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»Also mit Ascot brauchst du mir nicht zu kommen, mein Kind«, stieß Crowley zwischen den Zähnen hervor. »Wenn ich diese Snobs nur sehe, könnte ich schon das Kotzen kriegen.«
»Mr Crowley, ich muss doch sehr bitten!«, maßregelte ihn Maureen mit gespielter Strenge. »Wenn unsere moralische Behandlung nicht fruchtet, wie es bei Ihnen augenscheinlich der Fall ist, wird der Patient in eine Zwangsjacke gesteckt und kommt in die Gummizelle.«
»Mach mir keine Angst, Fairy Queen, sonst drehe ich wieder durch!«, entgegnete er grinsend und zog irre Grimassen, über die Maureen lauthals lachen musste.
Inzwischen waren sie zu einem idyllischen Seerosenteich gelangt, der von mehreren Parkbänken umgeben war. »Das ist mein Lieblingsplatz«, erklärte Maureen gutgelaunt und schlug vor, sich auf einer der Bänke niederzulassen und ein Sonnenbad zu nehmen. »Was für ein herrlicher Tag«, seufzte sie wohlig und inhalierte tief die Frühlingsluft, die durchsetzt war von süßem Blütenduft.
Um die in leuchtenden Farben blühenden Rhododendron-Sträucher schwirrten Bienen und Schmetterlinge und der Wonnemonat Mai zeigte sich in seiner ganzen Pracht. Maureen schloss die Augen und genoss einfach das Leben. Auch Crowley schwieg und schien sich ganz dem Augenblick zu ergeben.
»Haben Sie eigentlich Kinder, Mr Crowley?«, erkundigte sich Maureen unvermittelt.
»Ja«, erwiderte er verhalten. »Eine sechzehnjährige Tochter namens Lola Zaza von meiner ersten Frau und meine Söhne Hansi und Howard, die ich mit meinen beiden Konkubinen Alostrael und Ninette habe. Meine Töchter Lilith und Poupée starben leider sehr jung. Poupée war meine Jüngste, sie starb vor knapp drei Jahren in Cefalù an Typhus.« Er hüstelte ergriffen. »Du erinnerst mich an sie, Fairy Queen. Poupée war auch strawberry blonde und hatte feine Sommersprossen auf dem seidigen Teint, genau wie du. Sie war mein Augenstern und ich vermisse sie sehr.« Er wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.
Maureen musterte ihn betroffen. »Das tut mir leid, Sir! Zum Glück sind Ihnen noch drei andere Kinder geblieben«, versuchte sie ihn aufzumuntern. »Sie werden sie bestimmt wiedersehen, wenn Ihre Kur zu Ende ist.«
»Hansi und meine scharlachrote Frau Alostrael sind derzeit in Tunesien, wohin ich ihnen nachfolgen werde, wenn der Scheiß hier vorbei ist.« Crowley hatte offenbar zu seinem alten Zynismus zurückgefunden. »Die erste Hälfte habe ich ja schon abgesessen.«
»Und die zweite Hälfte wird mit Sicherheit vergnüglicher als die erste, denn das Gröbste haben Sie ja nun hinter sich und wenn Sie sich bewähren, dürfen Sie demnächst auch das Anstaltsgelände verlassen und das idyllische Städtchen Virginia Water erkunden – in Begleitung von Pfleger Festus, versteht sich.«
Crowley prustete los. »Soll ich mit diesem Gorilla etwa seine Verwandten im Zoo besuchen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
»Unsere männlichen Patienten werden bei Außenaktivitäten immer von Krankenwärtern begleitet, das ist bei uns so üblich. Unsere Pfleger Festus und Walter machen das sehr gut und wie ich weiß, sind sie auch zwei lustige Burschen, die gerne mal ein Späßchen machen.«
»Ja, dich in den Schwitzkasten nehmen, bis dir die Luft wegbleibt«, knurrte Crowley missmutig.
