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4 Seit dem Frankfurter Wachensturm von 1833 war von einigen beherzten Bürgern mit Metzgermeister Martin May und dem Bierbraumeister Balthasar Rupp eine Bürgerschutzwache aufgestellt worden, in die alle Nicht-Stadtwehrpflichtigen eintreten sollten. Als Erkennungszeichen trugen sie eine graue Armbinde. Die Frankfurter nannten diese freiwillige Bürgerwehr ›Graumänner‹.
3
Sidonie Weiß saß wie jeden Abend an ihrem Sekretär und schrieb, was ihr momentan gar nicht so recht von der Hand gehen mochte, denn sie musste immer wieder an das ermordete Dienstmädchen denken und daran, was ihr der kleine Rudi Schickel heute früh erzählt hatte. Wie immer, wenn ihr nichts mehr einfiel, warf sie einen Blick auf den gerahmten Scherenschnitt Friedrich Hölderlins, der über ihrem Schreibtisch hing. Unter dem Porträt des Dichters stand ein Zitat aus dem ›Hyperion‹:
›Wer nur mit ganzer Seele wirkt, irrt nie.‹
Welch ein Genie, ging es dem Fräulein beim Anblick des Porträts durch den Sinn, und eine tiefe Wehmut erfasste sie. Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Rotweinglas und beschloss, eine Pause einzulegen. Zuweilen beflügelte sie das Bildnis Hölderlins und entlockte ihr die wunderbarsten Gedanken. Manches Mal aber überkam sie bei seiner Betrachtung eine lähmende Trübsal, der sie sich ganz und gar hingab. Zumindest für eine kleine Ewigkeit. Für eine kleine Ewigkeit, die sie sich zugestand und gleichzeitig auch begrenzte. Denn früh hatte sie gelernt, dass sich die Welt wieder drehen musste, damals, als sie ihm begegnete, im Hause ihrer Cousine, Susette Gontard.
Es gibt ein Gegengift, selbst für die Unbill einer unerwiderten Liebe!
Sidonie trat ans Fenster und öffnete die beiden Flügel. Eine frische Abendbrise wehte ihr entgegen. Sie schaute hinunter auf die Töngesgasse. Es dämmerte bereits. Über den Häusergiebeln konnte sie schon den Abendstern erkennen. An dem milden Spätsommerabend war die Gasse voller Leben. Junge Leute standen lachend und scherzend vor den Häusern, Gassenkinder tollten herum, Frauen saßen am Fenster und hielten einen Plausch mit der Nachbarin, und die Männer kamen von der Arbeit nach Hause. Während das Fräulein verschiedene Leute grüßte und Grüße erwiderte, hielt sie Ausschau nach Rudi. Bald konnte sie den Jungen in einer Gruppe von Kindern ausmachen, die Fangen spielte. Sie rief nach ihm. Der Junge unterbrach sein Spiel, kam herbeigelaufen und erkundigte sich, mit hochgerecktem Kopf unter dem Fenster stehend, was das Fräulein von ihm wolle.
»Komm bitte morgen früh um acht Uhr zu mir, mein Junge. Dann gehen wir zusammen zur Hauptwache, und du sagst dem Inspektor alles, was du mir heute Vormittag erzählt hast!«, teilte ihm das Fräulein in freundlichem, aber bestimmtem Tonfall mit, der keinen Widerspruch duldete.
»Ach, Fräuleinsche, ich will aber net auf die Gendarmerie! Könne Sie da net allein hingehen und denen erzählen, was ich Ihnen gesagt hab?«, erkundigte sich Rudi flehend.
»Nein, es ist wichtig, dass du mitkommst. Du brauchst dich doch nicht vor denen zu fürchten, du hast ja schließlich nichts ausgefressen, oder?«, bemerkte Sidonie schelmisch. »Komm, sei nicht so ein Angsthase, so kenn ich dich ja gar nicht. Außerdem bin ich ja dabei. Also sei bitte pünktlich. Ach, warte mal, hier hast du noch was.« Sidonie warf dem Jungen einen Apfel zu und begab sich wieder an ihr Schreibpult.
