspannung, da sie zunehmend den Eindruck gewann, dass sich in seinem Bewusstsein Wahn und Wirklichkeit mischten, was beim Drogen- und Alkoholentzug keine Seltenheit war. »Wen meinen Sie denn mit ›er‹?«, erkundigte sie sich.
»Seinen richtigen Namen kenne ich nicht. Er kam am 13. Mai 1922, also vor knapp einem Jahr, zu meiner Abtei nach Cefalù auf Sizilien. Ich erinnere mich noch genau an ihn: ein großer, muskulöser Mann mit einem blassen Dutzendgesicht unter dem Strohhut und einem eleganten, gut geschnittenen hellen Leinenanzug. Er sah aus wie ein britischer Aristokrat in der Sommerfrische – und das war er wohl auch. Er hatte ausgezeichnete Manieren, lüftete vor mir den Hut wie ein Gentleman und stellte sich als John Smith vor. Gleichzeitig räumte er ein, dass es sich dabei um ein Pseudonym handele, da er mir aus Gründen der Diskretion seinen wirklichen Namen nicht nennen könne, wofür er mich aufrichtig um Entschuldigung bat. Ich ließ ihn wissen, dass in der Abtei von Thelema weltliche Namen ohnehin nichts bedeuteten und jeder Adept von mir einen magischen Namen erhalte, der wahrhaftiger zu ihm passe. Mit großer Ehrfurcht berichtete mir der junge Mann, er habe an der Front als Militärarzt gedient und zu dieser Zeit sei ihm ein Artikel aus dem International in die Hände gekommen, aus der Feder von mir, dem großen Meister der Magie. Das Gesetz von Thelema, ›Tu was du willst, soll sein das einzige Gesetz‹, habe ihn so tief beeindruckt, dass er daraufhin alle meine Schriften gelesen habe und zu mir gereist sei, um mein Adept zu werden. Ich habe sofort gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmte, doch ich habe nicht genau gewusst, was. Da ich aber spürte, wie viel ich ihm bedeutete, willigte ich ein, ihn als Schüler aufzunehmen. Noch am gleichen Tag sagte ich ihm offen ins Gesicht, dass er unter einer höllischen Verkrüppelung leide, woraufhin er mir anvertraute, dass er bestialische Kopfschmerzen habe und unentwegt Stimmen höre. Er hoffe sehnlichst darauf, dass es mir als seinem Herrn und Meister gelingen möge, sie zum Schweigen zu bringen. Zunächst exerzierte ich mit ihm Stellungsund Atemübungen des Yoga, vollzog an ihm verschiedene Bannungsrituale und hielt ihn dazu an, Opium zu rauchen und ein magisches Tagebuch zu führen, worin er Träume, zufällige Gedanken und Stimmungen aufzeichnen und mir zur Analyse aushändigen sollte. ›Der dunkle Drang in mir schreit nach Verwirklichung, ich kann an nichts anderes mehr denken‹, schrieb er. Ich deutete dies als Signal, dass es an der Zeit war, seine Sexualität auszuleben, da ich die augenscheinliche Gehemmtheit des Mannes als das eigentliche Problem ansah. Also zelebrierte ich mit ihm und meiner ersten Konkubine Alostrael eine Orgia. Die Riten verliefen wenig erfolgreich – obwohl meine scharlachrote Frau ihn mit der Hand stimulierte, bekam er keine Erektion.«
Maureen bemühte sich zwar um Gelassenheit, mochte ihre Abneigung aber nicht verhehlen. »Ich kann nicht behaupten, dass ich derartige Schilderungen besonders ergötzlich finde, zumal sie auch ein Stück weit bestätigen, was in den Skandalblättern über Sie zu lesen war, Mr Crowley«, sagte sie kühl und erhob sich von ihrem Stuhl mit der Erklärung, sie habe auch noch andere Patienten zu versorgen. Sie verspürte wenig Lust, noch weiteren drastischen Anekdoten aus Crowleys magischem Schaffen zu lauschen.