»Das war nur zu Ihrem Schutz, Sir, denn Sie hatten ja ein schlimmes Entzugsdelir.«
Maureen, die Crowleys Geschichte über den ominösen Bruder Pan keineswegs auf die leichte Schulter genommen hatte, hatte unmittelbar nach dem Vorfall in Crowleys Suite Doktor Sandler und den Oberarzt Doktor Eisenberg zu Rate gezogen. Sie waren so verblieben, dass der Oberarzt den Patienten noch einmal darauf ansprechen würde, wenn er wieder bei klarem Verstand war. Crowley hatte bisher jedoch jedes Gespräch abgeblockt und sich damit herausgeredet, er könne sich an nichts mehr erinnern. Maureen hingegen hatte er erbitterte Vorwürfe gemacht, weil sie den Ärzten erzählt hatte, was er ihr anvertraut hatte. Fortan war er ihr ausgewichen, wenn sie das Thema gestreift hatte. Als sie vorsichtig nachgefragt hatte, ob es nicht ratsam sei, seinen Verdacht der Polizei zu melden, hatte er nur unflätige Flüche von sich gegeben. Er war der Meinung, das würde nur an ihm kleben bleiben, da sein Ruf durch die Hasstiraden der Presse total ruiniert sei. Maureen, die sein Zaudern gut verstehen konnte, ließ der Vorfall dennoch keine Ruhe und so beschloss sie kurzerhand, ihn noch einmal auf Bruder Pan anzusprechen.
»Mr Crowley, sagen Sie mir bitte ganz ehrlich, ob das, was Sie mir über Bruder Pan erzählt haben, die Wahrheit war!«
Crowley fuhr zusammen, wie von einem Peitschenhieb getroffen. »Ich hatte Wahnvorstellungen, Schwester Maureen, und kann mich nicht mehr genau erinnern, was ich alles von mir gegeben habe. Das habe ich auch den Weißkitteln gesagt, als die mich darauf festnageln wollten«, erwiderte er ungewohnt abweisend.
Maureen gab sich jedoch nicht zufrieden damit, da ihre Intuition ihr etwas anderes sagte. Obgleich Crowleys Augen hinter dunklen Gläsern verborgen waren, blickte sie ihn eindringlich an.
»Gibt es Bruder Pan oder war er nur eine Ausgeburt Ihrer Fantasie?«
Crowley schluckte krampfhaft, seine Atemzüge wurden von einem Pfeifen begleitet und er schien kurz vor einem Asthma-Anfall zu stehen. Er gab ein heiseres Krächzen von sich, welches Maureen wie ein »Ja« vorkam, aber sie war sich nicht sicher.
»Kommt her, ihr stinkenden Kackbeutel!«, vernahm sie plötzlich eine keifende Frauenstimme und lenkte unmutig ihren Blick in die entsprechende Richtung.
Nur einen Steinwurf entfernt, auf dem Holzsteg unweit des Pavillons, gewahrte sie eine ganz in Schwarz gekleidete Dame, die seltsame Pirouetten vollführte und den Schwänen und Enten, die sich lauthals schnatternd um den Steg tummelten, Brotwürfel hinwarf. Die Dame trug einen altmodischen schwarzen Hut mit Spitzenschleier, wie er um die Jahrhundertwende modern gewesen war, und schien Maureen und ihren seltsam gewandeten Begleiter nun gleichfalls bemerkt zu haben.
»Piss-Nelke und Sackgesicht … schönes Wetter heute!«, krähte sie frohgemut vom Steg herüber.
»Guten Morgen, Gräfin Bronski!«, grüßte Maureen winkend in ihre Richtung und ahnte bereits, was kommen würde.
Und sie hatte sich nicht getäuscht, denn die vermögende polnische Adelsdame, die seit zwanzig Jahren im Holloway-Sanatorium untergebracht war und unter dem Tourette-Syndrom litt, verließ den Steg und eilte Pirouetten drehend, aber nicht minder zielstrebig zu ihnen.
»Lassen Sie sich nicht von ihrer Vulgärsprache provozieren, sie hat einen Tick«, konnte Maureen Crowley gerade noch zuraunen, als die Gräfin die Bank auch schon erreicht hatte und sich ungefragt an Maureens Seite niederließ.