Fast trotzig blickte sie auf das Gemälde, das über dem Konterfei Hölderlins an der Wand angebracht war. Es stammte aus dem späten Mittelalter und war das Porträt ihrer Ahnin, Katharina Weiß von Limpurg, der Sidonie mit ihren kupferroten Haaren, der feinen, bleichen Stirn und den meergrünen Augen auffallend glich. Katharina war eine sehr gebildete, kultivierte Dame. Sie sprach und schrieb fließend Latein und verfasste Chroniken sowie eine Vielzahl gelehrter und erbaulicher Schriften. Sidonie, die sich seit ihrer frühen Jugend schriftstellerisch betätigte, war sie ein großes Vorbild.
Wundersam getröstet, ergriff sie ihre Feder und schrieb bis nach Mitternacht weiter.
Sidonie Weiß, die im ausgehenden 18. Jahrhundert als einzige Tochter einer vornehmen, aber verarmten Frankfurter Patrizierfamilie geboren worden war, schrieb seit nunmehr 35 Jahren und hatte in dieser Zeit über 20 Bücher veröffentlicht. Ihre Kriminalromane und Schauergeschichten erfreuten sich weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt hinaus großer Beliebtheit, bekannt war sie vor allem aber auch durch ihre Liebesgedichte. In den vornehmen Literarischen Salons Frankfurts, in denen Sidonie ihre Werke gelegentlich zum Vortrag brachte, fragte man sich im Stillen, wie es kam, dass eine blaustrümpfige, alte Jungfer, als die das Fräulein doch bei aller Liebenswürdigkeit gelten musste, in der Lage war, derart ergreifende Liebesempfindungen zu Papier zu bringen.
Sidonies Mutter starb kurze Zeit nach der Geburt ihrer Tochter am Kindbettfieber. Als Sidonie fünf Jahre alt war, erlag ihr Vater der Schwindsucht. Die Waise fand Aufnahme in der Familie ihres wohlhabenden Onkels, Christian Koch, wo sie gemeinsam mit ihren drei Cousins und der drei Jahre älteren Cousine Susette aufwuchs und erzogen wurde. Susette war für Sidonie bald wie eine geliebte Schwester, und Sidonie wurde wie eine leibliche Tochter behandelt. Sie erfuhr alle Vorzüge eines wohlhabenden, großbürgerlichen Haushalts und erhielt eine Erziehung, wie sie höheren Töchtern zukam. Im Gegensatz zu ihrer hübschen Cousine Susette war Sidonie mit ihren roten Haaren, den vielen Sommersprossen und dem leichten Silberblick nicht gerade eine Schönheit. Während sich im Hause Koch die jungen Kavaliere um Susette förmlich zu drängen begannen, schätzte man die unscheinbare Sidonie wegen ihrer Gutartigkeit höchstens als liebe Freundin. Schon früh hatte sie sich, ohne je darüber zu murren, mit ihrer Rolle als Mauerblümchen abgefunden. Während andere junge Damen von nichts anderem als von Bällen und Gesellschaften sprachen, interessierte sich Sidonie nur für Bücher, was dazu führte, dass sie bereits in jungen Jahren außerordentlich gebildet war – weitaus gebildeter, als man es einer Dame der Gesellschaft zubilligte. Sie begann, Geschichten und Gedichte zu schreiben, und versäumte kaum einen Literarischen Zirkel, der in den großbürgerlichen Salons Frankfurts abgehalten wurde. Ihre ganze Liebe und Verehrung galt der Literatur, und sie hatte das große Glück, zahlreichen namhaften Dichtern und Gelehrten persönlich zu begegnen.
Als Susette schließlich den Frankfurter Bankier, Jakob Gontard, heiratete, holte sie Sidonie als ihre engste Vertraute zu sich in die Villa Gontard, um in dem riesigen, kalten Mausoleum, wie sie es zu nennen pflegte, nicht so allein zu sein, denn ihr Gatte verbrachte weitaus mehr Zeit in seinem Bankhaus als mit seiner jungen Gemahlin. Sidonie, die Susette förmlich vergötterte, stellte ihre eigene Existenz wie selbstverständlich in den Dienst der schönen Cousine. Sie stand ihr während ihrer Schwangerschaften bei und wurde der keineswegs glücklich verheirateten Susette zur Seelentrösterin. Im Jahre 1796 stellte Jakob Gontard für seine Söhne den jungen Friedrich Hölderlin als Hauslehrer ein. Schon bald verliebte sich der Dichter in Susette, die ihrerseits, mit ihrer Ehe unzufrieden, Hölderlins Zuneigung erwiderte und eine heimliche Liaison mit ihm einging. Die beiden Verliebten bemerkten nicht, dass Sidonie, Susettes guter Geist, auf ihre stille, verhaltene Art ebenfalls in den jungen Dichter verliebt war. Diese Liebe blieb für Sidonie ein sorgsam gehütetes Geheimnis. Einzig ihrer Feder öffnete sie ihr Herz und ließ ihren Gefühlen so freien Lauf.
