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»Also, das muss ich mir nicht sagen lassen! Eine jede Frau, die mit mir eine Affäre eingegangen ist, tat dies aus freien Stücken. Und ich darf behaupten, die meisten haben sich sehr wohl dabei gefühlt«, entrüstete sich Johann.
»Das bezweifle ich auch nicht, mein Guter! Aber warum soll das bei Homosexuellen denn anders sein? Auf, lass uns jetzt da reingehen. Du brauchst dich auch nicht zu fürchten, ich bin ja bei dir«, beschwichtigte Sidonie ihren Freund belustigt und drängte ihn aus der Kutsche, als sie vor dem ›Süßen Weck‹ angekommen waren.
Es war halb sechs, und die Dämmerung hatte an diesem verregneten Abend früher eingesetzt. In der abgelegenen Gegend war kaum jemand unterwegs. Lediglich ein paar junge Männer hielten sich am Rande der Gärten auf. Als sie Sidonie und Johann wahrnahmen, huschten sie verschreckt hinter die Büsche.
»Das sind bestimmt auch welche von denen«, bemerkte Johann abfällig und schloss den obersten Knopf seines Gehrocks. »Und daran, dass sie sich so davonstehlen, wenn jemand kommt, siehst du, dass sie alles andere als ein reines Gewissen haben.«
»Was heißt denn hier ›reines Gewissen‹? Die Leute haben Angst! Hast du nicht letzte Woche in der Zeitung gelesen, dass man einen jungen Mann, der in den Wallanlagen immer auf Kundenfang gegangen ist, halb tot geprügelt hat?«
»Ja, das hab ich«, entgegnete Johann kleinlaut. »Aber trotzdem halte ich es für eine Schnapsidee, hierherzukommen. Im wortwörtlichen Sinne. Da wollte sich dieses betrunkene Gör doch nur einen Schabernack mit uns machen. Ein Freudenmädchen unter lauter Päderasten! Die wird sich vor Kundschaft kaum retten können.«
»Also, jetzt reicht es mir aber bald mit dir. Wenn du nur am Nörgeln bist, dann steig in deine Kutsche und fahr heim.«
»Und lasse dich allein, hier draußen bei diesen Perversen. Nichts da, ich erfülle meine Pflicht als Kavalier und bleibe bei dir. Wie ich dich kenne, bist du doch sowieso durch nichts zu bewegen, dein Vorhaben aufzugeben.« Resigniert bot er Sidonie den Arm und schritt mit ihr die Stufen zur Eingangstür hinauf.
»Richtig, mein Lieber! Und du solltest dich vielleicht fürs Erste von deinen Vorurteilen verabschieden und die Dinge einfach auf dich zukommen lassen. Schließlich bist du kein verknöcherter Philister. Wo also bleibt deine liberale, weltmännische Gesinnung?«
»Diesbezüglich, meine Liebe, lasse ich dir momentan gerne den Vortritt. Bitte nach Ihnen, die Dame!«, flötete ›Don Johann‹ schlitzohrig und öffnete seiner gestrengen Begleiterin galant die Tür.
Als Sidonie und Johann den Gastraum betraten, wurden sie von den anwesenden Gästen mit verhaltenem Argwohn beäugt. Im Gegensatz zum Weinlokal auf dem Klapperfeld herrschte hier reger Betrieb. An sämtlichen Tischen des engen, verräucherten Schankraumes saßen Leute. Einige Gäste drängten sich um die langgezogene Theke. Das Publikum bestand zum überwiegenden Teil aus Männern unterschiedlichen Alters. Aber auch ein paar Frauen waren anwesend.
Beherzt näherte sich das Fräulein einem Tisch, an dem noch freie Stühle waren, und fragte höflich, ob sie und Johann Platz nehmen dürften. Die beiden Herren stimmten zu und rückten ein wenig zur Seite. Ihr Gespräch verstummte auf der Stelle, und sie senkten betreten den Blick.
»Bitte entschuldigen Sie die Störung, meine Herren! Wir sind auf der Suche nach einer Dame namens Irmgard Stocklossa. Uns wurde gesagt, dass sie möglicherweise hier ist und vielleicht können Sie uns weiterhelfen?«, wendete sich Sidonie, um das beklommene Schweigen aufzulockern und eventuelle Missverständnisse zu zerstreuen, an ihre Tischnachbarn.
