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»Das war am Montag, den 20. August 1836, gegen zwölf Uhr mittags. Bitte mäßigen Sie Ihren Ton, sonst werde ich mich bei Ihrem Vorgesetzten, Polizeisenator Hessenberg, mit dem ich gut bekannt bin, in aller Form über Sie beschweren!«, maßregelte ihn das Fräulein scharf wie einen ungezogenen Schuljungen.
»Mit Verlaub, Fräulein Weiß, sind Sie die Zeugin, oder ist es der Junge?«
»Der Junge ist der Zeuge, wie wir es am Anfang auch angegeben haben. Aber Sie lassen ihn ja gar nicht zu Wort kommen, sondern machen ihn mit Ihrer aufbrausenden Art ganz konfus.«
»Also gut. Kleinhans, schreiben Sie bitte mit: Am Montag, den 20. August, um zwölf Uhr mittags, sprach den oben aufgeführten Zeugen, Rudolf Schickel, auf dem Platze des Roßmarktes ein Mann an. Punkt. Fahre er nun fort«, forderte Brand den Jungen auf.
»Also, der Mann hat mich gefragt, ob ich mir vielleicht ein paar Kreuzer verdienen will. Da hab ich dann ja gesagt, denn ich kann das Geld gut gebrauchen.«
»Das denk ich mir, mein lieber Schickel, das denk ich mir«, mokierte sich der Inspektor. »So, und jetzt bitte eine genaue Personenbeschreibung!«
Rudi konzentrierte sich kurz, bevor er, sichtlich um Genauigkeit bemüht, antwortete: »Der Mann war groß und schlank und hat einen schwarzen Zylinder und einen schwarzen Gehrock angehabt, mit dunkelgrauen, langen Hosen. Er hat wie ein vornehmer Herr ausgesehen und auch so gesprochen. Nur dem seine Stimm hat sich so komisch angehört. Die war ganz hell, fast wie bei einer Frau. Er hat einen dunklen Backenbart gehabt und war ziemlich blass. Seine Augen hab ich nicht richtig sehen können, denn er hatte eine Brille mit so dunklen Gläsern auf. Seine Haarfarbe auch nicht, denn der hat ja auch einen Hut aufgehabt. Der Mann war vielleicht so alt wie mein großer Bruder, der ist im Juli 20 geworden. Sonst ist mir noch aufgefallen, dass er sehr unruhig war und sich die ganze Zeit umgeguckt hat, und wie er mir dann das Geld gegeben hat, hat er ganz schön gezittert. Also, er hat gesagt, dass ich da rübergehen soll, zur Blumen-Nelly, und der sagen soll, dass er ein Dienstmädchen haben will. Die darf aber nicht älter als 20 sein, soll dunkle Haare und braune Augen haben und darf nicht ›verlebt‹ oder ›billig‹ aussehen, sondern ›frisch‹ und ›adrett‹, so hat er sich, glaub ich, ausgedrückt. Die Nelly soll mir dann sagen, ob sie so jemanden kennt, und dann mit der Mamsell ein Treffen ausmachen. Er käm dann morgen um die gleiche Zeit wieder zum Roßmarkt, und ich sollte das dann mit der Nelly ausmachen. Also bin ich am nächsten Tag wieder hin und hab ihn auch getroffen. Dann bin ich gleich zur Nelly an den Blumenstand. Die hat mir dann gesagt, sie hätt mit einer Dienstmagd, die genauso wär, wie der Herr es will, gesprochen, und die hätt am kommenden Samstag ihren freien Nachmittag, der Herr müsst nur noch eine Uhrzeit vorschlagen und sagen, wo sie hinkommen soll. Und wenn alles klappt, müsst er ihr für ihre Vermittlung 20 Kreuzer bezahlen. Der Mamsell müsst er dann noch mal 50 Kreuzer geben. Der Mann hat einen Augenblick überlegt und dann als Treffpunkt den Weingarten vom Herrn Adam auf dem Klapperfeld vorgeschlagen. Er wär um vier Uhr dort. Die Jungfer sollt sich separat an einen Tisch setzen und als Erkennungszeichen ein Veilchenbukett am Hut tragen, er würd sie dann ansprechen. Dann hat er mir das Geld für die Nelly gegeben und noch mal fünf Kreuzer für mich und ist dann verschwunden.« Rudi schaute den Inspektor abwartend an. Als dieser keine Reaktion zeigte, fügte er hinzu, er habe sich halt so seine Gedanken gemacht, wo doch das ermordete Dienstmädchen genau an diesem Samstag tot in der Kutsche aufgefunden worden sei und weil das mit der Uhrzeit ja auch hinkommen könne.
