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Schröter sieht mich lange an. »Also gut. Ich habe es verstanden: Es geht ums Wir-Gefühl.«
Ganz genau. Die Musik der Kurve. Mir ist bewusst, für einen Außenstehenden, für jemanden, der nicht damit groß wurde, ist das nicht leicht nachvollziehbar. Und für so einen Piefke wie Schröter noch viel weniger. Man kann es nicht erklären, man muss es fühlen. Erleben. So wie ich nicht nachvollziehen kann, wie es sein muss, in einem Villenviertel irgendwo in Norddeutschland aufzuwachsen, als Sohn eines Arztes. Sicher hat Schröter deshalb auch noch nie angesetzt, um mir mehr über sich zu erzählen. Es ist völlig anders, etwas mit Worten zu beschreiben oder es wirklich zu erfahren. Musik. Das Gefühl, das sich einstellt, wenn du in der Fankurve stehst, seit 80 Minuten dein Team anfeuerst und die endlich den Treffer erzielen, die Osttribüne völlig austickt, sich Fremde in die Arme fallen – das kannst du niemand mit Worten vermitteln. Man kann es eigentlich gar nicht erklären. So, wie wenn man frisch verliebt ist, das lässt sich auch nicht treffend beschreiben. Es ist Musik in der Seele, ein Gleichklang der Herzen. Etwas, das dich mit deinem ganzen Sein ergreift, mit allem, was du bist, verschluckt und die Welt um dich herum völlig verändert.
»Die Societas«, erkläre ich Schröter weiter, »waren anfangs nicht sehr beliebt. Eine eigene Frauen-Ultra-Gruppe. Das war nicht leicht, sage ich dir. Die mochten uns nicht, haben uns geschnitten. Aber wir wollten es so. Wir waren begeistert von der Mannschaft, die Welt der Ultras jedoch bestand aus Kerlen. Der Vorsänger, der Vorstand der Fanclubs, die ganze Struktur auf der Ost, alles eine reine Männerclique. Viele der Frauen kamen anfangs lediglich mit, weil ihre Typen so begeistert waren und sie wenigstens dabei sein wollten. Erst nach und nach steckten sie sich selbst mit dem Virus an.«
»Die Männer hatten trotzdem das Sagen in der Kurve, nehme ich an.«
»Exakt. Und wir? Die Societas waren strange, für die Männer wie für die nur mitlaufenden Frauen. War ein echter Kampf.«
Schröter nickt und nippt.
»Irgendwann kam die Akzeptanz. Weiß nicht genau, warum: Ob mit der Zeit oder weil sich insgesamt etwas geändert hat. In der Gesellschaft, meine ich. Weil es plötzlich in Ordnung war, wenn Frauen in diese Männerdomäne einbrachen. So wie es weibliche Ministranten gab und so was. Wir gehörten plötzlich dazu, zur Fangemeinde und aktiven Szene.« Ich lache. »Nur eines wird wohl niemals passieren: eine Frau als Vorsängerin im Fanblock.«
»Hast du selbst denn einmal Fußball gespielt?«
Ich verstehe die Frage nicht.
»Auf den Platz gehen, gegen einen Ball treten.«
»Bist du bekloppt? Frauenfußball ist doch langweiliger Scheiß. Ich fuhr eine Weile im Rallye-Sport. Und mit Katrin war ich mal beim Boxtraining. Aber Frauenfußball? Ne. Geht gar nicht.«
»Und wie ist das dann? Wie bei Rockstars? Du weißt schon.« Schröter grinst. »Na, die Bandmitglieder schnappen sich angeblich immer irgendwelche Groupies.«
Ich pfeife durch die Zähne. »Das geht dich gar nix an. Aber ich weiß zufällig, dass die Schwestern bei der Aufstiegsfeier in die zweite Liga mit den Spielern und den Fanaticos in der Dusche standen und Schampus soffen. Wäre zu gern dabei gewesen.«
»Das Mordopfer war früher mit einem der Spieler zusammen?«, fragt Schröter.