Als Gontard im Jahre 1800 schließlich von der Liebe seiner Frau zu dem Hauslehrer erfuhr, musste Hölderlin das Haus der Bankiersfamilie verlassen. 1802 starb Susette, die sich bei einem ihrer Söhne angesteckt hatte, an Röteln. Sidonie, die sich mit dem Hausherrn nie besonders gut verstanden hatte, zog daraufhin aus und siedelte in ihr Elternhaus in der Töngesgasse über, das in der Frankfurter Altstadt gelegen war. Zu diesem Zeitpunkt war sie längst im heiratsfähigen Alter, und ihr bleiches, sommersprossiges Gesicht mit den meergrünen Augen entbehrte nicht einer gewissen Anmut. So fand sich auch ein junger Verehrer, der die Schönheit von Sidonies Seele erkannte und sich in das zarte Geschöpf verliebte. Doch Sidonie, die ihr Herz unwiederbringlich an Hölderlin verloren hatte, lehnte den Antrag ab. Sie blieb unverheiratet, und inzwischen war sie zwar ein spätes Mädchen, mitnichten aber eine verbitterte, alte Jungfer. Neben der Schriftstellerei widmete sie sich der Armenfürsorge. Verwendete sie anfangs noch ihre eigenen, bescheidenen Mittel, den armen, kinderreichen Familien in der Nachbarschaft mit Milch, Lebensmitteln und Kleidern auszuhelfen, so war sie mittlerweile dazu übergegangen, wohlhabende Bürger für ihre mildtätigen Zwecke zu gewinnen.
Sidonie, die in Frankfurt allgemein nur ›das Fräulein‹ genannt wurde, war wie alle Ledigen und Alleinstehenden eine Außenseiterin in einer Gesellschaft, die das Familienideal über alles stellte. In den großbürgerlichen Salons bewunderte und schätzte man die Schreibkunst der Dichterin, empfand die freigeistige Intellektuelle indessen als suspekt. Nicht nur deshalb, weil sie bei gesellschaftlichen Anlässen mehr als schlicht, mitunter sogar nachlässig gekleidet war, war auch die Konversation mit ihr keineswegs so, wie man das in gehobenen Kreisen für angemessen erachtete. Sidonie Weiß galt als eigensinnig. Mit ihrer Meinung hielt sie nicht hinterm Berg und war weit davon entfernt, sich lieb Kind machen zu wollen. Ihre gelebte Devise, dem Gassenkehrer mit der gleichen Höflichkeit zu begegnen wie dem Bürgermeister, sorgte beim Frankfurter Großbürgertum, das gerne auch mit der hochdotierten Bundestagsdiplomatie aus dem Palais Thurn und Taxis gesellschaftlichen Umgang pflegte, für Unbehagen. Wollte man doch im Dunstkreis eines Fürsten von Metternich nicht etwa den Eindruck erwecken, man trage sich mit liberalem Gedankengut. Unverfänglicher dagegen waren für die tonangebende Oberschicht die Wohltätigkeitsaktivitäten des Fräuleins. In einer Stadt, der man nachsagte, dass nur das Geld den Lebensinhalt bestimme, war den Angehörigen des Geldadels durchaus daran gelegen, Bürgersinn zu beweisen, und zu allen Zeiten hatte man in Frankfurt eifrig gesammelt und gespendet, um Kultur und Wissenschaft zu fördern und die ärgste Not der armen Leute zu lindern – solange man das blanke Elend nicht vor der eigenen Haustür hatte. Sidonie hingegen, die mitten in der Frankfurter Altstadt lebte, war umgeben von armen, kinderreichen Familien. Und obgleich sie auch hier aufgrund ihres privilegierten Standes nicht richtig dazugehörte, war sie doch alles andere als ein distanzierter Zaungast.