»Im Gegensatz zu meinem schönen Haus ist es die Hölle hier und ich weiß nicht, wie ich das noch länger ertragen soll«, zeterte sie mit starkem polnischen Akzent. »Noch nicht mal einen katholischen Priester haben wir hier und sonntags in der Kapelle muss man mit diesen Lutheranern zusammensitzen.«
Maureen musste sich ein Grinsen verkneifen. Sie erinnerte sich noch deutlich daran, was der Anstaltsleiter Professor Sutton bei einem Rundgang durch die Abteilungen, an dem sie ebenfalls teilgenommen hatte, zu den neuen Schwestern über die Gräfin geäußert hatte.
»Sie spricht nur mit jemandem, um ihn zu beleidigen, und behandelt ihre Mit-Patientinnen wie Dreck unter ihren Füßen. Sie weigert sich, mit den Ärzten zu reden, und falls doch, dann nur in der Fäkaliensprache. Trotz allem scheint sie im Holloway-Sanatorium glücklich und zufrieden zu sein und betrachtet es als ihr Zuhause«
Es war außerdem bekannt, dass Gräfin Bronski ausgesprochen tierlieb war und Tiere mehr mochte als Menschen. Im Speisesaal konnte man sie dabei beobachten, wie sie die besten Bissen ihres Abendessens in ein Schälchen legte und es den Katzen hinstellte, die den Park des Sanatoriums bevölkerten. An hohen katholischen Feiertagen fütterte sie ihre Lieblinge sogar mit edlen Austern, die sie im hiesigen Feinkostladen bestellte.
Um die Etikette zu wahren, auf die im Holloway-Sanatorium stets großer Wert gelegt wurde, entschloss sich Maureen, den Okkultisten und die Gräfin miteinander bekannt zu machen. »Darf ich vorstellen? Gräfin Elzbieta von Bronski – Sir Alfred de Kerval.«
Während Crowley, dem die Ablenkung durchaus gelegen schien, höflich den Kopf neigte, entgegnete die Gräfin in akzentfreiem Französisch: »Je suis très heureuse.« Dann fügte sie hinzu: »Stinkmorschel«, und lächelte charmant. »Hundsfotze«, konterte der Magier mit maliziösem Grinsen und ließ die Dame wissen, dass sie ihn an jemanden erinnere.
»Was Sie nicht sagen, Arschtorte!«, gurrte die Gräfin.
»Haben Sie schon einmal von Helena Petrovna Blavatsky gehört, Verehrteste?«
Daraufhin schlug die Patientin mit der Faust auf die Bank und strampelte wild mit den Füßen. Sie stieß ein paar polnische Flüche aus und schrie: »Diese russische Teufelin soll in der Hölle schmoren!«
Crowley schien ihr Wutanfall ein diebisches Vergnügen zu bereiten. »Sie mögen sie wohl nicht besonders, die famose Gründerin der Theosophischen Gesellschaft?«, näselte er verschwörerisch. »Darf ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, verehrte Frau Gräfin? Helena Petrovna Blavatsky war Jack the Ripper.«
Die Gräfin war schlagartig erstarrt und fixierte Crowley mit einem eigentümlichen Blick. »Das glaube ich aufs Wort«, erwiderte sie sinister und klatschte in die kleinen, schwarz behandschuhten Hände. »Bravo, bravo!«, skandierte sie in pathetischem Tonfall. »Sie gefallen mir, mein Herr. Möchten Sie mit mir die Enten füttern?«
»Sehr gerne, Madam – wenn es Sie nicht stört, dass ich den Viechern die Hälse umdrehe.« Crowley hatte sich erhoben und bot der Gräfin ritterlich den Arm.
Sie brach in affektiertes Kichern aus. »Sie sind ein böser Junge, Sir Alfred«, scherzte sie mit neckisch erhobenem Zeigefinger, legte kokett ihre Hand auf den dargebotenen Arm und ließ sich von Crowley zum Entensteg begleiten.
Maureen blickte ihnen von der Bank aus lächelnd hinterher. Die schwierige und verschrobene Patientin schien an dem an Exzentrik kaum zu überbietenden Magier einen Narren gefressen zu haben. Etwa im gleichen Alter, hätten sie nach Maureens Dafürhalten ein echtes Traumpaar sein können, das sich auf Anhieb fabelhaft verstand. Nun standen sie nebeneinander auf dem Steg wie alte Freunde, unterhielten sich angeregt und lachten viel. Alles wirkte so ungekünstelt, beide zeigten sich von ihrer besten Seite und blieben doch sie selbst. Während die Gräfin in regelmäßigen Abständen ihre Pirouetten vollführte, stellte sich Crowley mit ausgebreiteten Armen schützend vor sie hin, damit sie nicht ins Wasser fiel.