Ich ziehe mein Handy heraus und öffne das Foto, das ich heute bei Katrin von dem Bilderrahmen geschossen habe. »Johannes Lederer. Der Mittelstürmer damals. Cooler Typ. Wir vier, Johannes, mein Ex Leo, Cat und ich, waren ein Herz und eine Seele. Leonhard hat heute eine gute Position im Verein.«
Ich halte es schwer aus, dass Schröter Katrin als »das Mordopfer« bezeichnet. War man einmal einem Menschen so nahe, dass man das Gefühl hat, ihn ganz und gar zu kennen, zu wissen, wie er denkt und fühlt, wie er riecht, wie soll man den Gedanken daran ertragen, dass diese Person einfach nicht mehr da ist? Ich habe es beim Tod meines Vaters schon so erlebt. Unmittelbar ist da, wo zuvor eine ganz besondere Verbindung war, nichts mehr, sie erlischt in diesem Moment für immer. Vermutlich werden wir das niemals begreifen können. Weil es mit dem Verstand überhaupt nicht zu erfassen ist. Das absolut Undenkbare.
Ich muss an meinen Exmann denken. Letztlich ist es mit einer Trennung auch nichts anderes. Eine unglaubliche Nähe erlischt plötzlich und wird ersetzt durch unüberbrückbare Distanz. Auch wenn die Erinnerung an die ehemalige Verbindung bei beiden erhalten bleibt. Die Spannung zwischen dieser Nähe und der Distanz spüre ich jedes Mal, wenn ich ihn treffe.
Johannes hat Cat in der Tat einen Antrag gemacht. Verdammt, Katrin. Warum hast du ihn nicht festgenagelt? Ich frage mich, wer wohl ihre Brautjungfer gewesen wäre, und nehme einen weiteren Schluck Bier. Schröter auch. Wenn man das so nennen kann.
»Also noch mal Fußballkunde für Dummies. Erstens: Das Runde muss ins Eckige. Foul ist, wenn der Schiri pfeift; zumindest bei einem Foul an einem unserer Spieler. Drittens: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Es gibt keine Spielpausen, Fußballferien oder so ein Zeug. Ist man echter Ultra, dann lebt man für den Fußball und für den Verein. Wie jede Liebe, Tag und Nacht, 24/7, die ganze Scheißarbeitswoche durch. Egal, ob es darum geht, mal bei einem Training zuzusehen, in der Kicker-App neue Nachrichten über die Verletzung eines Spielers nachzulesen oder sich mit der Bande in der Sportbar zu treffen, um die Choreografie für den Sonntag zu besprechen oder eine neue zu entwickeln.«
»Choreografie«, wiederholt Schröter ironisch.
»Schnauze, Schröter. Warst du überhaupt schon mal im Stadion?«
Schröter grinst. »Du wärst überrascht.«
»Wieso?«
»Na gut, ein einziges Mal nur, mit fünf. Mein Vater hat mich mitgenommen. WM-Endspiel 1990.«
Ich verschlucke mich an meinem neuen Bier. »Echt jetzt?« Die wievielte Flasche ist das eigentlich? »Scheiße. Du warst im Stadion in Rom?! 8. Juli 1990. 1:0 gegen Argentinien. Littbarski, Klinsmann, Brehme – und Diego Maradona! Das fass ich jetzt nicht.«
Schröter ist sichtlich stolz, und ich denke mir nur: Mein langweiliger Kollege war beim WM-Finale. Der ist offensichtlich völlig ahnungslos, was das bedeutet. Er stammt doch aus einer ganz anderen Welt. Schröter trägt Hemd und Krawatte, immer. Zugegeben, es steht ihm. Aber die Grundsätzlichkeit stört mich. Ich könnte ihn zu einem Grillabend einladen, und er käme mit Krawatte. Sollte ich gelegentlich austesten. Und seine spießige Grundhaltung, zu der so altbackene Regeln gehören wie »Don’t fuck in the Factory« oder »Appetit holen okay, gegessen wird zu Hause«, geht auch gar nicht. Das passt doch überhaupt nicht mehr in unsere gefräßige und oberflächliche McDonald’s- und Tinder-Kultur.