»Ach, die Irmgard suchen Sie. Die ist gerade vorhin gekommen. Ich glaube, die steht da vorne an der Theke«, antwortete einer der Herren zuvorkommend und wirkte mit einem Mal merklich entspannter.
»Herzlichen Dank und noch einen angenehmen Abend.« Sidonie erhob sich und eilte mit Johann im Schlepptau zielstrebig in Richtung Tresen. Die Betreiber der Wirtschaft, die Gebrüder Weck, beleibte, glatzköpfige Zwillinge von etwa 40 Jahren, musterten die Neuankömmlinge argwöhnisch und erkundigten sich nach ihren Wünschen.
»Zwei Gläser Portwein und, wenn möglich, auch eine Zigarre«, bestellte Johann, der zunehmend wieder an Selbstbewusstsein gewann. »Außerdem suchen wir eine Dame namens Irmgard Stocklossa. Die soll hier am Tresen stehen, wurde uns gesagt.«
»Irmgard, dein Typ wird verlangt, komm doch mal her!«, rief einer der Brüder zur linken Thekenecke hin. Gleich darauf näherte sich eine junge Dame und blickte den Wirt, der auf Sidonie und Johann deutete, fragend an.
»Die Herrschaften hier haben nach dir gefragt«, erklärte er ihr knapp.
»Sie sind Frau Irmgard Stocklossa?«, richtete Sidonie das Wort an die verwunderte Frau. »Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber wir hätten ein paar Fragen an Sie. Eine Bekannte von Ihnen, ein Fräulein Thekla, die wir soeben im Weinlokal Adam auf dem Klapperfeld kennengelernt haben, war so freundlich, uns zu sagen, dass wir Sie möglicherweise hier antreffen würden. Mein Name ist Sidonie Weiß, und das ist Herr Johann Konrad Friedrich. Hätten Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, dann erkläre ich Ihnen gerne, worum es geht.«
»Viel Zeit habe ich nicht, in einer Stunde muss ich mich auf den Weg machen. Was wollen Sie denn von mir?«, fragte Irmgard beklommen.
Sie war schlank und wohlproportioniert und insgesamt von großer Anmut. Das glänzende, rotblonde Haar war zu einem schlichten Knoten zusammengesteckt, und die feinen Gesichtszüge und der volle rote Mund waren von natürlicher Schönheit. Ihre Kleidung war dezent und geschmackvoll. Sidonie war erstaunt über Irmgards Erscheinung. Es schien so gar nicht zu ihr zu passen, dass sie als Prostituierte arbeitete. Auf das Fräulein wirkte sie eher wie das makellose Ebenbild einer vielversprechenden höheren Tochter. Sidonie teilte ihr mit, dass ihr die Aufklärung des Mordfalls Gerlinde Dietz besonders am Herzen liege und dass Irmgard ihr möglicherweise behilflich sein könne. Als Irmgard Sidonies Worte hörte, zuckte sie leicht zusammen und machte ein betroffenes Gesicht.
»Gehen wir da hinten in die Ecke, da haben wir noch am ehesten Ruhe«, erwiderte sie und begab sich, gefolgt von Sidonie und Johann, an das Ende des Tresens. Lediglich ein junger Mann hielt sich dort auf, den Irmgard Sidonie und Johann als einen lieben Freund vorstellte. Als Sidonie der schönen Frau gleich darauf auseinandersetzte, dass es sich bei dem Herrn, mit dem Gerlinde noch kurz vor ihrem Tod im Weingarten auf dem Klapperfeld verabredet war, möglicherweise um ihren Mörder handelte, war Irmgard sehr bemüht, eine genaue Personenbeschreibung von Gerlindes Begleiter abzugeben, die sich im Wesentlichen mit Rudis Aussagen deckte.