Es machte Maureen Spaß, ihnen zuzuschauen, bis sie plötzlich von einem Paar abgelenkt wurde, das von der Rückseite des Parks kam und auf den Pavillon zusteuerte. Beim Näherkommen der jungen Leute, die Arm in Arm über den weißgekiesten Parkweg schlenderten, erkannte Maureen in dem stattlichen Mann, der mit seiner hübschen Begleiterin verliebte Blicke tauschte, Doktor Sandler und ihr Herz erstarrte förmlich. Sie erinnerte sich daran, dass er heute seinen freien Tag hatte, den er offenbar mit seiner Liebsten verbrachte. Sie war so verletzt, dass ihr die Tränen in die Augen traten. In letzter Zeit hatte sie sich nämlich eingebildet, dass er ähnliche Gefühle für sie hegte wie sie für ihn.
Was für ein Trugschluss! Da war wohl der Wunsch der Vater des Gedankens, musste sie mit Bitternis erkennen und fühlte einen dicken Kloß im Hals – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie drauf und dran war, loszuheulen. Doch diesen Gefallen würde sie diesem Judas nicht tun. Macht mir schöne Augen, obwohl er eine Freundin hat, der Mistkerl! Vielleicht ist sie ja sogar seine Braut …
Dergestalt überschlugen sich Maureens Gedanken, als Doktor Sandler sogar die Stirn hatte, ihr von der Pagode her freundlich zuzuwinken. Er sagte etwas zu seiner Begleiterin, woraufhin diese Maureen lächelnd zunickte. Obwohl Maureens Blicke Giftpfeile versprühten, hob auch sie mechanisch den Arm und grüßte zurück. Als Crowley und die Gräfin Bronski wenig später zur Bank zurückkehrten, fanden sie eine völlig erstarrte Maureen vor. Auf Crowleys Frage, was ihr fehle, entgegnete Maureen nur einsilbig, sie habe Kopfschmerzen. Der Okkultist, der Doktor Sandler und seine Begleiterin im Pavillon offenbar bemerkt hatte, schien den wahren Grund ihrer Niedergeschlagenheit zu ahnen.
»Hast was Besseres verdient als den Schnösel«, raunte er ihr zu und schlug vor, zum Sanatorium zurückzugehen.
Das kam Maureen, die den Anblick von Doktor Sandler und seiner Freundin nur schwer ertragen konnte, überaus gelegen. Während sich Crowley von der Gräfin mit galantem Handkuss verabschiedete und sich mit ihr zum Lunch verabredete, stand Maureen noch immer unter dem Eindruck des Gedankens, welcher ihr bei Crowleys Bemerkung unwillkürlich in den Sinn gekommen war: Etwas Besseres als Doktor Sandler? Du hast wohl ’ne Meise?!
Ihr war mehr denn je zum Heulen zumute. Ohne dem Verräter noch einmal zuzuwinken, erhob sie sich von der Bank und trat mit Crowley den Rückweg an.
Als Maureen um sieben Uhr abends mit ihrer Einkaufstüte zum Schwesternwohnheim zurückkehrte, schweiften ihre Blicke über den Park, der ins goldene Licht der Abendsonne getaucht war. Sie überlegte kurz, ob sie sich nachher, wenn sie ihre Einkäufe verstaut hatte, noch ein wenig nach draußen setzen sollte, doch da ihr nicht der Sinn nach Ansprache und Geselligkeit stand, entschied sie sich dagegen. Sie hatte gerade den Schlüssel in die Haustür gesteckt, als sie Schritte hinter sich hörte.
»Guten Abend, Schwester Maureen! Wie schön, Sie zu sehen!«, vernahm sie im nächsten Moment die vertraute Stimme von Doktor Sandler.
Sie wandte sich jäh zu ihm um. Fassungslos gewahrte sie, dass er wieder in Damenbegleitung war – es war dieselbe Frau wie am Vormittag. Mit versteinerten Gesichtszügen blickte sie die beiden an und konnte sich kaum einen Gruß abringen.