»Mein Vater ist wie ich kein Fußball-Interessierter. Aber WM, klar. Wenn das ganze Land mitfiebert …«
»… dann wird auch aus dem Chefarzt und Anzug-Golfer ein Fachmann.«
»So ungefähr. Wir verfolgten die Spiele der Deutschen zu Hause, und als es im Raum stand, dass wir ins Finale einziehen, konnte er das über seine Beziehungen organisieren.«
Ich weiß nicht, ob er ahnt, wie neidisch ich bin. In Italien, Endspiel gegen Argentinien. Ich würde meine letzten zehn One-Night-Stands dafür geben. Okay, nicht den einen vor zwei Jahren. Ich brauche noch ein Bier.
»Also. Choreografie.«
Genau das meine ich mit Spießigkeit. Nun möchte ich mal was Persönliches erfahren, und mein Piefke kehrt sofort wieder zurück zu den Fakten. Mann! »Die Performances in der Fankurve, bei den echten Fans, nicht beim Klatschpublikum, sind genau durchchoreografiert. Man erfindet immer neue, feilt daran. Und Katrin war darin superkreativ, entschied mit, wie wir uns präsentieren. Stimmte sich ab mit den Fanatico Boys.«
»Und du glaubst, das könnte uns weiterbringen?«
»Weiß nicht. In unsere Überlegungen zu einem Motiv sollten wir ihre Stellung bei den Societas und in der Kurve jedenfalls einbeziehen. Sie war zu 110 Prozent bei der Sache. Eine Fanatikerin. Ist oft angeeckt. Bei den Gegnern, natürlich in Aalen, Ulm, Sandhausen, manchmal bei den eigenen Leuten. Oder beim Vorstand. Weil sie sich nichts vorschreiben ließ. Gar nichts. Auch nicht von einer ein wenig älteren Societas-Schwester.«
»Du bist älter als sie?«
»Aufpassen, Schröter.«
Sex mit dem Ex
Keiner kommt hier lebend raus. So ist das mit der großen Stadionuhr. Das Spiel läuft bis zum Abpfiff. Für jeden von uns. Auch wenn du nicht weißt, wann es für dich zu Ende geht. Ob du vielleicht schon vor dem Schlusspfiff rausgenommen wirst oder vom Platz getragen. Deshalb gilt es, jede Sekunde zu nutzen. Eine vergebene Torchance ist für immer verloren. Wir sollten jeden Augenblick genießen, das Leben auskosten, wo es nur geht. Lieben, hassen, emotional sein, uns begeistern. Musik machen. Das ist so einfach gesagt. Aber die Uhr tickt und jeder weiß es.
Es ist noch früh am Morgen, zu früh. Ich sitze in einem Café mit meinem Exmann, Leonhard, dem Frühaufsteher. Wir waren fünf Jahre verheiratet. Acht zusammen. Gute Zeit. Meistens jedenfalls. Wann ist eine Zeit gut? Wenn sie schnell vergeht. Aber dann kriegt man es eben auch gar nicht so mit. Trotzdem.
»Wie läuft es mit der Neuen?«
»Gut. Julia ist großartig.«
»Gut? Das ist gut. Julia. Großartig.«
Er sieht mich an. Noch immer sind wir gut darin, wir zwei, gemeinsam Zeit vergehen zu lassen. Es fühlt sich nicht komisch an wie mit manch anderen.
»Hör damit auf, Nina.«
»Was?«
»Das bringt doch nichts.«
Vielleicht doch nicht so gut. Ich weiß, dass es nichts bringt. Und wenn schon! Wir haben längst getrennte Leben geführt, als wir noch zusammenlebten. Zum Schluss. Heute hängt sein Wohlbefinden von einer anderen ab. Von Julia. Na und? Meins hängt ausschließlich von mir ab.
»Was gibt es denn?«
»Nichts.«
Er lehnt sich zurück und zieht die Augenbrauen hoch. »Du wolltest mich sehen.«
»Ja.«
»Und?«
Konnte ihm noch nie etwas vormachen.
»Sonst bin ich es, der um ein Treffen bittet.«
»Wir haben einen Leichenfund auf dem Schlossberg.«
Jetzt guckt er blöd. Kann ihn noch immer steuern.
»Einen Leichenfund?«
»Es ist Cat.«
»Scheiße. Wirklich?!« Es macht ihn echt betroffen. Offensichtlich. Leo mochte Katrin sehr. Damals. Als er noch nicht alles scheiße fand, was mit mir zu tun hat.
»Mord?«
Ich nicke.