Doch ihr exzentrischer Patient hielt sie zurück. »Bitte, Fairy Queen, lass mich nicht alleine!«, flehte er verzweifelt. »Er geht mir nicht mehr aus dem Sinn und ich habe die schlimmsten Alpträume.«
Da es offenkundig war, in welcher Bedrängnis sich Crowley befand, beschloss Maureen, ihm in seiner Krise beizustehen. Sie tupfte ihm behutsam die Schweißperlen von der Stirn und ließ sich wieder auf dem Stuhl an der Kopfseite des Bettes nieder.
Wenn seine Angstzustände schlimmer werden, muss ich Doktor Sandler Bescheid sagen, sinnierte sie. Aber vorher würde sie selber versuchen, die Lage in den Griff zu bekommen – zumal sie zu Crowley einen guten Draht hatte. Einen weitaus besseren, als ihn der Magier zu den Psychiatern hatte, wie sie aus den Dienstbesprechungen wusste, denn im Gegensatz zu den Ärzten, die er als Dilettanten und Seelenklempner beschimpfte, fraß er Maureen förmlich aus der Hand.
»Schwester Maureen, unsere Spezialistin für schwierige Fälle«, pflegte Doktor Sandler immer zu scherzen, wenn es Maureen wieder einmal gelungen war, einen renitenten Patienten »handzahm« zu machen.
»Wenn es Ihnen guttut, darüber zu reden, Mr Crowley, dann tun Sie sich keinen Zwang an«, ermunterte sie den Magier, dessen entrückter Blick verriet, wie gefangen er in seiner Gedankenwelt war.
Mit belegter Stimme fuhr Crowley mit seinen Schilderungen fort: »Schließlich dämmerte es mir, warum die sexualmagischen Rituale nicht in der Lage waren, den Knoten zu lösen: Mein Adept war homosexuell und hatte panische Angst, sich das einzugestehen. Also versicherte ich ihm, dass es nichts gäbe, wofür er sich schämen müsse. Er senkte betreten den Blick und gestand mir, dass ihm die Stimmen sehr böse und hässliche Dinge sagen würden. Auch das Böse und Hässliche gehöre zum Kosmos, ließ ich ihn wissen, genauso wie die schwarze Sonne und die dunkle Seite des Mondes.« Er presste angespannt die Lippen zusammen. »Damit muss ich wohl den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Er starrte mich an und begann zu keuchen. Seine Augen drohten aus den Höhlen zu quellen. Zu meinem Erstaunen riss er sich die Kleider vom Leib, rannte splitternackt den Berghang hinab wie eine junge Ziege und stürzte sich ins Meer. Als er zurückkam, bat er mich mit bleichem Gesicht und ehrfürchtiger Stimme, noch einmal zu wiederholen, was ich zuvor zu ihm gesagt hatte. ›Auch das Böse und Hässliche gehört zum Kosmos, genauso wie die schwarze Sonne und die dunkle Seite des Mondes‹, sprach ich mit tiefer Überzeugung.«
Maureen hatte ihm fasziniert zugehört. »Die schwarze Sonne, das hört sich richtig unheimlich an.«
Crowley lächelte sinister. »Du hast es erfasst, Fairy Queen. Die schwarze Sonne ist ein alter Name Satans.«
Obgleich es Maureen unwillkürlich fröstelte, ermahnte sie sich zur Sachlichkeit. »Ich glaube nicht an den Teufel, die eigentlichen Erfinder der Hölle sind die Menschen.«
»Richtig, mein schlaues Mädchen! Hinter der Hölle verbergen sich die grausamsten Fantasien, die jemals von Menschen ersonnen wurden – zur Ehre der großen Schlange Satan. ›Ich bin die Schlange Satan, ich lebe an den äußersten Enden der Welt‹ – so stand es schon in den ältesten Hieroglyphen der Ägypter geschrieben.« Crowleys Augen funkelten diabolisch.
Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete sich Maureen vor ihm. Sie erinnerte sich daran, dass er in der gesamten Presse, selbst in seriöseren Blättern, als Satanist angesehen wurde.
Doch ohne seine Drogen und den ganzen magischen Zinnober ist er nur ein armer Teufel, der unter höllischen Entzugserscheinungen leidet, ging es ihr durch den Sinn und die Bangigkeit fiel von ihr ab. »Wie ging es denn weiter mit Ihrem Adepten?«, fragte sie interessiert.
»Unmittelbar danach verfiel er in eine drei Tage dauernde Trance«, erwiderte der Okkultist. »Anschließend kam er zu mir wie die Verkörperung der Freude selbst und erklärte, er könne mir gar nicht sagen, wie dankbar er mir sei. Ich hätte ihm den Schlüssel zur innersten Schatzkammer seines Herzens gegeben. Das war mir mit meinen kraftvollen Worten gelungen und er hatte nach nur drei Tagen überwunden, was er fast dreißig Jahre lang unterdrückt hatte. Denn wenn die tiefsten Wünsche nicht befreit werden, resultiert daraus der Wahnsinn. Ich habe ihm den Weg gezeigt, der aus seiner höllischen Verkrüppelung hinaus ans Licht führt. Dafür würde er mir bis ans Ende seiner Tage danken, wie er mir versicherte. In einem feierlichen Ritual gab ich ihm den magischen Namen ›Bruder Pan‹, da er mich an den Ziegengott Pan erinnerte. Er ließ mich wissen, dass er in jenem Augenblick der Erleuchtung so deutlich wie nie zuvor erkannt habe, dass alles nur ein Eingehen und Lauschen auf sein Unterbewusstes sei, das unbedingt in die Tat umgesetzt werden müsse, wenn man seinen wahren Willen und damit die Quintessenz der Lehre von Thelema ausleben wolle. Tu was du willst, soll sein das ganze Gesetz – das sei für ihn die absolute Wahrheit, die er fortan befolgen werde. Ergriffen bekannte er, dass er sich die schlimmen Qualen, die so gewaltig gewesen seien, dass sein Kopf zu zerspringen drohte, hätte ersparen können, wenn er mir nur früher begegnet wäre. Stattdessen habe man ihn mit der verdammenswerten Lehre betrogen, dass seine machtvolle Begierde schandbar und des Teufels sei, man sie unterdrücken müsse und am besten gar nicht erst haben dürfe, um ein achtbarer Mensch zu sein. Er habe sich sein Leben lang mit eiserner Selbstzucht daran gehalten und umso schmerzlicher erfahren müssen, dass die Stimmen in ihm noch stärker und drängender geworden seien. Erst jetzt habe er entdeckt, dass er mehr als nur ein Mensch sei, dass er die Majestät des ewig sich erhebenden Adlers besitze und die Stärke des Löwen. Nun sei es endlich so weit, dass sich der mächtige Adler in die Lüfte erhebe. Seine Begierde war so offensichtlich, dass ich genau verstand, was er meinte«, seufzte Crowley kurzatmig. »Ich rasierte mich und schminkte mein Gesicht wie die allergemeinste Hure. Dann rieb ich mich mit meinem Parfüm ein und machte mich an Bruder Pan heran.« Seine Atemzüge mischten sich mit einem rasselnden Pfeifen, er bekam einen heftigen Hustenanfall und konnte nicht weitersprechen.
Maureen holte seinen Inhalationsapparat aus dem Wohnzimmer, stülpte ihm die Maske über und betätigte den Zerstäuber. Nach einer Weile beruhigte sich zwar seine Atmung, doch ihm stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Er riss sich die Maske vom Kopf.