»Darf ich Ihnen meine Schwester Patricia vorstellen? Sie lebt in London und hat mir heute einen Besuch abgestattet«, erläuterte der junge Psychiater launig.
Maureen musste an sich halten, der sympathischen Dame mit den dunklen Haaren nicht vor Freude und Erleichterung um den Hals zu fallen. Aus der Nähe betrachtet hatte Patricia große Ähnlichkeit mit ihrem Bruder. Warum war Maureen das nicht früher aufgefallen? Sie errötete und reichte Patricia strahlend die Hand.
»Das ist meine Lieblingskollegin, Schwester Maureen Morgan«, sagte Doktor Sandler zu seiner Schwester.
»Freut mich sehr, Sie endlich kennenzulernen! Joe schwärmt in den hellsten Tönen von Ihnen«, erklärte Patricia unumwunden und drückte Maureen herzlich die Hand.
Nun war es Doktor Sandler, über dessen Gesicht sich eine zarte Röte breitete.
»Wir wollten gerade ins Kino gehen, in einen ganz gruseligen Film, den Joe aber unbedingt sehen will.« Patricia verzog die Mundwinkel.
»In ›Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens‹, ein Meisterwerk des deutschen Regisseurs Murnau, der letztes Jahr in Berlin uraufgeführt wurde und den man keinesfalls versäumen sollte«, erläuterte Doktor Sandler und fragte Maureen, ob sie nicht mitkommen wolle.
Auch seine Schwester war von der Idee sehr angetan. »Vorher gehen wir noch eine Kleinigkeit essen. Ach, kommen Sie doch mit, Maureen, das würde mich sehr freuen!«
Maureens Herz überschlug sich vor Freude – es gab nichts, was sie lieber täte. »Überredet, ich liebe gruselige Filme«, erklärte sie übermütig und brachte nur rasch die Einkäufe nach oben. Sie nutzte diese Zeit, um sich ein wenig zu beruhigen, da sie regelrecht aus dem Häuschen war – über die glückliche Wendung, die ihr der Abend beschert hatte.
Etwa zur gleichen Zeit betrat Aleister Crowley den Speisesaal und steuerte zielstrebig auf den Fenstertisch zu, an dem Gräfin Bronski ihn bereits erwartete. Wie er sehen konnte, hatte sie sich fürs Dinner in Schale geworfen, auf den altmodischen Hut mit dem Spitzenschleier verzichtet und stattdessen einem mondänen Stirnband mit einer silbergrauen Reiherfeder den Vorzug gegeben. Die slawischen Gesichtszüge mit den hohen Wangenknochen und den schrägstehenden Augen, die dem Magier freudig entgegenblickten, waren durchaus apart, wie Crowley feststellte und da sein Geschlechtsleben schon seit geraumer Zeit brachlag, war er einem etwaigen Abenteuer mit der Dame keineswegs abgeneigt. Dass sie eine linientreue Katholikin war, störte ihn dabei wenig. Im Gegenteil – im Rahmen seines exzessiven Sexuallebens, das kaum etwas ausgelassen hatte, hatte er mehrfach die Erfahrung gemacht, dass Frömmlerinnen im Bett alles andere als prüde waren. Und es gab noch einen Grund, warum er sich die Gräfin gewogen halten wollte: der schnöde Mammon. Denn seit der Hetzkampagne der Presse fand sich kein Verlag mehr, der seine Schriften veröffentlichte, und er war mehr denn je auf reiche Gönner angewiesen. So zeigte er sich von seiner charmanten Seite, trug über dem Kilt ein schwarzes Dinner-Jackett und hauchte der Dame galant einen Kuss auf den Handrücken, ehe er sich ihr gegenüber setzte. Als ein livrierter Ober herbeieilte, um ihnen die Menükarten zu reichen, bestellte Crowley einen Malt-Whiskey und fragte die Gräfin, ob sie auch einen wünsche.