»Das tut mir so leid, Schätzchen.« Wie bei Benzelers zu Hause. Mord. So eine Nachricht über einen Menschen, den man gut kannte, besitzt ziemliche Durchschlagskraft. Da steckt Wucht dahinter. Und es entwickelt sich sofort eine Eigendynamik.
»Bist du mit der Untersuchung beauftragt?«
»Sonst würde ich dich kaum deswegen treffen.«
»Ist bestimmt schwer für dich.«
Muss er das jetzt noch extra herausstellen?
Ja. Wir vier – Katrin, ihr Freund Jo Lederer, Leo und ich –, zusammen mit einigen weiteren von den Ultras, wir waren fanatische Fans und Anhänger. Verschworen. Er zwar weniger, gemäßigter, schon allein deshalb, weil er kein Fußballer ist, sondern Leichtathlet. Aber auch, weil er ein anderer Typ Mensch ist. Er ist immer so, wie soll ich sagen, edel. So weise, so gemäßigt eben. Maßvoll, sagt man wohl. Immer hat er ein Gefühl dafür, wann etwas genug ist. Wann man nicht übertreiben sollte. Das Mittelmaß in Person eben. Wie in unserer Beziehung auch. Er wusste immer, wann ich es übertreibe, ich über das Ziel hinausschieße. Und musste es dann auch sagen. Auch im Streit. Das war so ätzend. Man kann überhaupt nicht provozieren, weil es gleich als unfair entlarvt wird. Und was hat ein Streit überhaupt für einen Sinn, wenn man es nicht übertreiben darf? Das macht einen Streit doch überhaupt erst aus. Wie wenn auf dem Spielfeld einer umgemäht wird und seine Kameraden auf den Foulspieler einstürmen. Es gibt eine Rangelei, der Schiedsrichter geht dazwischen, wird weggeschubst, verliert kurz die Kontrolle, verteilt wenig später gelbe Karten oder gar rote. Das ist doch das Salz in der Suppe. Das pralle Leben. Im Fanblock genauso. Wenn es wild zugeht, die Emotionen lodern. Ein wenig Eskalation und Kontrollverlust machen das Leben erst richtig spürbar.
Aber Leo, Leo wusste immer genau, wann es genug war. Auch als er sich von mir trennte. Als er mir sagte, dass er sich scheiden lässt. Wie ich es hasse. Vernünftig zu sein, immer alles im Griff zu haben. Auch sich selbst. Zum Kotzen.
»Und was willst du jetzt von mir?«
»Wir tappen noch im Dunkeln. Klar, wir arbeiten erst seit gestern daran. Die erste Frage ist natürlich, was könnte es für Motive geben.«
Er nickt. In seiner sachlichen Art. Und hat sich schon wieder im Griff. Ich komme niemals dorthin, wo er sich nach wenigen Minuten bereits befindet: auf dieser Insel von Gelassenheit, auch bei überraschenden Nachrichten oder gar schlechten, wenn’s einmal richtig mies läuft. Deshalb war er früher auch so leistungsfähig bei Wettkämpfen. »Oh, da ist jemand ziemlich gut. Der kann mir gefährlich werden. Da muss ich mir was einfallen lassen.« So macht er das. Mit einer unmenschlichen Coolness nimmt er alles, wie es kommt. Sieht sich die Situation in Ruhe an, analysiert sie, und dann findet er einen Kniff. Und dabei ist er kein Zahlen-, Daten- und Faktenmensch. Eher im Gegenteil, verdammt einfühlsam. Das habe ich geliebt an ihm. Und noch mehr gehasst. Er spürt immer genau, was Sache ist. Auch bei sich. Hat die Situation im Griff – und sich selbst. Leo hat sich verdammt noch mal immer unter Kontrolle.