Der Inspektor fragte Rudi, ob dies alles sei, und erklärte in amtlichem Tonfall, ohne ein einziges höfliches Wort an den Zeugen und seine Begleiterin zu richten, die Befragung für beendet.
Als sich Sidonie daraufhin erkundigte, was er denn nun weiterhin in dem Fall zu tun gedenke, wurde sie vom Inspektor dahingehend beschieden, dass er die Angelegenheit prüfen werde. Das allerdings, so äußerte er süffisant, möge sie nur seine Sorge sein lassen.
5
Um elf Uhr trank Johann Konrad Friedrich genüsslich seinen ersten ›Frankfurter‹5 und zündete eine Zigarre an, um sich in Ruhe der morgendlichen Zeitungslektüre widmen zu können, was für ihn einem heiligen Ritual gleichkam. Die Herren an den übrigen Tischen im separaten Raucherzimmer des großen Kaffeehauses in der Bleidenstraße taten es ihm gleich, und so war der Raum erfüllt von dichten Rauchschwaden, denn im Gegensatz zu öffentlichen Orten war es den Gästen hier erlaubt, dem Tabakgenuss zu frönen. Einige Kaffeehausbesucher spielten Schach, andere debattierten, lasen Journale oder schrieben. In der Hauptsache waren hier Angehörige der besseren Gesellschaft vertreten. Nicht wenige der Anwesenden brachten in dem altehrwürdigen Kaffeehaus, das ein wenig versteckt hinter der Katharinenkirche lag, den ganzen Tag zu. Für Künstler, Schriftsteller und Gelehrte war es ein Ort schöpferischer Muße, der ihnen Gelegenheit zu Rückzug und Austausch bot. Das Interieur der weitläufigen Räumlichkeiten war von großer Eleganz und Behaglichkeit und erfüllte so die gehobenen Ansprüche seiner Besucher. Der Kaffee, in vielerlei Varianten angeboten, sowie das Gebäck und die Speisen waren von feinster Qualität. Zudem war das Kaffeehaus eine wahre Nachrichtenbörse. Hier erfuhr man alle Neuigkeiten aus Frankfurt und der großen, weiten Welt. Menschen der verschiedensten Nationalitäten gaben sich hier ein Stelldichein, und man vernahm neben der muttersprachlichen auch englische, französische und italienische Konversation. Das spiegelte sich auch in den Zeitungen und Zeitschriften wider, die den Gästen zur Verfügung standen. Nicht nur die gängigen Frankfurter Tageszeitungen wie das Frankfurter Intelligenzblatt, das Frankfurter Journal, die Frankfurter Kaiserliche Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung, das Frankfurter Konversationsblatt, die Didaskalia und das Journal de Francfort lagen hier aus, sondern auch eine reiche Auswahl der internationalen Presse war vertreten.
Für Johann Konrad Friedrich war das große Kaffeehaus in der Innenstadt seit nunmehr fünf Jahren zu einem zweiten Zuhause geworden. Der in die Jahre gekommene Lebemann, der bereits viel herumgekommen war in der Welt, arbeitete hier an seinen Memoiren.