»Bei unserem magischen Sexualakt hat er mich so brutal penetriert, dass er mich fast umgebracht hätte«, krächzte er außer sich. »Er schlug, biss und würgte mich so heftig, dass ich die schlimmsten Todesängste hatte. Obwohl er fast übermenschliche Kräfte besaß, gelang es mir, mich aus seinem Klammergriff zu befreien und lauthals um Hilfe zu rufen. Alostrael und Schwester Ninette stürmten ins Zimmer und Bruder Pan ließ endlich von mir ab. Ich war zutiefst bestürzt und verwies ihn der Abtei. Er hatte mir so zugesetzt, dass ich überall Blessuren hatte und eine Woche lang nicht laufen konnte. Die dunkle Energie in ihm war so übermächtig, dass sie mich fast getötet hätte.« Er gab ein panisches Wimmern von sich. »Inzwischen glaube ich sogar, dass ich mit meiner magischen Formel bei ihm eine Art Büchse der Pandora geöffnet habe, aus der das Böse über die Welt gekommen ist. Das magische Tagebuch, das er zurückgelassen hat, war ein Inferno des Hasses und der Bestialität. Es war gespickt von den abartigsten Gewaltfantasien, die man sich nur vorstellen kann. Ich zelebrierte einen Abwehrzauber und verbrannte es im Feuer. Danach sah ich ihn niemals wieder und mit der Zeit gelang es mir, den Horror zu vergessen, den er über mich und die Abtei gebracht hatte.« Das Beben, das ihn in immer kürzeren Abständen überkam, wurde stärker und er schlotterte so sehr, dass seine Zähne klapperten. »Aber nun weiß ich, dass ich alles nur verdrängt habe, denn es ist schlimmer als zuvor. Als kürzlich in Palermo die verstümmelten Männerleichen gefunden wurden, habe ich sofort an ihn denken müssen, weil … weil er so etwas in seinem Tagebuch beschrieben hat. Und nun hat er mir diesen verfluchten Artikel zugeschickt, um sich mit seinen Taten zu brüsten.« Crowleys Körper wurde von konvulsivischen Krämpfen geschüttelt. »Schütze mich, oh dunkler Gott, vor dem Geist des Abgrunds, der mich zu verschlingen droht!«, schrie er gellend und klammerte sich an Maureen fest wie ein Ertrinkender.
Vom Flur her waren laute Schritte zu vernehmen und gleich darauf trat Doktor Sandler in Begleitung eines hünenhaften Krankenwärters ins Zimmer, um den Tobenden ruhig zu stellen. Während ihn der Pfleger mit routiniertem Griff bändigte, setzte Maureen den Psychiater über Crowleys Zustand in Kenntnis.
»Er fantasiert die ganze Zeit von einem gewissen Bruder Pan und fühlt sich von ihm bedroht«, erläuterte sie knapp.
»Toxische Paranoia«, diagnostizierte der junge Nervenarzt und injizierte Crowley eine Bromlösung, die ihn in einen Dämmerschlaf versetzte.

Nach zehn Tagen auf der Entwöhnungsstation, deren Fenster vergittert und Türen verschlossen waren, hatte sich Crowleys Zustand so weit stabilisiert, dass es ihm erstmals erlaubt wurde, in Begleitung von Maureen einen Rundgang durch das Sanatorium und die Außenanlagen zu unternehmen. Um neun Uhr morgens holte ihn Maureen in seiner Suite ab. Der Okkultist trug zur Unkenntlichmachung wieder seine schwarze Perücke, die dunklen Augengläser und den unvermeidlichen Schottenrock.
»Guten Morgen, meine Schöne!«, säuselte er. Als er auf den Flur hinaustrat, unternahm er mit der Erläuterung, er sei noch etwas wackelig auf den Beinen, sogleich den Versuch, sich bei Maureen unterzuhaken.