»Mehr kann ich leider nicht sagen. Ich weiß auch nicht, ob ich den Mann vorher schon einmal gesehen habe. Bekannt kam er mir jedenfalls nicht vor. Ein großer, schlanker Herr mit Gehrock und Zylinder … aber so sehen doch viele aus, besonders Herren der besseren Gesellschaft«, äußerte Irmgard nachdenklich und blickte auf ihren Begleiter, auf den die Beschreibung gleichermaßen zutraf. »Es ist schade um die Gerlinde, glauben Sie mir, und ich hätte Ihnen gerne mehr geholfen. Ich finde es auch gut, dass Sie sich um die Aufklärung des Falles kümmern, denn die Polizei scheint sich nicht sehr dafür zu interessieren. So ist das halt, wenn einer von uns so etwas widerfährt. Letztendlich denken doch alle, das geschieht ihr recht. Am meisten tut es mir um Gerlindes Buben leid. Die armen Würmchen stehen jetzt ganz allein da und sind ins Waisenhaus gekommen. Wenn Gerlinde das wüsste, würde sie sich im Grab rumdrehen. Wo sie ihre Kinder doch so geliebt hat! Sie waren ihr ein und alles, und ich bin mir sicher, sie war eine gute Mutter, und sie hat sie auch nicht abgeschoben, wie es in der Zeitung stand. Das musste sie wegen ihrer Stellung machen, denn welche Herrschaft lässt es schon zu, dass eine Dienstmagd ihre Kinder mitbringt. Das kümmert die doch nicht. Die ganze Plackerei, und das alles für die paar Kröten, die hinten und vorne nicht reichen, erst recht, wenn man daheim noch welche durchzufüttern hat. Und das haben die meisten. Kein Wunder, dass so viele von uns noch nebenbei was dazuverdienen müssen. Und die Gerlinde, das weiß ich, hat das alles nur für ihre Buben getan.« Irmgard hielt inne und wischte sich über die Augen. Der junge Mann an ihrer Seite nahm sie in den Arm und versuchte sie zu trösten, was zur Folge hatte, dass bei Irmgard alle Dämme brachen und sie sich bebend an seiner Schulter ausweinte. Dazwischen murmelte sie immer wieder: »Ich liebe dich, ich liebe dich so sehr!«
Johann und das Fräulein waren betroffen und wussten angesichts von Irmgards Gefühlsausbrüchen nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten. Johann räusperte sich betreten. »Können wir Ihnen vielleicht auf irgendeine Art und Weise helfen, junge Dame? Soll ich Ihnen einen Kognak bestellen?«, erkundigte er sich ritterlich.
»Ich denke, wir sollten die Herrschaften jetzt am besten allein lassen und nicht länger belästigen«, beschied Sidonie und machte Anstalten, sich zu erheben.
»Nein, nein, bleiben Sie nur! Sie stören nicht«, hielt Irmgard sie zurück, putzte sich die Nase und wirkte wieder gefasster. In der Ecke war ein Tisch frei geworden, und sie schlug vor, sich dort niederzulassen. Johann bestellte noch eine Runde Portwein, und die Stimmung entspannte sich. Nach und nach stellte sich heraus, dass Irmgard und ihr Begleiter seit vielen Jahren ein Paar waren, das in platonischer Liebe verbunden war. Obgleich Sidonie ihr fremd war, hatte die junge Frau Zutrauen zu ihr gefasst und schüttete dem Fräulein das Herz aus, ein Phänomen, das Sidonie schon häufiger erlebt hatte. Gerade auf die Unglücklichen und Gestrauchelten schien die Dichterin eine eigentümliche Anziehungskraft auszuüben. Selbst Menschen, die das Leben bitter und verschlossen gemacht hatte, öffneten sich ihr zuweilen.
So erfuhr das Fräulein, dass Irmgards Begleiter der Sohn ihrer Herrschaft war. Nachdem es für seine Familie außer Frage stand, dass mit ihm etwas nicht stimmte, zogen die besorgten Eltern einen namhaften Nervenarzt zurate, der ihren Sprössling mit verschiedenen Therapien zu kurieren suchte. Zunächst gelangte die Hypnose zur Anwendung, dann musste Alfred seltsame gymnastische Übungen vollführen, sich in freier Natur betätigen, kalte Wassergüsse vornehmen lassen, doch es half alles nichts gegen seine krankhafte Veranlagung, die darin bestand, dass er dem weiblichen Geschlecht einfach nicht zugetan war. Um ihn von seiner Verirrung abzubringen, brachte ihn sein Vater schließlich mit Irmgard zusammen, mit der er selbst eine heimliche Affäre unterhielt. Dabei kamen sich die beiden jungen Leute wenn auch nicht körperlich, so doch menschlich sehr nahe und vertrauten sich einander an. Alfred gestand Irmgard seine homosexuelle Veranlagung, und Irmgard beichtete Alfred, dass sie sich seit ihrer frühen Jugend für Geld hingab, obgleich es sie unsagbar grauste vor dem männlichen Geschlecht. Trotz aller Standesschranken standen sie sich gegenseitig bei, so weit es die Verhältnisse erlaubten, und im Laufe der Zeit entstand daraus eine tiefe Freundschaft, eine Art Symbiose, die beide als eine besondere Form der Liebe empfanden.