Als Sohn einer wohlhabenden Frankfurter Kaufmannsfamilie trat er im Alter von 14 Jahren in den französischen Militärdienst ein und führte in Frankreich, Italien, Spanien und auf der griechischen Insel Korfu ein abenteuerliches Leben. Im Anschluss daran wechselte er zum Preußischen Heer, wo er den Rang eines Leutnants innehatte. Neben seiner Muttersprache sprach er fließend Französisch, Italienisch, Griechisch und Englisch. Schon immer hegte er eine große Vorliebe für die Literatur, insbesondere für Theaterstücke, und liebte es, zeitgenössische ausländische Klassiker ins Deutsche zu übersetzen, womit er sich ein Zubrot verdiente. Außerdem spielte Johann ausgezeichnet Klavier. Zu seinen auserkorenen Lieblingsstücken gehörte Mozarts ›Don Giovanni‹, gab er den Don Juan doch selbst oft genug im wahren Leben. In jungen Jahren ein wahrer Herzensbrecher, haftete ihm der Ruf des charmanten Verführers noch heute an, was ihm auch den Spitznamen ›Don Johann‹ eingetragen hatte. Schwarzlockig, mit dunklen, glutvollen Augen und eher klein gewachsen, konnte man ihn leicht für einen Italiener oder Südländer halten. Nicht wirklich schön, verfügte er doch über das gewisse Etwas, und bei seinen Verehrerinnen galt er als hervorragender Liebhaber. Im Alter von 30 Jahren nahm er Abschied vom Militär und kehrte in seine Heimatstadt Frankfurt zurück, wo er die Damenwelt im Klavierspiel unterrichtete und zahlreiche Affären mit Damen der guten Gesellschaft unterhielt. Oft war er verliebt gewesen, jedoch immer unverheiratet geblieben, und inzwischen war es um den einstigen Frauenliebling stiller geworden. ›Don Johann‹ lebte allein in der elterlichen Villa in Rödelheim und war recht einsam. Hätte er sein geliebtes Kaffeehaus nicht gehabt, wäre ihm zu Hause mitunter die Decke auf den Kopf gefallen. Seit Jahren hatte er keine Amouren mehr und sie fehlten ihm auch nicht. Nicht länger auf der Suche nach dem Abenteuer, das er so reichhaltig ausgekostet hatte, vermisste Johann auf seine alten Tage eher eine verlässliche Gefährtin.
Doch so eine fällt ja nicht einfach vom Himmel!
Während Johann sich noch konzentrierter seiner Lektüre widmete, wurde ihm plötzlich von hinten auf die Schulter getippt. Er schreckte auf und wendete den Kopf ungehalten in Richtung des Störenfrieds, wollte gar schon seinen Unmut kundtun, als er Sidonie Weiß erblickte. Nicht nur ihre äußere Erscheinung wirkte derangiert, auch ihre Stimmung schien alles andere als aufgeräumt zu sein, und so hielt Johann, der Sidonie aus Kindertagen kannte, zunächst einmal die Luft an, besann sich auf seine guten Umgangsformen und lud die Freundin und den Knirps, der neben ihr stand, freundlich ein, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Bei dem ob der unüblichen Damenpräsenz durchaus konsterniert dreinschauenden Kaffeehauskellner bestellte er einen Kaffee Mélange für das Fräulein und eine heiße Trinkschokolade für den Jungen und wartete gespannt, den missbilligenden Mienen der anderen Kaffeehausgäste gegenüber gleichgültig, was Sidonie ihm zu berichten hatte. Denn es musste schon etwas Besonderes vorgefallen sein, wenn eine Dame, selbst eine, die es mit den Konventionen nicht so genau nahm wie das Fräulein, in die Männerdomäne des Kaffeehauses eindrang. Und wie es ihre Art war, kam Sidonie auch gleich zur Sache: »Hast du morgen Nachmittag Zeit? Ich muss unbedingt ein bestimmtes Lokal aufsuchen, und da brauche ich eine Begleitung.«
Johann, der seine liebgewordenen Gewohnheiten so zu schätzen gelernt hatte, dass ihm jegliche Störungen derselben verhasst waren, fühlte sich von des Fräuleins Stippvisite zwar einigermaßen überrumpelt, es lag ihm jedoch fern, Sidonie dafür zu schelten, wie er es bei jedem anderen getan hätte. Dazu war sie ihm viel zu lieb, und er konnte ihr eigentlich auch nicht gut etwas abschlagen. Dennoch gab er sich zunächst reserviert. Man springt ja schließlich nicht gleich, wenn der andere pfeift.
»Liebe Sido, hättest du vielleicht die Güte, mir erst einmal auseinanderzusetzen, worum es überhaupt geht?«, erkundigte er sich bedächtig.
»Ganz einfach: Der taugt keinen Schuss Pulver, dieser Kriminalinspektor Brand! Also habe ich mich entschieden, im Falle des ermordeten Dienstmädchens Gerlinde Dietz eigene Ermittlungen anzustellen«, entgegnete Sidonie aufgebracht. Anschließend berichtete sie Johann von Rudis Erlebnis auf dem Roßmarkt, dass sie den Jungen zu einer Zeugenaussage in der Hauptwache gedrängt und wie der Inspektor darauf reagiert hatte.