»Und ich soll dir nun ein Motiv liefern? Oder mit dir überlegen, wer es getan haben könnte?«
»Nachdenken kann ich selbst, Leo. Du bist doch als Beiratsmitglied des Gesamtvereins darüber informiert, wie das Verhältnis zu den Ultras aktuell ist. Gibt es irgendwelche Querelen, schlechte Stimmung oder so?«
Sein Unterkiefer verschiebt sich. Manche Gesichtsausdrücke kommen einem selbst nach Jahren so bekannt vor. So vertraut. »Nicht, dass ich wüsste. Glaubst du nicht eher an Rivalitäten unter den Ultras? Es ging ziemlich zur Sache beim letzten Spiel.«
Eigentlich glaube ich bisher an gar nichts. Ich stochere im Trüben. Zu Beginn einer Ermittlung steckt immer ein gewisser Widerspruch in der Zeitwahrnehmung unserer Arbeit. Die ersten 48 Stunden nach einer Tat sind enorm wichtig, weil die Beweise frisch sind, der Täter seine Deckung noch nicht geordnet hat, womöglich besonders nervös ist. Auf der anderen Seite muss man selbst zuerst ein Gefühl entwickeln für einen Fall. Man kann nicht gedankenlos drauflosstürmen, sondern muss zuerst das Spielfeld abstecken, sondieren und sehen, wie der Gegner aufgestellt ist. Abtasten, langsam ins Spiel finden.
»Die Aalener Fans waren natürlich alle wütend am Sonntag nach dem Spiel«, sage ich zu Leo. »Stehen oben auf meiner Agenda. Aber ein privates Motiv ist ebenso denkbar.«
»Privat?«
Ich sehe ihm lange in seine hübschen grünen Augen. Bemerke irgendwann, dass es zu lange war. »Das mit Hannes war ja schon länger vorbei«, sage ich.
Er nickt. »Ja, sie hat ihm eine böse Abfuhr erteilt. Es gab ein paar, die ihn dafür aufgezogen haben im Verein. Eine Zeit lang hat er darauf ziemlich wütend reagiert. Aber irgendwann war das Thema durch. Auch für die anderen.«
Das Thema war durch. Ist es das je? Meine Berufserfahrung sagt mir etwas anderes. Wenn ich überlege, wie manche Morde zustande kommen, welche Motive in Menschen schlummern und erst nach Jahren urplötzlich herausbrechen wie eine Naturgewalt, die nur darauf wartete, dass es einen kleinen Riss in der Oberfläche gibt. Einen Anlass. Ich sehe meinen Exmann an. Nein, durch ist man mit dem Thema nie. »Weißt du, woran genau es gescheitert ist?«
»Ja, nein. Das mit ihren kleinen Affären und so, das war es nicht. Aber sie hat seinen Antrag abgelehnt. Und sie hat ihm klipp und klar gesagt, dass sie sich keine Kinder wünscht. Er wollte aber welche, und dann entschied er sich irgendwann dazu, einen Schlussstrich zu ziehen.«
Klipp und klar. Einen Schlussstrich ziehen. So ist das im Leben. Manchmal dreht man sich um und geht. Die Frage ist immer, was man dabei mitnimmt.
»Weißt du, ob sie einen neuen festen Freund hatte?«, erkundige ich mich.
»Was verstehst du unter festem Freund?«
Ich weiß. Cat war ein flatterhaftes Ding. Blöder Ausdruck. Könnte von meiner Großmutter stammen. »Wir haben uns schon lange nicht mehr richtig gesehen«, erklärt mir Leo. »Cat und ich. Trafen uns im Stadion ab und zu, umarmten uns, tauschten ein paar Sätze aus.«
»Verstehe.« Immerhin mehr als bei Cat und mir. So ist das. Manchmal zieht man nicht bewusst einen Schlussstrich, sondern verliert sich aus den Augen. »Und unter den Ultras, im Block? Gab es Machtkämpfe?«
Wieder ein Kiefermalmen. »Nicht, dass ich wüsste. Der Capo ist noch recht frisch, seit es Bruno nicht mehr macht. Aber da musst du vor allem die Sozialpädagogen des Fanprojekts fragen.«
»Hm. In Ordnung. Hältst du die Augen und Ohren offen?«
Leo sieht mich an, traurig, und nickt.
Wir sollten jetzt aufstehen. Gezahlt ist bereits. Aber irgendwie tut es keiner von uns beiden.
»Ich war vorgestern bei deinem Vater auf dem Friedhof.«
Ich nicke. »Lass uns in Kontakt bleiben. Und hör dich bitte mal um. Wenn du was mitkriegst, sag mir Bescheid.« Habe ich das nicht gerade schon gesagt?