Wirklich wohl fühlte sich Sidonie nur an ihrem Schreibtisch, was ihr jedoch nicht den Blick auf die Wirklichkeit trübte. Sie kannte die Elendsquartiere der Altstadt, in deren drangvoller Enge die Menschen zusammengepfercht waren wie Tiere im Stall. Und wenn es nicht die Schwindsucht war, die die Menschen hinwegraffte, war es der Branntwein. Um der ungesunden Beengtheit der Behausungen zu entkommen, verbrachten die Kinder oftmals den größten Teil des Tages auf der Straße. Die meisten Gassenkinder waren genau wie ihre Mütter gezwungen, mit dazuzuverdienen, denn der Lohn des Vaters reichte kaum für das Nötigste. Arbeiteten die Mütter stundenweise als Zugehefrauen oder Wäscherinnen in den Häusern der Höhergestellten, so fegten die Kinder Höfe, erledigten Botengänge und Besorgungen, trugen Lasten oder verkauften Backwaren auf öffentlichen Plätzen und Anlagen an Flaneure. Sidonie wusste, dass viele der Kinder Hunger litten, denn obgleich in den ärmlichen Haushalten sparsam gewirtschaftet wurde und alle anfallenden Nahrungsreste bis zum Äußersten verwässert und gestreckt wurden, reichten die kargen Mittel kaum aus, die vielen hungrigen Mäuler zu stopfen. Das Fräulein versuchte seit vielen Jahren, den Armen zu helfen, indem sie mehrere Suppenküchen in der Altstadt ins Leben gerufen hatte, wo arme Leute jeglichen Alters die Möglichkeit haben sollten, sich kostenlos satt zu essen. Außerdem erhielten die Kinder bedürftiger Familien in ihrem Haus in der Töngesgasse täglich einen Becher frische Milch. Da dies sehr gut angenommen wurde und dazu beitrug, den Mangelerkrankungen der Heranwachsenden ein wenig vorzubeugen, trug sich Sidonie inzwischen mit dem Gedanken, das Erreichte auszuweiten. Sie plante, in sämtlichen Regionen Frankfurts, dort wo die Not am größten war, kleine Milchbuden errichten zu lassen. Weil ihr indessen die Mittel zur Umsetzung noch fehlten, hatte sie vor, demnächst in den Kreisen der Wohlhabenden dafür zu sammeln.
Die Menschen im Quartier begegneten dem Fräulein mit großem Respekt und wussten ihre Hilfe sehr zu schätzen. Dennoch hatte Sidonie häufig das Gefühl, mit ihrer Mildtätigkeit lediglich ›den berühmten Tropfen auf den heißen Stein‹ fallen zu lassen. Ein schreckliches Ereignis, das inzwischen zwei Monate zurücklag, trug dazu bei, dies noch zu verstärken: Am Morgen des 21. Juni 1836 entschloss sich Sidonie, die Gendarmerie zu verständigen, nachdem die kleine Tochter von Schneidermeister Lichtwerk mehrere Tage nicht mehr bei ihr gewesen war, und auch die Nachbarn der Lichtwerks aus der Kornblumgasse bestätigt hatten, die Familie schon tagelang nicht gesehen zu haben. Zuvor hatte das Fräulein noch die Wohnung der Schneiderfamilie aufgesucht, und als auf ihr Rufen und Klopfen keiner reagierte, war sie zur Hauptwache geeilt. Nachdem den Polizisten ebenfalls nicht geöffnet wurde, brachen diese die Wohnungstür auf und machten einen grausigen Fund: Der Schneidermeister, Joachim Christian Lichtwerk, lag mit durchgeschnittener Kehle in einer Lache getrockneten Blutes. Ebenso seine Frau Anna Christina sowie seine Töchter Anna Sophie Gertrude und Anna Christina von drei und anderthalb Jahren. Lichtwerk hielt noch ein blutiges Rasiermesser in der Hand. Er hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen, aus dem hervorging, dass er seine Angehörigen und danach sich selbst mit Vorbedacht und dem Einverständnis seiner Frau getötet hatte. Mit der Ermordung der hochschwangeren Ehefrau hatte er auch die Tötung der fast ausgetragenen Leibesfrucht verursacht. Das Kind war nicht mehr zu retten. Hauptursache der Tat war seinen Angaben nach existenzielle Not. Das Geschäft des Schneidermeisters war vom Niedergang bedroht. In seinem hinterlassenen Brief beklagte Lichtwerk, dass er seit vier Monaten die Miete nicht mehr hatte aufbringen können. Kein Kunde habe seine Schneiderrechnungen bezahlt, er sei von allen Seiten geprellt worden. So hatte er einen Tuchhändler betrogen, der ihn dann angezeigt hatte. Die Verurteilung stand unmittelbar bevor, als der erst 34-jährige Lichtwerk zu seiner Verzweiflungstat schritt.