Sie erteilte ihm jedoch lapidar eine Abfuhr. »Umso wichtiger ist es zu lernen, wieder auf eigenen Beinen zu stehen.« Dann begann sie mit ihrer Führung durch das schlossartige Gebäude. Sie wies auf die nummerierten Türen zu beiden Seiten des Flurs und erläuterte, dass alle Patienten des Holloway-Sanatoriums ein eigenes Wohn- und Schlafzimmer mit einem feudal ausgestatteten Badezimmer hätten. »Allerdings residieren nur besonders wohlhabende Patienten wie Sie in so weitläufigen Suiten, die mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet sind.«
Crowley gab ein trockenes Auflachen von sich. »Ich bin arm wie eine Kirchenmaus und dass ich mir den Aufenthalt in dieser Luxus-Klapsmühle überhaupt leisten kann, verdanke ich einem reichen und überaus großzügigen Gönner.«
Maureen musterte ihn verwundert. »Soweit mir bekannt ist, stammen Sie doch aus einer begüterten Fabrikanten-Familie.«
»Mein Vater war Bierbrauer und hinterließ mir in der Tat ein beträchtliches Vermögen. Doch nichts währt ewig, Fairy Queen, so ist das nun mal«, seufzte Crowley kurzatmig und folgte Maureen hinaus ins Treppenhaus, wo sich die Bäder- und Massageabteilung mit einem Türkischen Bad und einem beheizten Schwimmbecken befand. Mäßig interessiert ließ er sich das Dampfbad und das Schwimmbassin zeigen, in dem sich an diesem Morgen bloß eine Handvoll Patienten aufhielt. »Sind ja nur fette alte Männer«, murmelte er despektierlich.
»Frauen suchen Sie hier auch vergeblich, die sind in einem anderen Flügel untergebracht«, erläuterte Maureen.
»Ist ja wie im Kloster«, murrte der Magier.
»Das ist in Krankenhäusern üblich. Wir haben damit die besten Erfahrungen gemacht. Es gibt allerdings auch Bereiche, die von Männern und Frauen gemeinsam genutzt werden, und die werde ich Ihnen nun zeigen«, erwiderte Maureen und begab sich mit Crowley ins Erdgeschoss, wo sie in eine weitläufige, lichtdurchflutete Erholungshalle traten. »Hier findet jeden Nachmittag ein Tanztee statt, außerdem werden regelmäßig Konzerte veranstaltet. Am anderen Ende gibt es sogar ein Lichtspieltheater und eine Patienten-Bücherei. Wie Sie sehen, haben wir auch Billard-Tische, falls Sie sich ein wenig verlustieren möchten.« Während sie ihren Patienten durch die marmorne Halle führte, an deren Längsseiten bequeme Leder-Fauteuils und gepolsterte Liegen aufgestellt waren, grüßte sie höflich in die Runde der Patientinnen und Patienten, die ihnen mit gelangweilten Mienen entgegenblickten.
»Wie viele von diesen Scheintoten sind denn hier untergebracht«, fragte der Magier verdrossen.
»Wir haben rund vierhundert Patienten und ungefähr zweihundert Schwestern und Pfleger, die in einem separaten Gebäude hinter dem Sanatorium wohnen.«
»Du auch, Fairy Queen?«
Maureen bestätigte das und erkundigte sich, ob sie eine kleine Pause einlegen und sich ein wenig auf die Sonnenterrasse setzen sollten.
»Wenn sich dort noch mehr von diesen blasierten Arschlöchern tummeln, lehne ich dankend ab«, erwiderte der Mann im Kilt mit derbem Humor.
Maureen warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Wie reden Sie denn von Ihren Mit-Patienten, Mr Crowley? Das sind doch alles seelisch kranke Menschen, genau wie Sie.«
Crowley, dem es überhaupt nicht zu gefallen schien, mit den anderen Insassen des Holloway-Sanatoriums auf eine Stufe gestellt zu werden, blieb abrupt stehen. »Ich bin der Großmeister des hermetischen Ordens des Golden Dawn, der Laird von Boleskine und der Hohepriester des Ordens von Thelema und mitnichten geisteskrank«, äußerte er scharf.