»Na ja, diese Gerlinde Dietz ist halt nur ein kleines Dienstmädchen gewesen, und dann hat die sich auch noch für Geld mit Herren eingelassen. Wegen so einer legt sich unsere liebe Polizei doch nicht ins Zeug. Ganz abgesehen davon, dass sie das ohnehin nicht gerne tut, denn die Frankfurter Polizeibehörde besteht nun einmal zu einem Großteil aus Schlafmützen, das, meine Liebe, ist hinlänglich bekannt. Mehr als den werten Herren vom Bundestag lieb ist. Man denke dabei nur an den Wachensturm vor drei Jahren, den unsere geschätzten Ordnungshüter ja vollends verschlafen haben. Schließlich hat unser lieber Herr von Metternich, dem die laxe Haltung der hiesigen Gendarmerie aufs Äußerste missfällt, nicht umsonst seine eigene Geheimpolizei eingesetzt, damit niemand in der Stadt es wagt, seine Zensur zu durchbrechen. Und unser Polizeisenator Hessenberg macht allenthalben keinen Hehl daraus, dass er ein Demokrat ist. Kein schlechter Mann übrigens, dieser Hessenberg. Sag mal, willst du dich nicht vielleicht bei ihm über Brand beschweren?«
»Das kann ich später immer noch tun. Einstweilen würde ich vorschlagen, wir zwei gehen morgen in den Adam’schen Weingarten und stellen dort weitere Erkundigungen an. Wenn sich die Dietz da wirklich mit ihrem Mörder getroffen hat, dann haben ihn auch noch andere gesehen. Vielleicht kennt ihn ja sogar jemand oder weiß Genaueres über ihn zu sagen. Außerdem ist morgen Samstag, und da haben viele Dienstmägde ihren freien Tag. Die kennen sich doch häufig untereinander. Ich denke, da können wir vielleicht auch in anderen Lokalen, wo die immer verkehren, etwas in Erfahrung bringen!«, entgegnete das Fräulein und trug Johann auf, für den braven Rudi noch einen Kakao zu bestellen. Als der Kellner das Getränk brachte, orderte sie, mit der Bemerkung, sie genieße es, endlich einmal ein Kaffeehaus von innen zu sehen, für sich noch eine weitere Mélange.
*
Es regnete in Strömen, als Sidonie und Johann an jenem Samstagnachmittag aus der Kutsche stiegen und sich dem Weinlokal des Herrn Adam auf dem Klapperfeld näherten.
»Bei dem Sauwetter ist da bestimmt nicht viel los. Wer geht denn schon bei so einem Wetter aus dem Haus, wenn er nicht muss«, bemerkte Johann verdrießlich, als sie unter dem Regenschirm durch den verwaisten Weingarten zur Gaststube eilten. Er sollte Recht behalten, denn in dem kleinen Lokal befand sich tatsächlich nur eine Handvoll Gäste. Johann und Sidonie blickten sich ein wenig zögerlich um, bevor sie sich an einem der Tische niederließen.
»Suchen die Herrschaften vielleicht jemanden?«, erkundigte sich der Wirt, als er an den Tisch trat, um die Bestellung aufzunehmen.
»Ei, die suchen bestimmt de heiliche Geist!«, tönte von der Theke eine heisere Frauenstimme, was von den übrigen Gästen mit lautem Gelächter quittiert wurde.
»Thekla, halt gefälligst dein Schandmaul, sonst fliegst du raus!«, raunzte der Wirt in Richtung der Ruferin und entschuldigte sich verlegen bei den Neuankömmlingen.
»Nicht der Rede wert. Das stört uns nicht weiter. Ich bin auch bei Weitem nicht so moralinsauer, wie ich ausschaue«, erwiderte Sidonie mit verschmitztem Lächeln. »Aber Spaß beiseite: Sie haben recht, Herr Wirt, wir suchen tatsächlich jemanden.«
»Kann ich Ihnen da behilflich sein?«
»Das können Sie, und möglicherweise auch Ihre Gäste. Sie erinnern sich vielleicht an das Dienstmädchen, das kürzlich tot in einer Kutsche aufgefunden worden ist. Wir haben Grund zu der Annahme, dass die junge Frau sich kurz vor ihrem Tod hier in diesem Lokal mit einem Herrn getroffen hat, der möglicherweise auch ihr Mörder war. Wenn von Ihnen jemand die Jungfer Dietz kannte oder vielleicht dazu etwas sagen kann, so lassen Sie es mich doch bitte wissen«, richtete sich Sidonie höflich an alle Anwesenden.