Der tote Schneidermeister wurde für seine Mordtaten und die Selbsttötung noch einmal offiziell zum Tode verurteilt und in ungeweihter Erde begraben. Die Obrigkeit war über den Fall Lichtwerk zwar betroffen, zeigte sich jedoch bar jeden Mitgefühls. Die Presse reagierte ähnlich. In dem Frankfurter Journal, dem Frankfurter Konversationsblatt und der Frankfurter Kaiserlichen Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung wurde einzig Lichtwerks Bluttat verurteilt; dass es sich dabei um einen Akt purer Verzweiflung gehandelt hatte, hingegen mit keinem Wort gewürdigt. Sidonie war darüber so aufgebracht, dass sie einen Leserbrief an die Frankfurter Zeitungen schrieb, der jedoch unveröffentlicht blieb. In den darauffolgenden Wochen war das Fräulein sehr niedergeschlagen. Sie machte sich wegen der Lichtwerks schlimme Vorwürfe und hatte mehr und mehr das Gefühl, bei ihrem Kampf gegen die Armut auf der Stelle zu treten.
Kurz nachdem die Rathausuhr die zwölfte Stunde angeschlagen hatte, klopfte es sachte an der Tür von Sidonies Arbeitszimmer und Mathilde, des Fräuleins Aufwartefrau, trat ins Zimmer.
»Ich wollt Sie nicht stören, aber ich war grad noch mal unten in der Küch gewesen, und da hab ich gesehen, dass Sie noch Licht anhaben. Ei, Fräuleinsche, Sie müssen doch morgen früh raus. Gehn Se doch bald mal schlafen. Oder soll ich Ihnen grad noch was zu essen bringen?«, erkundigte sich die alte Frau fürsorglich, die angesichts der fragilen Statur des Fräuleins immerzu um deren leibliches Wohl besorgt war.
»Nein, nein, Tante Tilla. Ich hab wirklich keinen Hunger. Ich wollt auch bald ins Bett gehen. Komm, setz dich noch ein bisschen her, dann trinken wir zusammen ein Glas Wein, und du knetest mir ein bisschen den Nacken. Der tut mir von der Schreiberei nämlich wieder weh.« Sidonie streckte sich, gähnte ausgiebig, holte ein weiteres Glas vom Wandbord und schenkte nach. Mathilde Janz war Sidonies einzige Bedienstete. Seit nunmehr 30 Jahren war sie bei dem Fräulein in Stellung, und die Frauen kamen gut miteinander aus. Zuweilen kabbelten sie sich auch, wobei es meistens ums Essen ging. Denn die füllige Mathilde, die eine ausgezeichnete Köchin war, konnte es einfach nicht mit ansehen, dass das ohnehin so zerbrechlich wirkende Fräulein einen eher mäßigen Appetit hatte. Bei solchen, aber auch bei anderen, ähnlichen Anlässen, warfen sich die Frauen gerne vor, für wie starrsinnig und uneinsichtig sie einander hielten. Das Fräulein pflegte Mathilde dann als ›unverbesserliche Rechthaberin‹ zu betiteln, während diese Sidonie einen ›alten Dickkopf‹ nannte. In solchen Momenten glichen die beiden einem alten Ehepaar. Sidonie konnte mit der einfachen Frau über alles sprechen. Tante Tilla, wie die resolute, aber gutmütige Mathilde von allen im Quartier genannt wurde, war oft die Erste, der Sidonie Passagen ihrer Werke vorlas. Sie gab viel auf Mathildes Urteil. Nach Sidonies Dafürhalten besaß die alte, ungebildete Magd eine natürliche Intelligenz und ein untrügliches Gespür für schlüssige Zusammenhänge. Tante Tilla, ähnlich wie ihre Herrschaft, sagte gerne unumwunden ihre Meinung und sparte meist auch nicht mit Kritik, was Sidonie sehr an ihr schätzte. Beide waren unverheiratet und hatten keine Familie.