»Das können Sie sich sparen, Sir Alfred! Hier gibt’s nur Tee, Säfte und Pisswasser, damit wir alle schön nüchtern bleiben«, krähte die Gräfin, woraufhin Crowley seufzend ein Ginger Ale orderte. »Machen Sie sich mal keine Sorgen, Sackgesicht! Dem können wir Abhilfe schaffen«, erklärte Gräfin Bronski, öffnete ihre elegante Abendhandtasche und präsentierte Crowley einen silbernen Flachmann. »Ist zwar kein Whiskey drin, aber ein guter französischer Cognac tut’s doch hoffentlich auch.«
Der Magier war begeistert. »Vortrefflich, meine Liebe, vortrefflich, der Abend ist gerettet!«
»Das machen die meisten hier, man darf sich nur nicht dabei erwischen lassen, sonst werden einem die Vergünstigungen gestrichen.«
Nachdem Crowley sein Ginger Ale dezent präpariert und der Gräfin gebührend zugeprostet hatte, servierte ihnen der Ober ein auserlesenes Vier-Gänge-Menü, sodass der vom Alkohol bereits euphorisierte Magier in bester Stimmung war. Er schob sich gerade genussvoll ein Stück Roastbeef in den Mund und schaute sich im Saal um, als er plötzlich zur Salzsäule erstarrte und ihm der Bissen fast im Halse stecken blieb.
Gräfin Bronski musterte ihn irritiert. »Was ist denn mit Ihnen los, haben Sie einen Geist gesehen?« Doch anstatt ihr zu antworten, starrte Crowley nur weiterhin ins Leere, woraufhin ihn die Gräfin energisch am Arm stupste und fragte: »Essen Sie das nicht mehr? Dann nehme ich das nämlich für meine Katzen mit.«
»Ja, ja, machen Sie nur! Äh, äh, Entschuldigung, ich muss gehen«, murmelte Crowley hektisch, erhob sich von seinem Stuhl, deutete eine Verbeugung an und verließ fluchtartig den Speisesaal.
»Der hat sie doch nicht mehr alle«, fluchte die Gräfin konsterniert. »Verpiss dich, Du Schwanzlurch«, rief sie dem Entschwindenden hinterher und da sie sowieso schon alle Blicke auf sich gezogen hatte, zertrümmerte sie noch wütend ihr Glas und schrie so laut, dass es durch den ganzen Saal hallte: »Glotzt nicht so blöd, ihr Arschgeigen!«

Um sechs Uhr früh zum Dienstantritt war Maureen zwar total übermüdet, aber guter Dinge. Nach dem Kino war sie noch mit Joe und Patricia, die ihr angeboten hatten, sich beim Vornamen zu nennen, in ein Pub gegangen. Dort hatten sie sich angeregt unterhalten und es war spät geworden. Maureen zehrte noch von dem schönen Abend und ließ ihn Revue passieren, während sie ins Schwesternzimmer trat, um mit den Kollegen von der Nachtschicht das Übergabe-Gespräch zu führen. Der muskulöse Pfleger Festus Houseknecht, der auch der Oberpfleger der Station war, und die Krankenschwester Ava Cushing saßen am Tisch und blinzelten ihr aus müden Augenschlitzen entgegen.