»Doch jetzt hat er jemanden kennengelernt und sich verliebt, und seitdem gelte ich nichts mehr«, bemerkte Irmgard traurig und hatte erneut mit den Tränen zu kämpfen.
»Das stimmt doch gar nicht! Du bist mir immer noch eine liebe Freundin, und daran wird sich auch nichts ändern«, warf Alfred mit kummervoller Miene ein und versuchte Irmgards Hand zu streicheln, die sie ihm unwirsch entzog. Plötzlich tauchte aus der Menge ein junger Mann auf und blieb vor dem Tisch stehen. Er war groß und muskulös und trug die einfache Kleidung eines Arbeiters. Alfred bat ihn, sich zu ihnen zu setzen, und stellte ihn den Anwesenden als einen guten Bekannten vor.
Irmgard konnte nun gar nicht mehr an sich halten. Bebend vor Wut sprang sie auf und stürzte nach draußen. Sidonie und Johann verabschiedeten sich hastig von den beiden jungen Männern und eilten ihr nach. Unweit der Eingangstür stand Irmgard laut schluchzend im Regen. Sidonie und Johann hakten sie unter und nahmen sie mit in die Kutsche.
Unter Tränen bat sie darum, nach Hause gefahren zu werden. Sie müsse um sieben wieder bei ihren Herrschaften am Untermainkai sein. Das sei ein weiter Weg und sie sei sowieso schon spät dran.
Die Fahrt verlief anfangs recht schweigsam. Irmgard fasste sich zwar wieder, wirkte aber sehr niedergeschlagen und brütete dumpf vor sich hin.
»Darf ich mir erlauben, junge Dame, Ihnen eine Frage zu stellen?«, meldete sich Johann schließlich zu Wort. Als Irmgard stumm nickte, sprach er weiter: »Wieso hängt sich eine so bildhübsche Person, wie Sie es sind, meine Liebe, an solch einen Kostverächter? Es gibt doch bestimmt mehr als genug normale Mannsbilder, die Sie auf der Stelle heiraten würden – vorausgesetzt, Sie geben Ihren Nebenerwerb auf. Mit Verlaub, laufen Sie doch diesem komischen Heiligen nicht länger nach. Das sind doch Perlen vor die Säue geworfen! Das haben Sie doch gar nicht nötig, mein Kind.«
»Ich will aber kein ›normales Mannsbild‹! Ich hasse diese geilen Kerle, mir graust es vor ihnen, können Sie das denn nicht verstehen? Alfred ist der erste und einzige Mann in meinem ganzen widerwärtigen Leben, für den ich etwas empfinde«, fügte Irmgard mit zitternder Stimme hinzu.
»Er liebt Sie doch auch, Kindchen. Halt auf seine eigene Art. Sie sind ihm eine liebe Freundin. Aber nicht mehr. Seine Leidenschaft, sein Begehren indes gehen in eine andere Richtung. Das müssen Sie akzeptieren. Und gerade darum lieben Sie ihn ja so sehr. Spielen Sie also nicht verrückt, wenn er sich anderswo holt, was er braucht«, bemerkte Sidonie nüchtern.
»Ich kann aber nicht anders. Ich bin ganz krank vor Eifersucht.«
»Das wird Ihnen nicht viel nützen, glauben Sie mir. Es wird immer wieder passieren, dass er eine Affäre hat. Das liegt in der Natur der Sache. Wenn Sie ihn wirklich lieben, gönnen Sie ihm dieses kleine, vergängliche Glück. Lieben Sie ihn doch einfach weiter. Ganz für sich, ganz um der Liebe willen. Niemand kann Ihnen diese Freiheit nehmen.«
Irmgards Rage hatte sich während Sidonies Worten verflüchtigt. Ergriffen schaute sie das Fräulein an. »Sie sind eine kluge Frau. Ich danke Ihnen«, sagte sie leise.