»Ob Sie da morgen viel erreichen, bei dem komischen Inspektor, da hab ich so meine Zweifel«, äußerte sich Mathilde mürrisch, nachdem sich die Frauen zugeprostet hatten. »Des ist auch kein richtiger Frankfurter. Der ist, glaub ich, erst seit einem Jahr hier. Soll ein Sauschwab sein, hab ich gehört.«
»Das ist mir ganz egal, wo der herkommt. Von mir aus kann der auch ein Rheinländer oder Sachse sein – solang’s kein Offenbächer ist. Aber Spaß beiseite: Hauptsache, der versteht sein Handwerk und läuft nicht mit Scheuklappen herum wie dieser Zeitungsfritze vom Frankfurter Konversationsblatt. Es ist doch nicht zu glauben, was der für einen Mist fabriziert hat«, ereiferte sich das Fräulein. »Genau wie damals, als man die Lichtwerks tot in ihrer Wohnung gefunden hat. Und jetzt haben wir in Frankfurt wieder einen tragischen Todesfall, und die Journaille hat abermals nichts Besseres zu tun, als das Opfer durch den Dreck zu ziehen und den Kopf in den Sand zu stecken. Gott, ich könnt mich grad wieder grün ärgern! Was weiß denn schon so ein feister Zeitungsschreiber von der Not der ledigen Mütter?«
»Dem sei Frau muss bestimmt net zum Engelmacher rennen, wenn sie in anderen Umständen ist!«, entrüstete sich auch Mathilde.
»Und das ist ja noch längst nicht das Schlimmste. Aus Angst vor der Schande ersticken manche unverheirateten Frauen sogar ihre Neugeborenen. Nicht selten kommt es vor, dass ihnen ihre Mütter dabei behilflich sind, damit nur ja keiner was merkt und der Ruf der Familie nicht ruiniert wird«, setzte Sidonie hinzu. »Oft sind es die Tapfersten, die ihre Kinder austragen und allein großziehen. Vor denen kann man nur den Hut ziehen, wo es ihnen doch von allen Seiten noch viel schwerer gemacht wird, als es den armen Leuten ohnehin geht. Und dann lässt dieser Schmierfink kein gutes Haar an dem armen Ding. Na ja, wie man es in Frankfurt hinlänglich kennt: Gegen die Blasiertheit und Ignoranz der Philister ist wohl kein Kraut gewachsen. Kein Wunder, dass so gute Leute wie der Börne und der Heine Frankfurt den Rücken gekehrt haben. Ich weiß noch, wie der Heinrich immer gesagt hat: Frankfurt ist mir verhasst. Die dortige Philisterei fürchte ich mehr als die Cholera«, zitierte Sidonie grimmig.
»Was heißt hier Cholera! Von meinem Quetschekuche konnt der doch nie genug kriegen«, erwiderte Mathilde trocken. Sidonie musste lachen.
»Ach, Tante Tilla, du kannst immer nur ans Essen denken!«
Wohlig vergraben in ihr Federbett, nahm sich das Fräulein für den morgigen Tag vor, jeglicher Schwerfälligkeit des Amtsschimmels entschlossen Paroli zu bieten.
4
Als Sidonie am Freitagmorgen mit Rudi durch die Töngesgasse in Richtung Liebfrauenberg ging, goss es in Strömen. Sidonie trug einen haubenartigen, rosafarbenen Filzhut, an dessen Seiten rötliche Korkenzieherlocken hervorquollen, und ein grau gestreiftes, leicht zerknittertes Musselinkleid. Der braune Kaschmirschal, den sie sich um die Schultern gelegt hatte, war schon recht aufgeweicht und hatte bald die Konsistenz eines nassen Putzlappens angenommen. Sidonie, die nicht viel größer war als der zwölfjährige Rudi, hatte den Jungen untergehakt und versuchte mit dem zierlichen, geblümten Schirm vergeblich, die Regengüsse abzuhalten. Rudis zuvor von Tante Tilla so sorgfältig gestrählter Haarschopf war durchnässt und so zerzaust wie ehedem. Nachdem sie in die Katharinenpforte eingebogen waren, erreichten sie endlich die Hauptwache. Sidonie glättete noch einmal Rudis widerspenstiges Haar, spannte den Regenschirm zusammen und öffnete entschlossen das Portal.