»Wieso kümmern Sie sich denn darum? Da ist doch eigentlich die Polizei für zuständig. Oder war’n sie mit der vielleicht verwandt?«, erkundigte sich die junge Frau, die zuvor mit schwerer Zunge die vorlaute Bemerkung gemacht hatte, während sie sich erhob und leicht schwankend auf Sidonie und Johann zuging. Mit beiden Händen stützte sie sich auf den Tisch und stierte Sidonie aus glasigen Augen an.
»Ich bin in dich verschossen, in deine Sommersprossen …«, summte sie feixend, worauf sie vom Wirt rüde aufgefordert wurde, die Gäste nicht zu belästigen. Sidonie bat ihn jedoch, er möge die junge Frau ruhig gewähren lassen, und gab unbeirrt zur Antwort: »Ich kümmere mich darum, weil ich den Eindruck habe, dass sich sonst niemand darum kümmert. Und weil alle denken, das war ein schlimmes Frauenzimmer, die Gerlinde Dietz, und da gehört’s ihr nicht anders. Ich denke hingegen, es wird höchste Zeit, dass ihr Mörder endlich gefasst wird.«
»Ich bin auch ein schlimmes Frauenzimmer«, lispelte Thekla bedrohlich schwankend.
»Vor allen Dingen ein betrunkenes. Komm, setz dich, Kind, und iss einen Happen mit uns«, forderte das Fräulein Thekla auf.
»Ich will nix essen. Aber einen Branntwein tät ich noch trinken.«
»So siehst du aus. Nix da, Herr Wirt, bringen Sie bitte für das junge Fräulein eine kräftige Brühe oder was Sie sonst an Essbarem dahaben.«
»Eine Erbsensuppe hätt ich da, Fräulein Weiß.«
»Prima, bringen Sie uns doch bitte drei Portionen. Und woher kennen Sie meinen Namen?«
»Ich habe mehrere Bücher von Ihnen gelesen. ›Das Gespenst vom Römerberg‹, ›Der Fürst vom Rabenstein‹ und ›Der Mord im Siechenhaus‹. Die haben mir so gut gefallen, dass ich sie immer wieder lese. Im Sommer komm ich ja nicht dazu, da habe ich zu viel zu tun. Aber im Herbst und im Winter, wenn es hier ruhiger wird, nehm ich mir die wieder vor«, antwortete Herr Adam lächelnd.
»Das ehrt mich. Es gibt für mich kein schöneres Kompliment, als dass meinen Lesern gefällt, was ich schreibe«, bedankte sich Sidonie erfreut.
»Aber was Ihr Anliegen anbetrifft, Fräulein Weiß, da kann ich Ihnen, glaub ich, nicht viel weiterhelfen. Die Ermordete war mir wissentlich nicht bekannt. Wann soll denn das Treffen gewesen sein?«, fragte Herr Adam.
»Das war am Samstag, den 25. August, gegen vier Uhr nachmittags. An diesem Tag, so erinnere ich mich noch, war sehr schönes Wetter. Das ermordete Dienstmädchen hatte braune Haare und dunkle Augen. War eine junge, zierliche Person und muss sehr hübsch gewesen sein. Der Mann wurde mir nach einer zuverlässigen Zeugenaussage als groß und schlank beschrieben. Er soll vornehm gekleidet gewesen sein, trug wahrscheinlich einen Gehrock mit Zylinder. Er hatte einen dunklen Backenbart und möglicherweise eine Brille mit dunklen Gläsern auf.«
»Vor 14 Tagen also. Ja, an dem Samstag herrschte eine ganz schöne Hitze, und wir hatten hier großen Betrieb. Es wurde zum Tanz aufgespielt, und die Leute haben sich, im Gegensatz zu heute, regelrecht auf die Füße getreten. Da kann ich mich kaum an einzelne Gäste erinnern. Man ist den ganzen Tag nur am Rumrennen. So ein Paar, wie Sie es eben beschrieben haben, ist mir da nicht weiter aufgefallen. Der Mann muss ja von seiner Kleidung her ein besserer Herr gewesen sein. Von der Sorte kommen viele hierher im Sommer, wenn was los ist. Die wollen sich hier genauso amüsieren wie alle anderen und sind meistens auf ein schnelles Abenteuer aus. Tut mir leid, aber da kann ich Ihnen leider überhaupt nichts sagen.« Der Wirt schüttelte bedauernd den Kopf.