»Im Übrigen bin ich der Meinung, liebe Irmgard, dass Sie mit Ihrem Nebenerwerb unbedingt aufhören sollten. Das macht Sie nur kaputt, und Ihren Seelenfrieden werden Sie so niemals finden. Seien Sie froh darüber, dass Sie überhaupt noch etwas empfinden können, und lassen Sie sich das nicht auch noch zerstören.«
»Ich brauche aber das Geld. Meine Schwester hat die Franzosenkrankheit im Endstadium. Sie hat schlimme Wahnsinnsanfälle und ist im Tollhaus untergebracht. Ich muss für sie sorgen. Außerdem lege ich mir immer was zurück und will damit einmal was beginnen«, erklärte Irmgard.
»Ach, hören Sie doch auf! Das wird sowieso nicht wahr. Machen Sie Schluss mit dem ganzen Zinnober, sonst ergeht es Ihnen noch genau wie Ihrer Schwester. Außerdem weiß ich, dass Ihre Schwester trotzdem versorgt wird. Wenn es keine zahlenden Angehörigen gibt, übernimmt nämlich die öffentliche Wohlfahrt die Kosten für die Pflege.«
Inzwischen war die Kutsche vor der herrschaftlichen Villa am Untermainkai angekommen, und Irmgard verabschiedete sich von Sidonie und Johann. Bevor sie ausstieg, hielt sie jedoch plötzlich inne und ließ sich wieder neben dem Fräulein nieder.
»Ich muss Ihnen noch was sagen«, platzte es aus ihr heraus. »Es betrifft einen Freier. So ein perverser Drecksack, der sich auspeitschen und quälen lässt. Mit dem hatte ich mich ein paar Mal eingelassen, und der hat immer sehr gut gezahlt. Jedenfalls bin ich einmal mit dem in einem Stundenhotel in der Schäfergasse gewesen, und als wir aus dem Zimmer kommen, sind wir der Gerlinde auf dem Flur begegnet. Die hatte auch einen Freier dabei und hat so verschämt geguckt, als sie mich und den Perversen gesehen hat. Und das letzte Mal, als wir uns getroffen haben, hat sie mir dann erzählt, dass sie den kennt. Das war ihr Dienstherr, der Herr Apotheker, Ottmar Saltzwedel, und ihr war das ganz schön peinlich, dass die dem da über den Weg gelaufen ist. Natürlich hat der Mistkerl sie deswegen nicht zur Rede gestellt, was sie da gemacht hat und so. Der hat ja selbst zu viel Dreck am Stecken. Aber die Gerlinde hat gesagt, dass er sie seither immer so komisch anguckt, und es wäre ihr so mulmig zumute, dass sie sich schon überlegt hätte, sich eine andere Stellung zu suchen. Ich habe oft darüber nachgegrübelt, ob am Ende nicht dieser ekelhafte Widerling etwas mit der Sache zu tun hat. Sicher, der Kerl, mit dem ich die Gerlinde noch kurz vor ihrem Tod gesehen habe, sah anders aus und war mit Sicherheit nicht der Saltzwedel. Aber vielleicht war der junge Stutzer ja gar nicht der Mörder. Ich weiß es nicht genau, aber wenn ich an den Saltzwedel denke und wie abartig der sich gebärdet hat, dreht sich mir förmlich der Magen um. Und glauben Sie mir, in unserem Geschäft erlebt man viel Absonderliches, und ich bin weiß Gott nicht zimperlich. Normalerweise mach ich so was ja nicht. Diskretion wird in unserem Gewerbe groß geschrieben, und ich würde nie mit anderen Leuten über einen Freier reden und schon gar nicht seinen Namen nennen. Deswegen hab ich auch vorhin nichts gesagt. Aber verdammt noch mal! Die Gerlinde ist vergiftet worden, und der Kerl ist Apotheker. Und, unter uns gesagt: Der ist nicht ganz dicht im Oberstübchen. Vielleicht können Sie dem auf den Zahn fühlen.«
5 Der sogenannte ›Frankfurter‹ war ein im Glas servierter Mokka.
6 Frankfurter Redewendung für ›Brötchen‹.
6
Am Montagnachmittag um drei Uhr verließ Heinrich Hoffmann den Krankensaal der Armenklinik und eilte den langen Flur entlang zu seinem Dienstzimmer, um die Nachmittagssprechstunde zu eröffnen.