»Klar.«
Er starrt auf meinen beschädigten kleinen Finger, sieht langsam zu mir auf. Mitleid liegt in seinem Blick. Diesen Gesichtsausdruck habe ich immer an ihm gehasst. Nach meinem Unfall hat er mich eigentlich nur noch so angesehen. Ich kann nicht aufstehen. Warum nicht, verdammt? Irgendwas hält mich zurück.
»Was ist noch?«, frage ich ihn.
»Nina«, er blickt mich todesgütig an, wie Paule, das FCH-Maskottchen. Dann kommt es: »Julia ist schwanger.«
Bääämmm. Das saß.
Blutgrätsche.
Verdammte Kacke. Das musste irgendwann ja kommen. Ich lasse mir nichts anmerken. Leichtathletische Gelassenheit. »Schön. Das freut mich für dich.«
»Nina, ich weiß, das ist merkwürdig, aber…«
»Was? Nein. War ja klar. Hab mir schon gedacht, dass ihr in drei Jahren vielleicht auch mal Beischlaf haben könntet.«
»Nina.«
»Alles gut. Oder ich weiß es nicht, ob es so gut ist wie unser Sex. Aber tun werdet ihr es natürlich. Und das kommt dann dabei raus, wenn man’s richtig macht, oder?«
Sex mit meinem Ex. Bilder in meinem Kopf. Wie das damals war, als wir zwei uns noch miteinander ausbrannten. Körpervollkontakt, so läuft das Spiel. Ohne Schutz und Schienbeinschoner. Wir haben eine nicht unerhebliche Zeit miteinander geteilt, Heim und Herd, Schweiß und Tränen, das Bett auch. Und Lebenslinien. Gemeinsam Vergangenheit und Erinnerungen angesammelt und dann gingen die Linien wieder auseinander. Aber bis zu dem Punkt haben wir viel Gemeinsames im Rucksack. Und gerade blicke ich in meinen hinein, und da liegt noch ziemlich viel Leo oben auf. Bei ihm vermutlich weniger. Weil dort nun so viel Neues drinsteckt. Mit Julia.
»Ja. Wir sind jetzt an einem Punkt in unserer Beziehung, wo …«
»Wann heiratet ihr?«, frage ich – nicht weil ich es wissen will, sondern weil ich nicht die Scheiße darüber hören will, wie toll sein Leben ohne mich ist.
»Haben wir noch nicht darüber geredet.«
Ich krampfe mir ein Lächeln heraus.
Die wird sicher weniger Schmerzen dabei empfinden, das Balg herauszupressen, als es mir wehtut, diesen dämlichen Gesichtsausdruck zu produzieren. So ein Mist!
Dann stehe ich auf, ein bisschen zu schnell. »Alles klar. Leo. Also. Wir sehen uns.« Unverbindlichkeit. Professionalität bitte, Nina.
»Wenn du etwas brauchst …«
»Bis dann, Leo. Wir bleiben in Kontakt«, sage ich, zeige tatsächlich mit dem Finger auf ihn und zwinkere ihm dabei zu wie einem Kollegen. »Wegen der Sache, meine ich.« Er will noch etwas sagen, aber ich bin schon weg.
Weit weg.
Scheiße, Scheiße, Scheiße. Endgültigkeit!
Ich hasse Endgültigkeit.
Es gibt Tage, da denkt man: Das Leben könnte so einfach sein, wenn man tot wäre. Aber das wäre ja auch wieder endgültig.
Theorien kloppen
»Wie war’s mit deinem Exmann?«
»Gut.«
»Gut?«, fragt Berti, grinst. Schröter auch.
Sag mal: Wollen die mich alle verarschen?
Mir ist übel von gestern Abend. Aber den Besprechungsraum fand ich schon immer ätzend. Weil er in der Regel bedeutet, dass der Fatzke auftaucht. Flöhnrieser. Doktor Flöhnrieser. Wie kann man nur so heißen? Ich weiß gar nicht, woher der Name ursprünglich stammt. Spielt auch keine Rolle. Fatzke ist Fatzke, das reicht.
Es klopft, förmlich. Mit dieser falschen Höflichkeit, wie es nur Staatsanwälten möglich ist. Und schon schneit er herein, der Fatzke. Jung und dynamisch, strahlend wie Jürgen Klopp.