»Gibt schlechte Neuigkeiten«, grummelte Festus übellaunig, gleich nachdem sich Maureen zu ihnen gesetzt hatte. »Sir Alfred hat sich gestern Abend nach dem Dinner aus dem Staub gemacht und wurde im Morgengrauen von einer Polizeistreife nahe einer Opiumhöhle am Bahnhof besinnungslos aufgegriffen und zu uns zurückgebracht. Professor Sutton war darüber so verärgert, dass er einen kalten Entzug angeordnet hat – und wir dürfen den Schlamassel jetzt ausbaden. Als der Schotte vorhin zu sich gekommen ist, hat er eine solche Randale veranstaltet, dass ich ihn kurzerhand in die Gummizelle gesteckt habe. Am Lamentieren ist er zwar immer noch, aber die gepolsterten Wände halten schon was ab, sonst wäre das ja auch eine Zumutung für uns und die anderen Patienten. Es wäre gut, wenn du nachher mal nach ihm schauen könntest, Maureen. Vielleicht gelingt es dir ja, ihn zu beschwichtigen. So – und mit der eigentlichen Übergabe warten wir noch, bis endlich auch der Rest von der Tagesschicht eingetrudelt ist. Leider sind nicht alle so pünktlich wie du.«
Im nächsten Moment wurde an die Tür geklopft, die bei Besprechungen immer geschlossen wurde, und erstaunt gewahrten die Anwesenden die eindrucksvolle Gestalt von Professor Sutton im Türrahmen. Der Anstaltsleiter sah mit seinem sorgfältig ondulierten roten Vollbart, dem gewellten rotblonden Haar und dem markanten Aristokratengesicht wie die lebende Verkörperung von Richard Löwenherz aus – was ihm beim Personal auch diesen Spitznamen eingetragen hatte. Er grüßte schmallippig in die Runde und stellte den jungen Mann mit den blonden Stoppelhaaren, der nach ihm in den Raum getreten war, als Oberinspektor MacFaden von Scotland Yard vor. Den Herren folgten in dezentem Abstand die beiden Krankenschwestern Mildred Winnwood und Heather Atkinson, die sich mit betretenen Mienen im Hintergrund hielten. Als Maureens Blicke über ihre Gesichter schweiften, hatte sie den Eindruck, dass die Kolleginnen den Tränen nahe waren, was sie gleichermaßen erstaunte wie bedrückte.
Professor Sutton kam gleich zur Sache. »Auf dem Sanatoriums-Gelände, genauer gesagt am Rande des Seerosenteichs, hat eine unserer Patientinnen, die vorhin die Schwäne gefüttert hat, eine schreckliche Entdeckung gemacht«, sagte er mit vor Erregung bebender Stimme.
Maureen, die ihren Chef nur als beherrschten Vernunftmenschen kannte, war seltsam berührt.
»Es … es handelt sich um die enthauptete Leiche eines Mannes. Der Kopf des Toten wurde eben von der Polizei im Schilf gefunden. Ich übergebe nun das Wort an Oberinspektor MacFaden, der die Ermittlungen leitet.« Professor Sutton räusperte sich und wies auf den Inspektor.
»Da die Identität des Toten zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht geklärt ist, können wir momentan nicht gänzlich ausschließen, dass es sich bei ihm um einen Insassen der Heilanstalt handelt. Professor Sutton, der bei der Bergung dabei war, hat das zwar verneint, aber um absolute Klarheit zu erlangen, benötigen wir noch weitere Zeugen«, erläuterte der hochgewachsene Mann im gut geschnittenen Anzug sachlich. »Anhand der zahllosen Einstichstellen in seinen Armen lässt sich vermuten, dass der Tote drogenabhängig war. Daher ist es wichtig, dass sich die Angestellten der Suchtstation die Leiche anschauen, um zu klären, ob es sich möglicherweise um einen früheren Patienten handelt.«
Die Schwestern seufzten auf. Daraufhin erklärte der Inspektor, es genüge völlig, wenn ein Arzt und eine Schwester bei der Sichtung anwesend seien. Da inzwischen auch der Oberarzt Doktor Eisenberg und die anderen Psychiater der Suchtstation eingetroffen waren, wurde vereinbart, dass Oberpfleger Festus Doktor Eisenberg zur Leichenschau begleiten sollte.
»Scotland Yard hat in Erfahrung gebracht, dass ein Patient der Suchtstation in der Nacht nicht im Sanatorium war«, fuhr MacFaden fort. »Es geht um den berühmt-berüchtigten Okkultisten Aleister Crowley, der sich derzeit unter dem Decknamen Sir Alfred de Kerval hier aufhält. Im April gab es in Palermo bereits zwei ähnliche Mordfälle und Crowley wurde von den italienischen Kollegen als Täter verdächtigt, was sich jedoch als unbegründet erwies, da er sich zu dieser Zeit bereits im Holloway-Sanatorium aufhielt. Auch wenn ihm diese Morde nicht angelastet werden konnten, erscheint er uns in diesem neuerlichen Mordfall hochgradig verdächtig, da wir in seinem nächtlichen Verschwinden und dem Auffinden der Leiche auf dem Gelände des Sanatoriums einen Zusammenhang vermuten. Diesem Verdacht müssen wir unbedingt nachgehen. Daher möchte ich ihn nun einem ersten Verhör unterziehen.«