»Aber ich«, meldete sich Thekla zu Wort.
»Was mischst du dich denn da ein, du Suffeule! Du hängst zwar den lieben langen Tag hier rum, und wenn du nicht gerade einen abschleppst, der dir deine Sauferei finanziert, bist du doch die meiste Zeit viel zu besoffen, um was mitzukriegen!«, blaffte der Wirt die junge Frau an.
»Hör bloß auf, mich so runterzuputzen, Georg. Wenn du so Leute wie uns nicht hättest, dann könntest du deine Kaschemme doch dichtmachen«, entrüstete sich Thekla, der die Tränen in die Augen stiegen.
»Ja, und wenn ihr alle endlich eure Deckel bezahlen würdet, wäre ich ein gemachter Mann!«, raunzte Herr Adam zurück.
»Bitte, Kind, sag doch, was du sagen wolltest«, wandte sich Sidonie an Thekla.«Wir sind dankbar für jeden Hinweis.« Die Betrunkene konnte nun nicht mehr länger an sich halten und fing bitterlich zu weinen an. Nachdem sie sich mit dem Ärmel über Augen und Nase gewischt hatte, fasste sie sich wieder und schien auch nüchterner geworden zu sein.
»Für Leute wie mich ist es nicht selbstverständlich, wie ein Mensch behandelt zu werden. Sie machen das, und deswegen will ich Ihnen was verraten«, murmelte Thekla leise und rückte näher an das Fräulein heran. Als Sidonie ihren Branntweinatem roch, mochte sie sich unwillkürlich abwenden, stattdessen jedoch legte sie den Arm um Theklas hagere Schultern und forderte das Mädchen auf, zu reden.
»Also, ich kenn da jemand. Die heißt Irmgard. Irmgard Stocklossa«, berichtete Thekla sichtlich um eine deutliche Aussprache bemüht. »Wir waren zusammen im Fürsorgeheim in der Bleichstraße, und wir gehen dem gleichen … Gewerbe nach, Sie wissen schon, was ich meine. Also, die Irmgard, die hat mir letztens erzählt, dass sie die gekannt hat. Die, wo da umgebracht worden ist. Und ich mein, die hätt auch gesagt, dass sie die vorher noch hier gesehen hat. Sie wollt halt net gleich uff die Hauptwach rennen und es Maul aufreißen. Am besten wird’s sein, Sie schwätzen mal mit der. Sie können der auch ruhig sagen, dass Sie das von mir wissen. Vielleicht haben Sie Glück und treffen sie in der Breiten Gass, beim ›Süße Weck‹6. Da geht die nämlich öfter hin.«
»Was erzählst du dann für einen Blödsinn, Thekla«, unterbrach sie Herr Adam, der die ganze Zeit über die Ohren gespitzt hatte, gereizt. »Beim ›Weck‹, da verkehren doch hauptsächlich die warmen Brüder. Das weiß doch jeder! Du willst doch die Herrschaften nicht veräppeln, oder?«
»Ach, Georg, du hast doch keine Ahnung!«, fuhr ihm Thekla übers Maul. »Weibsleut gehen da auch hin. Die halt vor Freiern mal ein bisschen Ruhe haben wollen, und das soll ja vorkommen! Bring mir lieber noch ein Schnaps, und halt dich gefälligst da raus!«
Kurz darauf servierte Herr Adam seinen Gästen eine wohlschmeckende Erbsensuppe mit Speck. Dennoch war Johann der Einzige am Tisch, der seinen Teller leer aß. Das Fräulein, zu angespannt, um die Mahlzeit zu genießen, ließ mehr als die Hälfte übrig. Und Thekla, der, obgleich sie seit Tagen kaum etwas gegessen hatte, der Sinn eher nach Branntwein stand als nach fester Nahrung, rührte lustlos in ihrem Teller herum und rang sich schließlich dazu durch, ganze drei Löffel Suppe zu sich zu nehmen. Im Gespräch mit dem Mädchen erfuhr das Fräulein, dass Thekla gerade einmal 16 Jahre alt war und bereits seit drei Jahren anschaffen ging. Den größten Teil ihres Verdienstes setzte sie in Branntwein um. Sidonie hatte den Eindruck, dass Thekla trotz ihrer Jugend mit dem Leben bereits abgeschlossen hatte, was die Dichterin sehr traurig stimmte. Nachdem Johann die Rechnung beglichen hatte, bedankte sich Sidonie höflich bei Herrn Adam und bei Thekla für ihr Entgegenkommen. Bevor sie aufbrachen, streichelte sie dem jungen Mädchen über die Wange und flüsterte ihr zu: »Wenn dir mal der Sinn nach einem Glas Milch steht, Mädchen, dann komm vorbei. Ich wohne in der Töngesgasse Nummer 15. Es würde mich sehr freuen.«
*
Als Sidonie und Johann in die Kutsche stiegen und Johann dem Kutscher als Ziel die übel beleumundete Wirtschaft in der Breiten Gasse angegeben hatte, zog er ein missmutiges Gesicht. Sidonie, die das bemerkte, erkundigte sich bei ihrem alten Jugendfreund, was ihm nicht behagte.