»Komme ich zu spät?« Fatzke sieht auf die Uhr. Er weiß genau, dass er auf die Minute pünktlich ist! Lächelt sein Lächeln und mir wird noch übler, dann stellt er sein Aktentäschchen auf den Konferenztisch und reicht jedem voller Elan die Hand. Mir hängt noch der Morgenkaffee mit Leo nach. Ich kann das jetzt nicht. Aber der Doktor kennt keine Gnade. Er ist der Jüngste im Raum. Warum darf der das eigentlich?
»Und, meine Herren und Damen? Was haben wir? Triebmord, Vergewaltigung? Eifersucht? Oder hat’s etwas mit Fußball zu tun?«
Die Art, wie der Fatzke das Wort »Fußball« betont, ist derart herablassend, dass ich ihm am liebsten seine hässliche Krawatte in den Rachen stopfen möchte. Aber Fatzke nimmt das nicht wahr. Ist auch besser so.
»Herr Heinzel, was hat die KTU ergeben?«, fragt er Berti. Ich kann seinen Tonfall schlecht ertragen. Sein extraförmliches Anwaltsgesülze.
»Leider nichts Konkretes«, erklärt Berti. »Keine Mordwaffe. Ihr Handy ist schwer beschädigt. Die Technik arbeitet daran, die Daten zu rekonstruieren.«
»Was sagt die Gerichtsmedizin?«, erkundigt Doktor Föhnbeißer sich weiter und glotzt in die Runde. Das Einzige, was mich oft rettet in solchen Gesprächen, ist das Erfinden von Spitznamen für ihn.
Schröter antwortet ihm: »Todesursache: drei Stiche ins Herz. Ein Fan-Emblem wurde ihr vermutlich post mortem in den Mund gesteckt. Die Male am Körper entstanden wahrscheinlich als Nebeneffekt. Keine Vergewaltigung.«
Berti sieht mich an. »Keine Spermaspuren. Aber Fremd-DNA an der Kleidung. Männliche DNA.«
Das erfahre ich erst in diesem Moment.
»Für mich ist der Fall eindeutig: ein wütender Fan-Rivale aus Aalen«, lege ich mich fest. »Zumindest ist das die naheliegende Schlussfolgerung.«
»Nach Cats Provokation während des Spiels am wahrscheinlichsten«, stimmt mir mein SpuSi Berti zu. »Die waren extrem angefressen, weil sie verloren haben. Und Cat hat sie zusätzlich gedemütigt.«
»Und das Emblem in ihrem Mund passt für mich dazu: Die wollten ihr oft genug das Maul stopfen«, ergänze ich für das Staatsanwaltsjungchen, sehe dann zu Schröter, um zu überprüfen, ob mein Tatortphilosoph mir beipflichtet. Tut er nicht.
»Die Leiche wurde in eine quasi schlafende Position gebracht, nachträglich«, wendet er ein. »Und das Gesicht abgedeckt. Mit jemandem, den ich hasse, mache ich mir diese Mühe nicht. Den will ich erniedrigen und möchte, dass ihn, in diesem Fall sie, alle so sehen.« Ich schüttle sofort den Kopf, aber er redet weiter: »Ich glaube an Eifersucht. Jemand mochte sie, wurde enttäuscht und ist wütend geworden. Und danach wurde ihm bewusst, dass er das eigentlich nicht wollte, und hat sie symbolisch zur Ruhe gebettet, sozusagen.«
»Dazu passt das Emblem im Mund nicht«, widerspricht ihm Berti, und ich sehe es genauso.
Schröter zieht die Schultern hoch. »Oder es war jemand aus den eigenen Reihen, der sich Hoffnungen machte und enttäuscht wurde. Sie war eine attraktive Frau.«
Berti und ich schütteln nun beide den Kopf. »Von den eigenen Fans?«, frage ich. »Weißt du, was für eine eingeschworene Clique die sind? Mach dich nicht lächerlich.«
»Klar«, antwortet Schröter. »Die Rivalen sind der erste Gedanke. Und das Emblem im Mund deutet darauf hin. Aber das ist mir ein viel zu respektvoller Umgang mit jemandem, der sie so runtergeputzt hat.«