»Guten Morgen, wir hätten gerne den mit dem Fall Gerlinde Dietz betrauten Inspektor gesprochen«, erklärte Sidonie dem in der Wachstube sitzenden Gendarm.
»Der Herr Oberinspektor ist noch nicht da. Der kommt meistens erst gegen neun«, antwortete der Beamte.
»Gut, dann warten wir so lange«, erwiderte das Fräulein entschieden.
Der Wachmann wies mit einer knappen Geste auf eine lange Holzbank an der Stubenseite. Das ungleiche Paar nahm Platz und wartete schweigend auf die Ankunft des Beamten. Nach gut einer Stunde traf Oberinspektor Brand ein. Als ihm der diensthabende Gendarm erklärte, er werde erwartet, und dabei auf Sidonie und den Jungen deutete, verzog Brand, der die Besucher flüchtig taxiert hatte, ungehalten das Gesicht und bedeutete ihnen, sie sollten sich noch ein wenig gedulden, er werde sie zu gegebener Zeit rufen lassen.
Die Rathausuhr auf dem Römerberg schlug gerade zur zehnten Stunde, als Brand die Wartenden endlich in sein Büro bat. Die kleine Amtsstube war voller Rauchschwaden, und auf dem Schreibtisch lagen noch die Überreste einer Brotzeit. Sidonie, die daraus schloss, dass der Inspektor gefrühstückt und geruhsam sein Pfeifchen geschmaucht hatte, hüstelte demonstrativ und warf Brand einen indignierten Blick zu, doch dieser machte keinerlei Anstalten, das Fenster zu öffnen, um zu lüften.
»Was liegt an?«, erkundigte er sich stattdessen in schroffem Tonfall.
»Wir sind gekommen, um in dem Fall Gerlinde Dietz eine Zeugenaussage zu Protokoll zu geben«, entgegnete das Fräulein förmlich.
Nachdem Brand Sidonie und Rudi noch einmal mit abschätziger Miene in Augenschein genommen hatte, bemerkte er barsch, er wolle nur darauf hinweisen, dass in dem Fall Dietz keine Belohnung ausgesetzt sei.
»Davon sind wir auch nicht ausgegangen«, beschied ihn Sidonie kühl. »Uns geht es, wie der Polizeibehörde hoffentlich auch, einzig um die Wahrheitsfindung. Der Junge kann möglicherweise eine Täterbeschreibung abgeben.«
Der Inspektor beorderte den diensthabenden Beamten mit Papier und Feder zu sich ins Büro und wies Sidonie und Rudi an, auf den beiden Holzstühlen vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.
Nachdem die Personalien aufgenommen und Rudi vom Inspektor aufgefordert worden war, seine Aussage zu machen, begann der Junge, dem die Situation offensichtlich wenig behagte, mit seinem Bericht: »Also, ein paar Tage, bevor man das tote Dienstmädchen in der Kutsche gefunden hat, hat mich auf dem Roßmarkt so ein Mann angesprochen. Der war ganz vornehm angezogen und hat einen Zylinder aufgehabt …«
»Moment, Moment. Wir brauchen das genaue Datum und die Uhrzeit. Wenn du uns das nicht zu sagen vermagst, kannst du dir das Ganze auch schenken«, unterbrach ihn Brand gereizt.
»Des muss der Montag gewesen sein, der Montag vor dem Samstag, wo des passiert ist«, murmelte Rudi unsicher.
»›Der Montag vor dem Samstag‹«, äffte Brand den Jungen nach. »Was soll denn das heißen? Damit können wir hier gar nichts anfangen. Nenne mir Ross und Reiter, oder geh wieder! Wir sind doch hier nicht in der Dummenschul!«, herrschte er Rudi an.