»Ach, Sido, du weißt genau, dass ich dir gerne jede Gefälligkeit erweise. Aber dass wir uns jetzt auch noch in den Schlupfwinkeln der Invertierten herumtreiben müssen, will mir gar nicht gefallen«, brummelte der Lebemann unwirsch.
»Lieber Johann, jetzt beruhige dich doch bitte. Meinst du, die Herren in diesem Etablissement warten nur darauf, dass der berühmt-berüchtigte ›Don Johann‹ seinen Fuß über die Schwelle setzt, um sogleich über ihn herzufallen und ihn ans andere Ufer zu zerren?«, konterte Sidonie spöttisch. »Mir ist durchaus bekannt, was man sich über Homosexuelle so erzählt. Es wird gerne behauptet, dass sie Schmuck und glitzerndes Geschmeide, Puder und Parfüm lieben, mit den Hüften wackeln wie eine Frau und ebenso eitel sind. Angeblich neigen sie zu Geschwätzigkeit, Klatschsucht, Wankelmut und Doppelzüngigkeit und sind von niederträchtiger Wesensart. Früher habe ich diese Vorstellungen mehr oder weniger geteilt. Wenn ich Invertierte auch nicht direkt als sündige Frevler verurteilen mochte, so war ich doch der Meinung, dass es sich bei ihnen um abartige, kranke Menschen handelt, womöglich auch erblich belastet, denen geholfen werden muss. Inzwischen bin ich aber skeptisch, ob das alles so zutrifft.«
»Nun ja, meine Liebe, ich denke schon, dass da etwas Wahres dran ist«, entgegnete Johann ausweichend. »Erst kürzlich hatte ich die Gelegenheit, in einem seriösen, wissenschaftlichen Journal den Aufsatz eines namhaften Anthropologen zu lesen, der sich mit dieser ›Spezies‹ beschäftigte. In dem Artikel wurden die typischen körperlichen Merkmale von Invertierten beschrieben. Demnach erkennt man sie bereits an der eigentümlichen Beschaffenheit des Gesäßes. Sie neigen dazu, aufgeworfene, wulstige Lippen zu haben und helle Stimmen …«
»Ja, und am liebsten tragen sie Frauenkleider und treffen sich zum Damenkränzchen. Da habe ich allerdings ganz andere Erfahrungen gemacht. Ein Schriftstellerkollege, dessen Namen ich hier nicht nennen möchte, hat mich kürzlich zum Tee eingeladen. Er ist ein guter Freund des Dichters Lord Byron, der aus seiner Veranlagung bekanntlich keinen Hehl macht. Auch über meinen jungen Kollegen wird gemunkelt, dass er einen Hang zum eigenen Geschlecht hegt, was er mir gegenüber auch einmal ein wenig verstohlen andeutete. Jedenfalls traf ich in seinem Hause andere, ähnlich veranlagte Herren, und ich kann von ihnen wirklich nur das Allerbeste berichten. Sie alle waren in höchstem Maße kultiviert und gebildet und mir gegenüber von einer Zuvorkommenheit, wie ich sie selten erlebt habe. Keineswegs aber wirkten sie auf mich krank oder gar monströs, und ich frage mich, warum man einen solchen Abscheu vor ihnen hat. Ich denke, mein lieber Johann, deine Abneigung vor diesen Menschen liegt zu einem guten Teil auch in der Furcht begründet, von ihnen begehrt und umworben zu werden. Nur, dass in diesem Falle der Spieß einmal umgedreht ist und es dir ebenso ergehen könnte wie den armen Weibsbildern.«