Vor zwei Jahren hatte der umtriebige junge Arzt gemeinsam mit sechs Kollegen das Frankfurter Armenhospital in der Meisengasse gegründet. Daneben organisierte er den Frankfurter Bürgerverein und versah seinen Dienst als Leicheninspektor in der Anatomie des Senckenbergischen Instituts.
Die Armenklinik hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das durch Krankheit und Mangel an ärztlicher Versorgung entstandene Elend armer Leute in Frankfurt und seiner Umgebung zu lindern. Dabei wurden höchste Ansprüche an die medizinische Ausbildung der Ärzte, insbesondere der Chirurgen, gestellt, denn gerade die ärztliche Pfuscherei bei der Behandlung armer Patienten hatte in der Vergangenheit dazu beigetragen, die Missstände noch zu vermehren.
Bislang verfügte die Klinik lediglich über zehn Betten, was dem Andrang bedürftiger Patienten keineswegs gerecht wurde. Daher wurde unlängst eine regelmäßige Sprechstunde eingerichtet, und Kranke erhielten an drei Tagen in der Woche Hausbesuche. Finanziert wurde das Hospital ausschließlich durch Spenden, die allerdings nicht besonders üppig flossen und kaum ausreichten, dem engagierten Personal ein angemessenes Honorar zu zahlen.
Für den jungen Familienvater Heinrich Hoffmann war es keine Seltenheit, dass er 12 bis 16 Stunden am Tag arbeitete, die Wochenend- und Nachtdienste nicht mitgerechnet. Somit blieb ihm wenig Zeit für Frau und Kinder und seine vielseitigen sozialen Aktivitäten. Dennoch gelang es dem hageren jungen Mann auf wundersame Weise immer wieder, alles unter einen Hut und vor allem zu gutem Gelingen zu bringen. Die Natur hatte ihn mit einem fröhlichen Wesen und einer unerschütterlichen Lebensfreude ausgestattet, die er mit anderen zu teilen verstand.
Auch an diesem Nachmittag verlor er, obgleich er ein überfülltes Wartezimmer vorfand und noch etliche Hausbesuche anstanden, nicht seine gute Laune und erkundigte sich humorvoll bei den Wartenden, wer am ›dransten‹ sei. Mehrere der Anwesenden wiesen auf Sidonie Weiß, die ganz hinten in der Ecke stand, sodass der Doktor sie gar nicht wahrgenommen hatte.
»Ach, das Fräulein. Na, komm nur rein«, forderte er sie mit schwungvoller Geste auf, einzutreten.
»Danke, Heinrich, das hat Zeit. Behandle erst mal deine Patienten. Ich warte so lange«, erwiderte Sidonie lächelnd.
Nach etwa einer Stunde bat der Arzt sie in sein Sprechzimmer.
»Ich quetsch dich jetzt einfach dazwischen, sonst wird das heute nix mehr mit uns. Und das wär doch schade! Also, liebe Sidonie, was liegt an?«, erkundigte sich Doktor Hoffmann. Die beiden kannten sich seit vielen Jahren, und es war nicht zuletzt den Wohltätigkeitsaktivitäten des Fräuleins zu verdanken, dass die Armenklinik überhaupt ins Leben gerufen werden konnte. Hoffmann und Sidonie verstanden sich prächtig, und der Arzt pflegte Sidonie Weiß als ›Frankfurts weise Eminenz im Hintergrund‹ zu bezeichnen.