Maureen musste unwillkürlich grinsen. »Sie sind hier, um sich von Ihrer langjährigen Drogensucht zu entwöhnen, Sir, und Sucht ist auch eine seelische Erkrankung, das sollten Sie akzeptieren!«
Der Magier schüttelte unwirsch den Kopf. »Ach, hör doch auf! Ich habe seit gut zwei Wochen nichts Berauschendes mehr angerührt, von Sucht kann also gar keine Rede sein.«
»Lediglich die körperliche Abhängigkeit haben Sie einstweilen überwunden, Mr Crowley, die psychische Abhängigkeit aber noch lange nicht. Bei manchen Abhängigkeitserkrankungen währt sie ein Leben lang.«
»Sei doch nicht so gnadenlos, Fairy Queen!«
»Sie müssen sich der Wahrheit stellen, Sir, nur so können Sie gesund werden – und es bleiben.«
»Mit einer Elfe wie dir an meiner Seite könnte ich’s hinkriegen.«
»Sie müssen lernen, Ihre eigene Elfe zu sein, das sollte doch für einen Magier im Rahmen des Machbaren sein.« Maureen bedachte Crowley mit einem verschmitzten Lächeln. »So, und jetzt zeige ich Ihnen den Speisesaal, wo Sie heute erstmals Lunch und Dinner einnehmen können. Tee, Mokka, Gebäck und andere Erfrischungen werden unseren Patienten den ganzen Tag über serviert.« Sie wies auf die livrierten Kellner, die mit gefüllten Tabletts durch den Saal eilten und die Gäste bedienten. »Wenn Sie möchten, können wir einen Tee trinken.«
Der Magier blinzelte durch die bleiverglasten, mit weißen Chiffon-Gardinen drapierten Fensterscheiben, durch die strahlendes Sonnenlicht hereinflutete. »Heute ist so ein schöner Tag, da möchte ich lieber draußen sein und mich in die Sonne setzen.«
»Gerne, Mr Crowley, dann gehen wir doch hinaus in den Park.«
Vorbei am Cricketfeld, dem Tennisplatz, einer großen Sonnenterrasse, vor der ein kunstvoll modellierter Springbrunnen plätscherte, führte Maureen Crowley durch den weitläufigen englischen Garten, in dem eine Gruppe von Gärtnern geschäftig arbeitete und die Spaziergänger höflich grüßte. Einer von ihnen, ein verschlagen anmutender Bursche mit einem vernarbten Gesicht, beäugte die junge Krankenschwester und den Mann im Schottenrock mit zudringlichen Blicken, die Maureen unangenehm waren. Obwohl sie den Impuls spürte, einen entsprechenden Kommentar abzugeben, verkniff sie sich einen solchen und dachte nur bei sich, dass die Verwaltung des Sanatoriums in Bezug auf die Parkarbeiter offenbar nicht sehr wählerisch war.
»Unser Behandlungsschwerpunkt ist, dass sich die Patienten ganz vom Stress der Außenwelt und ihren Problemen lösen«, fuhr sie schließlich fort. »Wir veranstalten Cricket-Turniere und Reisen nach Ascot und Henley. Auch eine Villa im Seebad Bournemouth dient dem Wohle der Insassen, um sich an der frischen Seeluft zu erholen«, erläuterte sie dem Magier. »Die feudale Atmosphäre des Holloway-Sanatoriums, das eher einem Luxus-Hotel als einer Nervenklinik gleicht, soll die Patienten zu einem angemessenen Verhalten anregen. Diejenigen, die das schaffen, erhalten Privilegien wie die Teilnahme an Reisen und Ausflügen oder auch das alleinige Verlassen des Sanatoriums. Deswegen haben Ihnen die Ärzte heute auch erlaubt, die Mahlzeiten im Speisesaal einzunehmen, und wenn Sie sich weiterhin so gut machen, werden auch bald andere Vergünstigungen folgen.«