»Es geht um den Fall Gerlinde Dietz. Ich befasse mich damit, weil es mir an die Nieren geht, dass da so geschlampt wird, und da wollte ich dich fragen, ob du die Tote vielleicht seziert hast?«
»Ja, das habe ich, und ich sagte auch diesem Inspektor, dass die junge Frau keines natürlichen Todes gestorben ist, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit vergiftet wurde. Das hat ihm nicht gepasst, weil er dadurch nur Arbeit hat, und die scheint dem Guten ja nicht so zu schmecken, und es hat ihn auch gar nicht interessiert. Ich habe so meine Mutmaßungen, womit die Ärmste vergiftet wurde. ›Mutmaßung‹ deswegen, weil sich ein solches Gift im menschlichen Körper kaum nachweisen lässt. Dennoch gibt es Anzeichen, die darauf hindeuten, dass es sich um Aconitin handeln muss. Aconitin ist das Alkaloid des Blauen Eisenhuts, auch Sturmhut genannt, einer hochgiftigen Pflanze, die überall in Europa heimisch ist. Das Aconitin ist ein Stoff, der sich im menschlichen Körper schnell auflöst und daher keine Rückstände hinterlässt. Glücklicherweise aber ist es ein sehr berüchtigtes, altes Gift, das schon bei den Ägyptern und den Griechen Verwendung gefunden hat. In den alten Gifthandbüchern werden nicht nur die Wirkungsweisen von Aconitin, sondern auch die Vergiftungsmerkmale der Opfer genau beschrieben. Dazu sei angemerkt, dass eine Aconitin-Vergiftung immer tödlich endet. Das Gift ist hochwirksam, und es gibt bis heute kein Gegenmittel. Anhand der organischen Beschaffenheit des toten Fräulein Dietz, ihrer Zungenverfärbung und Pupillengröße, auch der verkrümmten Haltung des Körpers und der Gliedmaßen, kann mit ziemlicher Sicherheit darauf geschlossen werden, dass sie mit Aconitin vergiftet wurde. Und das ist insofern erstaunlich, weil man dieses Gift heutzutage kaum noch verwendet. Die Destillation ist sehr aufwendig und erfordert fundierte Kenntnisse. Der Mörder muss demnach ein Fachmann sein – und er muss das Opfer sehr gehasst haben. In der Geschichte hat man häufig zu Aconitin gegriffen, wenn man einen Feind unschädlich machen wollte. Schwerverbrecher wurden damit hingerichtet, aber auch Fürsten und mächtige Kirchenmänner gemeuchelt. Die Vergiftungserscheinungen gelten als besonders qualvoll, weil sie bei vollem Bewusstsein durchlebt werden und sich je nach der Dosierung des Giftes bis zu 60 Minuten hinziehen können«, erläuterte der Doktor.
Sidonie hatte ihm mit angespannter Miene zugehört. »Schwerverbrecher, Fürsten und Kirchenmänner. Warum aber ein harmloses, kleines Dienstmädchen? Und warum nur hat der Mörder sie so gehasst?«, murmelte sie gedankenverloren.
»Das, meine Liebe, wird uns nur der Mörder selbst beantworten können. Vielleicht finden sich aber im Umfeld der Ermordeten aufschlussreiche Hinweise. Ich habe nur meine Zweifel, ob unsere liebe Polizei der Sache auch so nachgeht, wie es nötig wäre.«
»Mit diesen Zweifeln, mein lieber Heinrich, stehst du nicht allein da. Das Einzige, was dieser Brand bisher unternommen hat, war, ein paar arme Gassenhuren zu verhaften und zu befragen«, stimmte Sidonie ihm ärgerlich zu. »Aber ich finde diesen Kerl! Immerhin gibt es zwei übereinstimmende Täterbeschreibungen, und vorigen Samstag habe ich von einer Bekannten des ermordeten Dienstmädchens einen interessanten Hinweis erhalten.« Sidonie berichtete Doktor Hoffmann von Rudis Erlebnis auf dem Roßmarkt und Irmgards Eröffnung in der Kutsche.
»Demnach liegt es nahe, dass der Mörder aus der guten Gesellschaft stammt und sich mit Giften auskennt. Infrage kommen daher vor allem die Berufsgruppen Arzt, Chemiker und Apotheker.«
»Apotheker. Genau. Deswegen werde ich auch als Nächstes einmal in der Villa Saltzwedel vorstellig werden. Wie ich mich dort einführe, das überlege ich mir noch. Der Mörder muss also das Opfer aus bisher unbekannten Gründen sehr gehasst haben. Heinrich, wie ich weiß, bist du nicht nur ein vortrefflicher Arzt, sondern auch ein Kenner der menschlichen Seele und ihrer Abgründe. Ich muss jetzt einmal ganz naiv fragen: Welche Gründe könnte es für solche Gefühle geben?«